Deutsche Minderheit

Berlin erkannte Grenze von 1920 erst am 9. April 1940 an

Berlin erkannte Grenze von 1920 erst am 9. April 1940 an

Berlin erkannte Grenze von 1920 erst am 9. April 1940 an

Tondern/Tønder
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Der Historiker Henrik Becker-Christensen wurde von der Leiterin des Museums für Kulturgeschichte des Museumsverbundes Museum Sønderjylland in Tondern, Else Marie Dam Jensen, als erster Referent der Vortragsserie über die deutsche Minderheit in Nordschleswig begrüßt. Foto: Volker Heesch

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Der Historiker und Generalkonsul a. D., Henrik Becker-Christensen, lieferte zum Auftakt der Vortragsreihe über die deutsche Minderheit in Nordschleswig in Tondern Einblicke in deren „Gründerzeit“ nach 1920: Die Grenzrevisionsforderungen entsprachen der Linie der deutschen Reichsregierung bis zur Besetzung Dänemarks.

Der Historiker Henrik Becker-Christensen, der nach jahrelangen Forschungen 1990 ein umfangreiches Werk über die deutsche Minderheit in Nordschleswig zwischen 1920 und 1932 veröffentlicht hat, sprach am Donnerstagabend zum Auftakt einer Vortragsreihe über die deutsche Minderheit nach der Grenzziehung 1920 im Museum Sønderjylland in Tondern.

Großes Interesse am Vortrag

Der langjährige dänische Generalkonsul in Flensburg (Flensborg) lieferte vor über 100 Zuhörerinnen und Zuhörern viele Details aus der Grenzlandgeschichte. Diese bescherte nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, dem Versailler Friedensvertrag 1919 und zwei Volksabstimmungen 1920 in Nordschleswig dem dort beheimateten deutschen Bevölkerungsteil die Rolle einer nationalen Minderheit.

 

In seinem Vortrag lieferte Henrik Becker-Christensen Lichtbilder, die wie die wiedergegebene Abbildung auf die Vorgeschiche der Grenzziehung 1920 hinführen. Die Wahl zum Norddeutschen Reichstag 1867 zeigte, dass damals Flensburg noch eine dänische Mehrheit hatte. Es durften damals noch keine Frauen wählen. Foto: Volker Heesch

 

Er unternahm einen   kurzen Streifzug durch die Geschichte Schleswigs, wo erst in den 1840er Jahren nationale Gegensätze innerhalb der dortigen Bevölkerung aufbrachen. Und es wurde erläutert, wie nach den beiden Schleswigschen Kriegen 1918 die Karten neu gemischt wurden. 

1850 behielt Dänemark nur noch kurze Zeit die Oberhand, ab 1864 begann die Zugehörigkeit ganz Schleswigs zu Preußen und ab 1871 zum Deutschen Kaiserreich.

Seine Ausführungen illustriert durch interessante Abbildungen, erklärte Becker Christensen, dass bereits 1919 innerhalb der deutschen Nordschleswiger neben einem Protestflügel, der an der Königsaugrenze festhalten wollte, die Linie von Pastor Schmidt-Wodder sich durchsetzte, die eine neue Entscheidung forderte und eine Grenzrevision anstrebte.

1919 kein deutscher Einfluss auf Abstimmungsmodalitäten

Die in Versailles festgelegte En-bloc-Abstimmung in Nordschleswig, dem Konzept H. P. Hanssens folgend, sicherte dort eine dänische Mehrheit, obwohl es in Bereichen wie Tondern, Hoyer oder Tingleff örtlich klare deutsche Mehrheiten am 10. Februar 1920 gab. Der Friedensschluss in Versailles brachte den Deutschen in Nordschleswig und in Deutschland die Erkenntnis, dass eigene Forderungen hinsichtlich einer neuen Grenze kurzfristig nicht durchsetzbar waren, obwohl eine Kompromisslinie, die Tiedje-Linie, präsentiert wurde.

