Sozialpolitik

Parallelgesellschaft? So gut leben wir auf Nørager

Parallelgesellschaft? So gut leben wir auf Nørager

Parallelgesellschaft? So gut leben wir auf Nørager

Sonderburg/Sønderborg
Zuletzt aktualisiert um:
Inga Skovlund vor dem Café Kroager auf Nørager: Hier liegen die Gemeinschaftsräume des Wohnviertels. Foto: Sara Eskildsen

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Laut Ministerium in Kopenhagen gibt es in Sonderburg eine Parallelgesellschaft. Wie erleben die Menschen im betreffenden Wohngebiet Nørager ihren Alltag? Langjährige Anwohnerinnen erzählen von ihrer Lebenswirklichkeit und warum die Gefahr nicht aus den eigenen Reihen kommt, sondern von außen.

Seit 48 Jahren lebt Lisa* auf Nørager. In jenem Wohnviertel, das vom Ministerium für Wohnen am Mittwoch erneut als Parallelgesellschaft klassifiziert worden ist. Die 77-Jährige bezog 1973 die letzte freie Wohnung auf Nørager. Sie hat ihre drei Kinder in dem Wohnblock großgezogen, mittlerweile kommt der Nachwuchs mit den Enkeln vorbei, um Oma zu besuchen.

An diesem Mittwoch, wenige Stunden nachdem Nørager von der dänischen Regierung erneut als sozialer Brennpunkt eingestuft worden ist, sitzt die Seniorin im Flohmarktgeschäft, das einmal in der Woche in einem der Wohnblöcke geöffnet hat. Zusammen mit ihrer Freundin Lise* und Anwohnerin Inga Skovlund trinkt sie in einem Hinterzimmer Kaffee. Und erzählt von ihrem Leben in und mit Nørager.

*Lisa und Lise wollen ihre Nachnamen nicht veröffentlichen, sie sind der Redaktion bekannt.

Nørager war damals eine feine Wohngegend, die Wohnungen hatten schöne Balkone und Garten. Wir waren stolz, eine der Wohnungen bekommen zu haben. Mit extra Toilette. Das war etwas Besonderes damals. Und auch heute noch sind es schöne Wohnungen. Ich möchte hier nicht wegziehen.

Lisa, Anwohnerin

Wer damals eine Wohnung auf Nørager ergatterte, konnte sich glücklich schätzen, erinnert sich Lisa. „Ich war 29 Jahre alt und mit Nummer drei schwanger. Wir wohnten bis dahin in Kærhaven, und die Wohnung wurde zu klein. Hier bekamen wir eine Vier-Zimmer-Wohnung, und wir waren glücklich. Nørager war damals eine feine Wohngegend, die Wohnungen hatten schöne Balkone und Garten. Wir waren stolz, eine der Wohnungen bekommen zu haben. Mit extra Toilette. Das war etwas Besonderes damals. Und auch heute noch sind es schöne Wohnungen. Ich möchte hier nicht wegziehen.“

Lisa lebt gern in ihrer Wohnung auf Nørager. In all den Jahrzehnten hat sie nie überlegt, umzuziehen. Wie erlebt sie den Alltag auf Nørager? „Da war eine Zeit, in der es eine Menge Kriminalität gab. Aber vor zehn oder elf Jahren hat man das in den Griff bekommen.“ Die Anwohnerinnen und Anwohner haben sich seitdem nach gewissen Forderungen zu richten, sagt Lisa. „Und das funktioniert. Probleme haben wir hier nicht.“

Das Sonderburger Wohnviertel Nørager ist 1973 entstanden. Foto: Sara Eskildsen

Wie konnte aus dem „feinen“ Nørager ein sozialer Brennpunkt werden, den die Regierung als Parallelgesellschaft klassifiziert? Lisa gibt ihre Erinnerungen weiter.

„Vor etwa 25 Jahren zogen sehr viele Ausländer hierher. Kurz nachdem alle Wohnungen renoviert wurden. Das war 1998. Damals wurden die Balkone zu geschlossenen Räumen, und im Inneren gab es kleinere Renovierungen, wir erhielten zum Beispiel eine Dunstabzugshaube installiert. Das war eine Hau-Ruck-Lösung, aber die Miete sollte ja nicht steigen. Das war schon in Ordnung. Die Veränderungen begannen ganz langsam. Nach und nach stand man einander nicht mehr nahe, die Gemeinschaft veränderte sich. Und es waren so viele Ausländer, unsere Kinder durften nicht mehr auf dem Spielplatz spielen, die sollten sich fernhalten. Wenn unsere Enkel zu Besuch kamen, haben sie sich nicht mehr getraut, spielen zu gehen. Da waren viele arabische Kinder, die wollten den Platz für sich haben. Die waren die Bestimmer. Damals gab es auch jede Menge Sachbeschädigungen. Uns haben sie einen großer Pflasterstein durch die Fensterscheibe geworfen, mitten ins Schlafzimmer. Die Gardinen haben den Flug des Steins glücklicherweise abgefangen. Und im Kellerraum haben sie mehrfach die Kellertüren eingetreten.“

