Rückblick
Ein Jahr mit intensiver Debatte über Grenzkontrollen
Ein Jahr mit intensiver Debatte über Grenzkontrollen
Ein Jahr mit intensiver Debatte über Grenzkontrollen
Diesen Artikel vorlesen lassen.
Die wiederholten Verlängerungen der temporären Kontrollen an der deutsch-dänischen Grenze standen in diesem Jahr vermehrt im Kreuzfeuer der Kritik. Dies hat sich selbstverständlich auch in der Berichterstattung des „Nordschleswigers“ niedergeschlagen. Wir bringen einen Rückblick.
So deutlich wie in diesem Jahr hat sich die deutsche Bundesregierung noch nie gegen die wiederholt verlängerten Grenzkontrollen ausgesprochen: Bei ihrem Besuch in Kopenhagen kritisierte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) offen die Kontrollen. Auch von anderer Seite ist die Kritik immer deutlicher geworden, nachdem die Regierung die temporären Kontrollen erneut zweimal um jeweils ein halbes Jahr verlängert hat.
Am 13. April schreibt der damalige Justizminister Nick Hækkerup (Soz.) an die EU-Kommission, die Bedrohung durch Terror sei die Ursache, dass die Regierung die Kontrollen ab 12. Mai erneut verlängert. Auch erwähnt werden die Geflüchteten aus der Ukraine, unter denen sich militante Islamisten verbergen könnten.
„Vor diesem Hintergrund und nach gründlichen Erwägungen, schätzt die dänische Regierung ein, dass die temporäre innere Grenzkontrolle ein notwendiges und effektives Mittel sei, um diesen Bedrohungen zu entgegnen“, heißt es in dem Schreiben.
Laut Schengener Abkommen dürfen die Kontrollen nur maximal sechs Monate dauern. Sie können jedoch verlängert werden. Am 26. April fällt der Europäische Gerichtshof ein Urteil, das auch für die Grenzkontrollen von dänischer Seite von Bedeutung werden kann: Eine Regierung darf die Kontrollen nicht mit der immer gleichen Argumentation verlängern. Die Sorge um Terror ist schon wiederholt die offizielle Begründung gewesen.
Das Urteil veranlasst die Justizsprecherin von Radikale Venstre, Samira Nawa, dazu, die Regierung aufzufordern, die Kontrollen zu überdenken.
„Wir waren zu keinem Zeitpunkt von den Grenzkontrollen begeistert, aber wir haben sie toleriert, weil sie temporär sein sollten. Dies hat sich jedoch schleichend zu einem permanenten Zustand entwickelt. Das Urteil bestätigt, was wir wiederholt gesagt haben“, sagt sie dem „Nordschleswiger“.
Das Urteil erschüttert jedoch weder Ausländer- und Integrationsminister Mattias Tesfaye (Soz.) noch Justizminister Nick Hækkerup (Soz.). Sie wollen an den Kontrollen festhalten. Der Beschluss wird vom Hauptvorsitzenden des Bundes Deutscher Nordschleswiger, Hinrich Jürgensen, scharf kritisiert.
Im Juni gelingt dann der dänischen Regierung bei Verhandlungen über die Schengen-Regeln ein Erfolg in ihrem Bestreben, die Kontrollen zu bewahren. Eine Ministerrunde beabsichtigt, die Regeln zu ändern, dass die Kontrollen für zweieinhalb Jahre statt sechs Monate eingeführt werden können.
Anfang Mai besucht der Bundestagsabgeordnete des Südschleswigschen Wählerverbandes, Stefan Seidler, Kopenhagen. Gegenüber dänischen Politikerinnen und Politikern spricht er die in seinen Augen „unsinnigen Grenzkontrollen“ an. „Wir sehen ja, dass die Pendlerzahlen zurückgehen. Bei der Zusammenarbeit an den Hochschulen und für die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung sind sie ein Bremsklotz“, sagt er dem „Nordschleswiger“.
Seidler trifft sich auch mit Außenminister Jeppe Kofod (Soz.).
Eben jener Kofod muss sich, wie eingangs erwähnt, Kritik von noch höherer deutscher Stelle anhören. Im August besucht die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ihren dänischen Amtskollegen. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz sagt sie: „Ein Thema gibt es, bei dem wir zumindest ein bisschen diskutieren können und konnten. Die fortdauernden Grenzkontrollen von dänischer Seite sind ein Thema, das wir gemeinsam besprechen müssen, weil sie das tagtägliche Pendeln, das tagtägliche Treffen, das mal Spontan-über-die-Grenze-Fahren erschweren.“
Während in der Politik diskutiert wird, heißt es an der Grenze „alle Jahre wieder“ und zwar nicht zur Weihnachts-, sondern zur Sommerzeit. Regelmäßig am Sonnabend gibt es zum Bettenwechsel kilometerlange Staus Richtung Norden. Die Züge werden durch die Kontrollen regelmäßig verspätet. Grenzlandbewohnerinnen und -bewohner fahren an dem Wochentag schon gar nicht mehr rüber. Die Versuche der Polizei, die Situation zumindest am Autobahnübergang Fröslee (Frøslev) zu entschärfen, kommen spät und fallen eher kläglich aus.