Der Tingleffer Notgeldschein zeigt die „Kompromisslinie" von 1920, die Tiedje-Linie. Foto: Volker Heesch

 

„Die vom deutschen Sachverständigen Johannes Tiedje ausgearbeitete Forderung, Orte mit deutscher Mehrheit bei Deutschland zu belassen, wurde die offizielle Position der deutschen Reichregierung“, so Becker-Christensen und fügte hinzu, dass die in der deutschen Minderheit in Nordschleswig vorherrschende Forderung nach einer Grenzrevision somit ganz der offiziellen Haltung der Weimarer Republik entsprach. Und Becker-Christensen nannte eine weitere Tatsache, die oft übersehen wird: „Die 1920er-Grenze wurde in Berlin in den 1920er und 1930er Jahren nie anerkannt. Das geschah erst am 9. April 1940, als Nazi-Deutschland Dänemark besetzt hat und der deutsche Gesandte ein Memorandum in Kopenhagen überreichte, in dem es hieß, dass Deutschland Dänemarks territoriale Integrität garantiert.“ Becker-Christensen berichtete über die ersten Schritte der deutschen Nordschleswiger, sich als Minderheit zu organisieren.

Freundlicher Empfang in Tondern 1920

Dabei ging er auf den ersten Besuch König Christians X. in Tondern am Tag nach den „Wiedervereinigungsfeierlichkeiten“ auf Düppel (Dybbøl) in Tondern ein. „Dem König war bestimmt etwas flau zumute, als er in die Stadt mit der großen deutschen Mehrheit bei der Abstimmung am 10. Februar gekommen ist“, so Becker-Christensen und fügte hinzu, dass der König wohl sehr erleichtert war, als ihn der deutsche Bürgermeister Oluf Olufsen ausgesprochen freundlich willkommen hieß und erklärte, dass sich Tondern Unterstützung vom König bei der dänischen Regierung erhoffe, dass diese die durch die Grenzziehung schwer getroffene Stadt fördert.

Der deutsche Bürgermeister Oluf Olufsen in Tondern begrüßte König Christian X. im Juli 1920 betont freundlich in der Wiedaustadt, in der rund 75 Prozent der Stimmberechtigten am 10. Februar 1920 für einen Verbleib Nordschleswigs bei Deutschland votiert hatten. Foto: Historisk Samfund for Sønderjylland

 

„Es gab damals keine Angaben, wie groß die deutsche Minderheit damals war“, so der Historiker. Er verwies auf die Diskrepanz zwischen der Zahl der 1920 in Nordschleswig für Deutschland abgegebenen 16.535  Stimmen, was 25,1 Prozent Anteil entsprach, und der tatsächlichen Gruppe, weil ja nur alle über 20 abstimmen durften, die schon vor 1900 in Nordschleswig gelebt haben.

„Es gab auch eine massive Auswanderung von deutsch gesinnten Einwohnern“, so Becker-Christensen, der auch darüber informierte, dass es einzelne deutsche Hochburgen gab, aber keine einheitliche deutsche Bevölkerung. So schickten zwar Sozialdemokraten ihre Kinder in die deutschen Schulen oder die deutschen Zweige der Kommunalschulen, aber wählten nicht die Schleswigsche Partei, die ab 1920 eine eher bürgerliche Politik führte.

Sprache und Gesinnung nicht eins

Er zitierte auch den deutschen Konsul in Apenrade, der bereits 1921 feststellte, dass die deutsche Minderheit zu zwei Dritteln den Dialekt Sønderjysk sprach. Schon damals waren Sprache und nationale Gesinnung etwas Verschiedenes. Typisch sei aber gewesen, dass die deutschen Nordschleswiger als Schriftsprache Deutsch benutzten. „Es gab insgesamt keinen großen Unterschied zwischen den deutschen Nordschleswigern und der Mehrheitsbevölkerung“, so Becker-Christensen und unterstrich, dass entscheidend das individuelle nationale Bewusstsein und das Verständnis, Deutschland sei das Vaterland,  gewesen ist.