Strickcafés, Yoga, Modeschau, und Gemeinschaftsessen

Der damals neu gewählte Vorstand des Mietvereins 35 berief eine Großversammlung ein, als die Probleme überhandnahmen, erinnert sich Inga Skovlund. Auch sie lebt seit Jahrzehnten auf Nørager. 2011 rief sie den Verein „Club 35“ ins Leben, der das soziale Miteinander vor Ort angekurbelt hat. Seitdem finden Bingo-Veranstaltungen, Strickcafés, Yoga, Modeschau, Weihnachtsmarkt und Gemeinschaftsessen statt. Bis vor Kurzem gab es den FC Nørager, in dem junge Männer Fußball gespielt haben. Festsaal und ein Café Kroager stehen für Zusammenkünfte bereit, und zweimal im Jahr wird ein Frühstück für alle Hausmeister ausgerichtet.

Zusammen mit Kommune und Sozialberatung fand man eine Lösung: Wenn eine Familie – und deren Kinder – zwei Verwarnungen erhielten, drohte der Rauswurf. „Das hat dem Ganzen einen Deckel aufgesetzt und Wirkung gezeigt. Und wir haben den direkten Kontakt gesucht. Wir haben uns direkt an die Familien gewandt, mit denen es Probleme gab“, so Skovlund, die damals Mitglied des Vorstands wurde.

Inga Skovlund organisiert das Flohmarktgeschäft und die Veranstaltungen vor Ort. Foto: Sara Eskildsen

Wir haben hier bestimmt kein Ghetto, das hatten wir auch nie. Es gab eine Phase mit Problemen, aber auch da waren wir weit entfernt, ein Ghetto zu sein. Es war damals unsicher, hier zu wohnen, aber es waren keine Ghetto-Zustände. Weit davon entfernt. Und wir haben die Probleme in den Griff gekriegt.

Inga Skovlund, inoffizielle Bürgermeisterin

Der direkte Kontakt zu den Bewohnerinnen und Bewohnern habe geholfen, die Probleme in den Griff zu kriegen – und das sei auch heute noch so, sagt Skovlund.

„Das hat beispielsweise auch geholfen, als sehr viele auf ihren E-Rollern durch den Wohnblock rasten. Da haben wir persönlich dafür gesorgt, dass das wieder aufhört. Da gab es eine Gruppe, von der ich wusste, dass sie beteiligt war. Also habe ich mir die Personen vorgenommen und danach gab es keine Probleme mehr. Jetzt gibt es ab und zu mal Einzelne, aber die kommen von außerhalb. Wir haben hier bestimmt kein Ghetto, das hatten wir auch nie. Es gab eine Phase mit Problemen, aber auch da waren wir weit entfernt, ein Ghetto zu sein. Es war damals unsicher, hier zu wohnen, aber es waren keine Ghetto-Zustände. Weit davon entfernt. Und wir haben die Probleme in den Griff gekriegt. Es fanden hier keine Messerstechereien oder so statt.“

Dass es im Viertel wieder aufwärts ging, ist auch dem Club 35 geschuldet. 2017 erhielten Inga Skovlund und der Verein für ihren Einsatz den kommunalen Ehrenamts-Preis. Neben Yoga und Flohmarkt-Geschäft gibt es auch ein Telefonangebot für Pflegebedürftige namens „Vi ringes ved“.

Der Gemeinschaftsraum im Café Kroager ist für alle da – ob für Yogagruppen oder Kindergeburtstage. Foto: Sara Eskildsen

Und dann ist da vielleicht eine Familie innerhalb von drei Blöcken, die Probleme und Gewalt verursacht. Und das ist dann das, was öffentlich wahrgenommen wird. Nicht all die guten Angebote, die wir hier vor Ort haben. Nicht all die guten Menschen, die wir hier haben. Wir haben richtig viele gute Ausländer hier, deren Kinder Abitur machen und die füreinander da sind.

Inga Skovlund, Anwohnerin

Als Däninnen ohne Migrationshintergrund sind die drei Frauen auf Nørager in der Minderheit – 65,6 Prozent aller Anwohnerinnen und Anwohner haben einen Migrationshintergrund aus nicht westlichen Ländern. Macht sich das im Alltag bemerkbar?

„Überhaupt nicht. Hier in unserem Flohmarkt-Geschäft sind wir Sozialberatung für alle. Wir helfen mit Kindern, helfen, wenn jemand seinen Schlüssel verloren hat. Gibt es einen Todesfall oder steht ein Umzug an – hier ist die Anlaufstelle. Egal ob für Mehr- oder Minderheit“, sagt Inga Skovlund.

