Geschichte

Erhebung gegen Dänemark: So entdeckte Schleswig-Holstein vor 175 Jahren die Demokratie

Erhebung gegen Dänemark: So entdeckte SH vor 175 Jahren die Demokratie

Vor 175 Jahren: Schleswig-Holstein entdeckt die Demokratie

Frank Jung/shz.de
Flensburg/Flensborg
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Mit der Einnahme der Festung von Rendsburg sicherte sich die Provisorische Regierung fürs Erste die Macht über Schleswig-Holstein. Foto: Landesbibliothek SH

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Schleswig-Holstein als eigenständiger Staat – und das gleich mit einer der liberalsten Verfassungen ganz Europas: Das war das Ziel der „Schleswig-Holsteinischen Erhebung“ im März 1848. In diesen Tagen vor 175 Jahren schlug in Rendsburg und Kiel die Geburtsstunde der Freiheitsbewegung. Es war einer der dramatischsten Momente der Landesgeschichte.

Nicht einmal vier Jahre vorher – und der Handstreich wäre so nicht möglich gewesen. Seit dem Spätsommer 1844 aber führt von Kiel aus die erste Eisenbahnstrecke Schleswig-Holsteins Richtung Altona. Und so kann Prinz Friedrich von Noer, benannt nach seinem Gut am Südufer der Eckernförder Bucht, am 24. März 1848 einen Zug als Geheimwaffe einsetzen.

Mit 45 Stundenkilometern an die Macht

Mit 250 aufständischen Soldaten und 50 bewaffneten Bürgern ist der 47-Jährige in Kiel zum Bahnhof marschiert. Um 7 Uhr lässt er zur Abfahrt pfeifen. Mit maximal 45 Kilometern pro Stunde schnauft die Lok erst bis Neumünster – und von dort über die einzige schon existierende Eisenbahn-Abzweigung nach Rendsburg. Dort endet die Trasse nicht schon am Bahnhof. Sie führt noch ein Stück weiter bis ans südliche Eiderufer – und damit zugleich bis in die größte Festung zwischen Nord- und Ostsee. Noch heute erinnert das Hohe Arsenal am riesigen Paradeplatz daran.

13 000 Waffen in der Festung erobert

Über die Herzogtümer Schleswig und Holstein herrscht 1848 die dänische Königsmacht. Sie hat Rendsburg zum nach Kopenhagen wichtigsten militärischen Stützpunkt ausgebaut. Nicht nur gigantische Mengen Waffen lagern dort: 13 000 Gewehre, Pistolen, Säbel, Kanonen. Auch die Geldreserve der dänischen Reichsbank für Schleswig und Holstein, 2,5 Millionen Taler, wird in der Festung aufbewahrt.

Mit List und Tücke

1500 Soldaten sind in der Anlage stationiert, fast alle aus Schleswig-Holstein gebürtig, aber in dänischen Diensten stehend. Das ist ein Vielfaches mehr also als der Sonderzug aus Kiel Personen an Bord hat. Der Prinz von Noer sticht das Ungleichgewicht aus mit einer List: Er erteilt „den Auftrag, sofort bei unserer Ankunft zu dem Küster der Garnisons-Kirche zu eilen“. Der solle „die Glocken ziehen lassen, damit das Militär, in dem Glauben, es sei Feueralarm, unbewaffnet die Baracken verlassen möge und dem Einfluss der dänischen Offiziere entzogen würde“. So gibt es von Noer in seinen Memoiren zu Protokoll.

Kaum ausgestiegen, zeigt der Aristokrat eine „Proklamation“ einer in der Nacht gebildeten „Provisorischen Regierung“ für Schleswig-Holstein vor. Ausweislich des Schriftstücks gehört er ihr als Minister für das Militär an. An seiner Seite ist Regierungschef Wilhelm Hartwig Beseler mit auf den Abenteuer-Trip gekommen. Dabei macht sich der bisher Anwalt in der Stadt Schleswig Tätige Sorgen, dass er doch außer seinem Regenschirm gar keine Waffe dabei habe. Den möge er bei Widerstand einfach aufspannen, damit er nicht sehe, dass auf ihn geschossen werde, witzelt der Prinz.