Der Referent lieferte ausführlich Daten über Schülerzahlen, die kirchlichen Verhältnisse und die Gründung von immer mehr deutsche Privatschulen schon in den 1920er Jahren. Es habe erst Ende der 1920er Jahre trotz des relativ liberalen dänischen Schulwesens ein Examensrecht für deutsche Mittelschulen und das 1932 eröffnete deutsche Gymnasium gegeben. „Das ging auf eine Abmachung zwischen der Schleswigschen Partei und den Sozialdemokraten zurück. Die Sozialdemokraten halfen gegen die deutsche Unterstützung ihres Kandidaten bei der Landtingswahl“, so der Historiker.

 

Anfang der 1930er Jahre ging die deutsche Minderheit so in den Wahlkampf. Dieses Plakat brachte keinen Stimmenzugewinn. Foto: Archiv Nordschleswig

 

Thema waren auch ökonomische Aktivitäten wie die Gründung der „Kreditanstalt Vogelgesang“, die nur kurz nach ihrer Gründung 1927 in größerem Umfang Kredite an deutsche Landwirte vergab, um Boden in deutschem Besitz zu halten oder hinzuzukaufen. „Das wurde aber rasch von Berlin gebremst“, so Becker-Christensen, der nach Erläuterungen zur Nazifizierung der deutschen Minderheit ab 1933, die sozialdemokratisch orientierte Mitglieder ins dänische Lager und andere in eine Art innere Emigration führte, aus Briefen des radikalen Tonderner Politikers Alfred Torp zitierte.

Zweifel an Grenzstabilität

Dieser erlebte, wie viele alteingesessene Tonderner aufgrund des Aufstiegs Hitlers überzeugt waren, dass ihre Stadt wieder deutsch wird. Es gab sogar gönnerhafte Äußerungen, man werde die Dänen im Ort gut behandeln, denn diese seien ja auch nach 1920 gut zu den Deutschen gewesen.

Becker-Christensen berichtete über das Zusammenspiel der schleswig-holsteinischen Nazis mit den rasch an Anhängern gewinnenden Parteigenossen in Nordschleswig, die auf eine Grenzverschiebung drängten. „Die alten Führungspersonen wurden zur Seite geschoben“, so der frühere Generalkonsul und berichtete über den seit 1936 nach internen Rivalitäten zum Volksgruppenführer aufgestiegenen Jens Möller. Dieser habe von der Naziführung in Berlin um 1939 einen Maulkorb erhalten hinsichtlich der schrillen Töne, man werde wie Österreich oder das Sudentenland bald „Heim ins Reich“ kommen.

Die Passagen illustriert durch Fotos aus der Zeit meinte Becker-Christensen, Möller habe sich mitunter so inszeniert wie einst Mussolini in Italien. Der Historiker berichtete über Protokolle aus Kopenhagen aus der Zeit kurz vor dem Krieg, die zeigen, dass es bei führenden dänischen Politikern Zweifel gegeben habe, ob es gelingen werde, die Grenze von 1920 zu halten.

Minderheit keine 5. Kolonne

Becker-Christensen schloss seine Ausführungen mit Erreichen des Jahres 1940. Er meinte zur Rolle der deutschen Minderheit in dem Jahr, dass diese aufgrund der Anweisungen aus Berlin bei der Besetzung des Landes keine Rolle als 5. Kolonne gespielt habe.

 

Ein Aufruf Jens Möllers aus der „Nordschleswigschen Zeitung“ beim Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 Foto: Volker Heesch

 

Aus Gesprächen mit Zeitzeugen wisse er, dass Jens Möller über den bevorstehenden Einmarsch der Wehrmacht Bescheid wusste. Auch der Chef der „Schleswigschen Kameradschaft“, Peter Larsen. Doch der habe ausdrücklich am 9. April nicht aktiv werden dürfen.

Becker-Christensen erhielt viel Beifall für seinen interessanten Vortrag. Der zweite Vortrag in der Reihe folgt am 24. Februar, 19.30 Uhr, im Museum in Tondern. Referent ist Henrik Skov Kristensen. Sein Thema ist die deutsche Minderheit und das Faarhuslager.

 

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