„Es spielt überhaupt keine Rolle, wer woher kommt“

„Es wird immer einzelne Familien geben, mit denen es schwer ist. Aber das ist mit ursprünglich dänischen Familien nicht anders. Es spielt überhaupt keine Rolle, wer woher kommt. Wir sind zusammen beim Yoga, wir sind zusammen im Flohmarkt, wir sind generell zusammen. Jeder kann unser Café für 300 Kronen für einen Kindergeburtstag mieten oder unseren Festsaal für 1.200 Kronen.“

Warum es für die Regierung eine Rolle spielt, wer woher kommt – Inga Skovlund führt das auf die Probleme zurück, die es vor 25 Jahren vor Ort gab. „Damals kamen ganze Familien auf einmal hierher. Erst die Tante, dann der Onkel,  dann noch mal eine Tante, und alle wollten zusammen in einem Wohnviertel leben. In deren Kulturen teilt man das Leben sehr, sehr viel mehr, als wir es in Dänemark tun. Und so haben sich ganze Familien in einem Gebiet angesiedelt. Und dann ist da vielleicht eine Familie innerhalb von drei Blöcken, die Probleme und Gewalt verursacht. Und das ist dann das, was öffentlich wahrgenommen wird. Nicht all die guten Angebote, die wir hier vor Ort haben. Nicht all die guten Menschen, die wir hier haben. Wir haben richtig viele gute Ausländer hier, deren Kinder Abitur machen und die füreinander da sind.“

Die Monatsmiete für eine Drei-Zimmer-Wohnung auf Nørager beträgt rund 5.000 Kronen. Foto: Sara Eskildsen

Seit zwei Jahren gibt es eine neue Regel für Zuzügler: Wer kein unbeflecktes Strafregister hat, darf nicht herziehen.  „Das hat auch noch mal geholfen“, so Skovlund. „Wenn es mal Probleme mit drei Jungs gibt, kann man die Hauswirte anrufen, und dann wird ein Gespräch geführt, und dann ist wieder Ruhe. Wenn es Probleme gibt, gibt es sofort den direkten Kontakt mit der oder den Personen, und dann ist wieder gut. Hier kümmern wir uns um einander. Das ist doch immer das Entscheidende! Es ist vollkommen egal, ob es sich um Menschen mit Migrationshintergrund handelt oder um ursprüngliche Dänen. Vollkommen egal. Wir sind eine gemischte Nation und müssen aneinander Anteil nehmen. Und das gilt für beide Seiten.“

„Es ist doch egal, ob jemand schwarz, gelb, grün oder blau ist“

Der Begriff Parallelsamfund? Für Inga Skovlund nicht zutreffend auf Nørager. „Es gibt vielleicht einige, die das so handhaben und für sich leben. Aber generell ist das so geringfügig, dass es überhaupt nicht auffällt. Kinder feiern beispielsweise nicht Weihnachten zu Hause – aber sie machen in der Schule bei Weihnachtsdingen mit. Kinder haben gelernt, dass es beide Seiten gibt. Manche Familien passen auf, dass sich die Kinder nicht so weit von ihnen entfernen – aber das gibt es ja auch bei Dänen. Es ist doch egal, ob jemand schwarz, gelb, grün oder blau ist.“

2011 wurde Inga Skovlund zur inoffiziellen Bürgermeisterin von Nørager ernannt. Ihr Motto: „Wenn jemand einen Fehler hat, wenn jemand einen Fehler macht, kann man das wieder gutmachen.“ Ein Motto, das ankommt: 2020 wurde Skovlund in ihrem Amt bestätigt.

 

Inga Skovlund schließt das Flohmarkt-Geschäft im Wohnblock ab. Der Laden ist mittwochs von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Foto: Sara Eskildsen

Gefahr droht den Bürgerinnen und Bürgern von Nørager nicht aus den eigenen Reihen. Es ist die dänische Regierung, die das Zuhause der Menschen im Wohnviertel zerstört. Und zwar buchstäblich. Sämtliche Wohnblocks, der Festsaal, das Flohmarktgeschäft, das liebevoll eingerichtete Café mit den selbst gemalten Bildern an den Wänden – alles wird in den kommenden Jahren abgerissen. Die Wohnungen von Inga Skovlund und Lise, und auch die Wohnung von Lisa, die ihr Zuhause nach einem halben Jahrhundert unfreiwillig verlassen muss.

Alle zehn Wohnblöcke werden abgerissen

Alle zehn Wohnblöcke auf Nørager müssen verschwinden, es entstehen 48 Miet-Reihenhäuser und 30 Häuser für private Käufer. Die 115 Wohnungen auf Nørager werden abgerissen, weil bis 2030 40 Prozent aller Baumasse vor Ort abgerissen sein muss. Mit dieser Maßnahme will die Regierung verhindern, dass es in Dänemark Parallelgesellschaften gibt. Die Wohnungen auf Nørager werden ab 2024 abgerissen, die neuen Häuser sollen 2027 stehen.

„Es ist fürchterlich, dass es beschlossene Sache ist. Irgendwo im Hinterkopf hat man noch immer eine Hoffnung. Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass wir unser Zuhause verlieren. Das ist das Schlimmste überhaupt“, sagt Inga Skovlund.

 

Der Club 35 verliert durch den Abriss der Blöcke sein Zuhause, ebenso wie sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner der 115 Wohnungen. Foto: Sara Eskildsen
Mehr lesen

Leserbrief

Meinung
Flemming Elmdal Kramer
„Ræven kendte ikke loven!“