 
Die einzige Illustration, die die Einnahme der Rendsburger Festung direkt nachzeichnet: Eine von links herbeimarschierende Bürgerwehr unterstützt den Prinzen von Noer (in der Gruppe rechts) und seine Soldaten. Foto: Landesbibliothek SH

Der instruiert den Posten an der Hauptwache und lässt dem dänischen Oberbefehlshaber ausrichten, „dass jetzt ich in Rendsburg kommandiere“. Und kommt damit wohl auch deshalb durch, weil zur Verstärkung bewaffnete Rendsburger Bürger herbeiströmen.

 
Ich werfe es den dänischen Offizieren noch heute vor, dass nicht einer oder mehrere gleichzeitig auf den Gedanken kamen, mich zusammenzuhauen.
 
Prinz Friedrich von Noer

 

 

Dass er auf überhaupt keine Gegenwehr traf, scheint den Rädelsführer aber schon überrascht zu haben: „Ich werfe es den dänischen Offizieren noch heute vor“, heißt es in von Noers Memoiren weiter, „dass nicht einer oder mehrere gleichzeitig auf den Gedanken kamen, mich zusammenzuhauen. Man hat mir später gesagt, sie hätten sich damit entschuldigt, ich hätte zu imponierend ausgesehen.“ Frechheit hat also gesiegt.

94 Offiziere machen vom Angebot des Eroberers Gebrauch, sich nach Dänemark abzusetzen; 65 unterstellen sich ihm. Um 10 Uhr ist alles gelaufen.

Der unblutige Coup von Rendsburg ist die erste Amtshandlung der nur wenige Stunden alten Regierung. Das aus sechs Herren bestehende Kabinett ist die schleswig-holsteinische Variante der weite Teile Europas erfassenden „Vormärz“-Bewegung: Das Volk beginnt, sich nach Nationen zu definieren. Es lehnt sich auf gegen die absolutistische Fürstenherrschaft. Es fordert Freiheits- und Mitspracherechte ein, verbrieft in Verfassungen.

Teil einer europaweiten Bewegung

Genau einen Monat vor dem Wachwechsel auf der Rendsburger Festung hat die Februarrevolution in Paris mit der Ausrufung einer zweiten französischen Republik eine Kette vieler Ereignisse in Gang gesetzt. Mitte März stürzt der erzkonservative österreichische Staatskanzler Metternich. Am 21. März geht der preußische König Friedrich Wilhelm IV. nach schweren Straßenkämpfen in Berlin auf liberale Forderungen ein.

Der dänische König Frederik VII., 1848 zugleich Herzog von Schleswig und Holstein Foto: Landesbibliothek SH

Für Schleswig und Holstein als Teil der dänischen Monarchie noch viel bedeutender: Am 22. März hat in Kopenhagen der dänische König Frederik VII. unter dem Druck von Massendemonstrationen erstmals Nationalliberale in die Regierung berufen. Das ist für die Schleswig-Holsteiner mehr als ein Affront: Treten die Nationalliberalen in der dänischen Hauptstadt doch als so genannte „Eiderdänen“ auf.

Dänemarks Griff nach Schleswig

Das bedeutet: Sie wollen eine gemeinsame Verfassung für das eigentliche Dänemark und das Herzogtum Schleswig. Das käme, unter Berufung auf vermeintlich historische Rechte, einer finalen Eingliederung des Herzogtums ins dänische Kernland gleich. Ungeachtet seiner überwiegend deutschen Bevölkerung. Und ungeachtet des über Jahrhunderte gewachsenen Zusammengehörigkeitsgefühls zwischen Schleswig und Holstein.

Ereignisse in Rendsburg und Kopenhagen schaukeln sich hoch

Dass sich die „Eiderdänen“ in Kopenhagen mit Hilfe der Massendemos in Regierungsämter gedrängt haben, verstehen sie auch als Reaktion auf ein Brodeln in den beiden Herzogtümern. Dort formiert sich schon länger eine Volksmeinung, die Schleswig und Holstein als Teil eines werdenden deutschen Nationalstaats sieht.