Die Jugendorganisation der Schleswigschen Partei, die Jungen Spitzen, wollen die Debatte über die Kontrollen weiter beleben. Im August lassen sie sich fast ohne Bekleidung an den Grenzübergängen für einen Nacktkalender ablichten.
„Das ist eine provokante Aktion, durch die wir auf das Problem aufmerksam machen wollen, dass die Grenzkontrollen sinnlos sind“, so die Vorsitzende Katharina Kley.
Im September stellt sich heraus, dass die Kontrollen ein teures Vergnügen sind. 300 Vollzeitstellen kostet es die Polizei, die Grenzübergänge Richtung Deutschland zu bewachen.
Während die Diskussion in der Öffentlichkeit Fahrt aufnimmt, untersucht „Der Nordschleswiger“, wie stichhaltig das Argument „Terror“ ist. Die Antwort des für die Sicherheitseinschätzung zuständigen Nachrichtendienstes PET: Ihm liegen keine Daten vor, die belegen, dass die Kontrollen die Terrorgefahr in Dänemark verringern. EU-Expertin Malene Wind meint, dass damit die Begründung für die Kontrollen wegfallen würde.
Um der Sache noch weiter auf den Grund zu gehen, beantragen wir am 18. August eine Akteneinsicht in die Beratung der Regierung durch Polizei und Nachrichtendienste vor dem Schreiben an die EU-Kommission vom 13. April. Das Ansuchen bereitet dem Justizministerium offenbar gewisses Kopfzerbrechen; statt der gesetzlich vorgeschriebenen sieben Arbeitstage dauert es mehr als sieben Wochen, bis eine Antwort in der Mailbox eintrudelt.
Eine Dokumentation über den Schutz vor Terror ist in den Dokumenten, die wir erhalten, kaum zu finden.
Auch dänische Medien interessieren sich verstärkt für die Grenzkontrollen. Das digitale Nachrichtenmagazin „Føljeton“ hat ebenfalls eine Akteneinsicht beantragt. Der österreichische EU-Experte Stefan Salomon von der Universität Amsterdam, der im April die österreichischen Grenzkontrollen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) kippen ließ, schätzt auf Grundlage der Akten ein, dass auch die dänischen Grenzkontrollen das Potenzial hätten, vom Europäischen Gerichtshof gekippt zu werden.
Am 14. Oktober – noch gerade rechtzeitig vor der Wahl – kündigt die Regierung die nächste Verlängerung ab dem 12. November an. Die Begründung fällt diesmal deutlich wortreicher aus als zuvor. Ob das eine Reaktion auf die zunehmende Kritik ist, bleibt unklar.
Die kritischen Stimmen mehren sich. Der Bürgermeister in Apenrade (Aabenraa), Jan Riber Jakobsen (Kons.), und der aus Tondern (Tønder), Jørgen Popp Petersen (Schleswigsche Partei), zeigen sich über die Verlängerung frustriert.
Auch die Polizeigewerkschaft schaltet sich in die Diskussion ein. Sie hält die Kontrollen für „Symbolpolitik“ und meint, man könne die 300 Vollzeitstellen anderweitig sinnvoller einsetzen.
Unter Fachleuten ist der Effekt der Kontrollen umstritten. Zwei Terrorexperten sagen, sie würden vor Terrorismus schützen. Ein anderer Sicherheitsexperte ist der Ansicht, sie hätten unmittelbar nach der Flüchtlingskrise, also bereits 2017, aufgehoben werden müssen.
Die Grenzkontrollen werden auch zum Wahlkampfthema. Kaum eine Wahlveranstaltung in Nordschleswig, bei der sie nicht auf der Tagesordnung stehen. Sehr schnell wird klar, dass es eine politische Mehrheit für eine Abschaffung der stationären Kontrollen gibt. Dafür plädieren etliche Kandidatinnen und Kandidaten für flexible und „intelligente“ Grenzkontrollen, sowie für eine Pendlerspur.
Mit den „intelligenten“ Grenzkontrollen sind unter anderem Nummernschildscanner gemeint. Doch so einfach ist das mit denen auch nicht. Schließlich gibt es noch den Datenschutz, und daher dürfen die Halterdaten nicht beliebig zwischen den Ländern ausgetauscht werden.
Die neue Regierung hat sich vorgenommen, die Kontrollen „flexibler“ zu gestalten. Hingegen plant sie nicht, sie abzuschaffen.
Das Thema wird uns also auch im kommenden Jahr weiter beschäftigen. „Der Nordschleswiger“ hat am 23. November eine Akteneinsicht für die jüngste Verlängerung beantragt. Das Justizministerium hat das Ansuchen bislang nicht fertig bearbeitet.