Kindererholungsheim

Auf Spurensuche: Erinnerungen an viel Gewalt

Auf Spurensuche: Erinnerungen an viel Gewalt

Auf Spurensuche: Erinnerungen an viel Gewalt

Birger Bahlo/shz.de
St. Peter-Ording
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Kinder wurden auch in das Heim Köhlbrand am Strandweg verschickt. Das Gelände soll für andere Nutzungen überplant werden, war für eine Weile für das sogenannte Ufo-Hotel im Gespräch. Foto: Boris Pfau

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Die meisten plagen Erinnerungen an Gewalt: Ein TV-Journalist, der als Kind selbst in einem Erholungsheim in St. Peter-Ording war, begleitet eine Gruppe sogenannter Verschickungskinder auf ihrer Spurensuche im Ort.

Sylt, Föhr und jetzt St. Peter-Ording – Kindererholungsheime in Nordfriesland bleiben strikt im Fokus von Opfern sogenannter schwarzer Pädagogik. Sie haben zwischen den 50er und 80er Jahren in den Heimen körperliche und seelische Gewalt erlebt. Die meistens sechswöchige Verschickung, wie das hieß, führte in bundesweit 839 Heime (Zahl aus dem Jahr 1964). 

TV-Journalist als Betroffener dabei 

Von Mittwoch, 2. Juni, bis Sonnabend, 5. Juni, macht sich nun eine neunköpfige Gruppe jener Verschickungskinder in St. Peter-Ording auf die Suche nach eigenen Erinnerungen. Einer von ihnen ist der TV-Journalist Thilo Eckoldt, der selbst ins Nordseebad verschickt worden ist. 

 

 

 

In St. Peter-Ording wollen die Verschickungskinder von einst in Archiven, Jahrbüchern und Ortschroniken suchen, mit Zeitzeugen und Lokalpolitikern sprechen sowie ehemalige Heimstandorte aufsuchen. Dabei werden unweigerlich Erinnerungen wach an die Schrecken, die viele halt auch in Heimen in St. Peter-Ording erlitten haben.

Düstere Erinnerungen an Heime in SPO 

Mehrere tausend von ihnen haben sich inzwischen der Initiative angeschlossen, die von der Autorin Anja Röhl aus Berlin gegründet worden ist. Viele haben ihre Erinnerungen auf der gemeinsamen Internet-Plattform verschickungsheime.de hinterlassen. Eine Auswahl zu Heimen in St. Peter-Ording: 

S. Sch., 70er Jahre, Heim Quisiana: „…war eher die Hölle. Das Ganze glich einem Kindermastbetrieb mit Zwangsessen. SPO ist bis heute ein Tabu für mich.“

G. R., ca. 1959, Goldener Schlüssel: „Damals schon hatte ich das Gefühl, dass die so genannten Tanten ehemalige Nazihelferinnen waren, nach meiner Heimkehr habe ich jahrelang Nacht für Nacht fantasiert, dass ich mit einem Tross von Polizisten dorthin fahre und den Laden auffliegen lasse.“ 

S., Köhlbrand, 1970: „Ich musste eine Nacht auf einem Stuhl gefesselt auf dem Dachboden verbringen, Schläge, Essensentzug, Züchtigungen ohne Kleidung.“ 

St. W., 1966, Haus Weberhäuschen: „Schlimm war, dass meine Eltern die Erzählungen vom Heimaufenthalt einfach nicht glauben wollten oder konnten, hatten sie doch in bester Absicht und nach ärztlichem Anraten gehandelt.“

T., Haus Tannenblick, ca. 1970: Schläge wegen nächtlichem Flüstern mit Bettnachbar. 

Teils bekannte Vorwürfe 

Schilderungen wie diese haben Godber Kraas aus St. Peter-Ording und seine Frau schon vor Jahren gelegentlich in sozialen Medien gelesen. Das habe beide jedes Mal schockiert, wie er im Gespräch mit shz.de erklärt. All das gehe ihnen nahe, weil sie selbst ein Heim, das Seeschloss, geführt haben. Sie hatten es von Godber Kraas' Vater Hugo 1979 übernommen, der zuvor zehn Jahre Betreiber war. 

Gewalt kenne er aus dem familieneigenen Heim nicht. Seinem Vater seien eher gemütliche Abende mit dem Akkordeon und vor allem große Abschlussfeste wichtig gewesen, bei denen er die Polonäse durch den Garten angeführt habe. Sollten eigene Heimkinder doch noch Beschwerden aus jenen Jahren vorbringen, „dann werden wir darüber sprechen, was passiert ist.“ 

 

Ehemaliger Heimleiter erinnert sich 

Godber Kraas weiß viel über die Zeit der Kindererholungsheime, denn er war Vizepräsident des Verbandes privater Erholungsheime. So tritt er dem oft geäußerten Verdacht entgegen, die Heimaufsicht sei zu lasch. Die kamen aus Kiel und hätten sich nie angemeldet, versichert er. „Die Überprüfungen waren immer scharf, in den Waschräumen wurden mit dem Zollstock die Abstände zwischen Handtuchhaltern gemessen, damit sich keine Krankheiten übertragen.“ 

 

Das war ja ein extremer Wirtschaftsfaktor für den Ort, weil es Tourismus wie heute noch lange nicht gegeben hat.

Godber Kraas, ehemals Leiter vom Heim Seeschloss

 

Auch die Personalschlüssel wurden überprüft: In den 90er Jahren, erinnert er sich, seien auf 70 Plätze 15 feste Mitarbeiter gekommen, im Sommer um Saisonkräfte aufgestockt.

Schmale Gewinnspanne 

Die Initiative Verschickungsheime äußert den Verdacht, dass die Heime Gewinne auf dem Rücken der Kinder gemacht hätten. Kraas, der Vizepräsident des Verbandes privater Kinderheime gewesen ist, ersieht aus den von ihm aufgehobenen Steuerbilanzen jener Jahre, dass es genau 4,46 Mark pro Tag gewesen seien. „Wir hatten eine Gewinnspanne von drei bis fünf Prozent.“

Vehement tritt er zudem einem von Report Mainz veröffentlichten Verdacht entgegen, sein Vater Hugo Kraas sei ein Alt-Nazi gewesen und habe in der Tradition sein Kinderheim geführt. Zwar sei Kraas senior Mitglied von NSDAP, SA und der Leibstandarte Adolf Hitler gewesen, aber er habe nach dem Krieg im Südwesten der Republik die FDP mitgegründet und habe später in Nordrhein-Westfalen als Landesgeschäftsführer der Liberalen gearbeitet. 

Humanistische Erziehung 

Godber Kraas erzählt, er habe eine humanistischen Erziehung genossen. Und das mit der FDP muss wohl sogar vererbt worden sein, denn Godber Kraas hat sich Jahrzehnte lang für die FDP in der Kommunalpolitik im Nordseebad engagiert.

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