Die Bevölkerung artikuliert sich

Am 18. März ist es in der Folge in Rendsburg zu revolutionärem Beben gekommen: Dort tagen – ohne die eigentlich vorgeschriebene Erlaubnis durch den dänischen König – die Ständeversammlungen Schleswigs und Holsteins gemeinsam. Nicht zuletzt unter dem Eindruck einer zeitgleichen, noch radikaleren Volksversammlung im Rendsburger Theater beanspruchen die 70 Mitglieder der vereinigten Stände: Eine gemeinsame Verfassung für Schleswig und Holstein. Aufnahme auch Schleswigs in den Deutschen Bund, dem Holstein bereits angehört. Vollständige Presse- und Versammlungsfreiheit. Eine schleswig-holsteinische Volksbewaffnung mit von den Einheimischen gewählten Offizieren.

Delegation reist per Dampfer in die Hauptstadt

Eine fünfköpfige Delegation macht sich von Kiel aus mit dem Dampfschiff auf den Weg nach Kopenhagen, um die Forderungen dem König vorzutragen. Vorgelassen wird sie nicht. Stattdessen verhandelt die Gruppe ergebnislos mit dem Wortführer der Stunden zuvor ans Ruder gekommenen „Eiderdänen“, Orla Lehmann.

Ausrufung der Provisorischen Regierung auf dem Alten Markt in Kiel Foto: Landesbibliothek SH

Die „Provisorische Regierung“ ist dann Schleswig-Holsteins Antwort auf die neue Machtkonstellation in der dänischen Hauptstadt, gebildet noch kurz bevor die Delegation aus Kopenhagen zurückgekehrt ist. Dass sie sich schon vom Namen her den Anschein des Vorläufigen gibt, soll einen Schein von Legalität wahren.

Schleswig-Holsteins erste eigene Regierung: die Provisorische Regierung. 2. von links: Präsident Wilhelm Hartwig Beseler, hinten Mitte: Prinz Friedrich von Noer, zuständig für Verteidigung Foto: Landesbibliothek SH

In ihrer Proklamation an die Bevölkerung lässt die selbsternannte Riege verlautbaren: Sie übernehme die Regierungsgewalt nur, so lange der dänische König in seiner parallelen Eigenschaft als Herzog von Schleswig und Holstein „unfrei“ sei, weil er unter dem Eindruck der eiderdänischen Bewegung in eine bestimmte Richtung gedrängt werde.

Nächtliches Tauziehen um die Details

Eine Versammlung von Bürgern im und vor Rathaus am Alten Markt in Kiel am 23. März hat eigentlich auf einen radikaleren Bruch mit der dänischen Monarchie gedrängt. Erst nach mehrstündigen nächtlichen Verhandlungen akzeptiert die Volksmenge auf Kiels Altem Markt die etwas weniger aufmüpfige Variante der Regierungsmitglieder. Gerade den leicht gemäßigten Anstrich sehen diese selbst als Erfolgsrezept einer breiten Anerkennung bei Bevölkerung und Beamtenapparat.

Mit noch mehr Schlafentzug als Wahlnächte heutzutage den Landespolitikern abfordern, tritt Schleswig-Holsteins erste eigene Regierung an die Öffentlichkeit: 5.45 Uhr am 24. März ist es da schon. „Sämtliche Glocken Kiels läuteten“, notiert der Prinz von Noer über diesen historischen Augenblick. „Und die um 6 Uhr aufgehende Sonne beschien die dort versammelte Garnison, die bewaffneten Bürger, Stunden und Turner und den gänzlich mit Menschen gefüllten Platz“.

Regierungschef Beseler verliest die Proklamation „vom Rathaus herab“. „Ein dem Vaterlande Hoch“ sei „aus aller Munde erschollen“. Dem Prinz fiel auf: „Es tönte dies nicht als ein gellendes, rohes Geschrei von Unruhestifern, nein! Es lag in der ganzen Szene ein Ausdruck des Ernstes, der Ruhe und der Entschlossenheit.“

Die Abenteuerfahrt nach Rendsburg mit der Eisenbahn konnte beginnen.

 

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