VOICES - Minderheiten weltweit
„Steinmeier bittet Sinti und Roma um Vergebung“
Steinmeier bittet Sinti und Roma um Vergebung
Steinmeier bittet Sinti und Roma um Vergebung
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Bundespräsident und Kanzler entschuldigen sich. In der Ukraine können staatenlose Roma dem Krieg nicht entfliehen, schreibt Jan Diedrichsen.
Der Bundeskanzler griff kürzlich auf Twitter in die Tasten:
Es schmerzt, wenn viele Sinti und Roma auch heute ihre Identit"at in Beruf und "Offentlichkeit verleugnen - aus Angst vor Ausgrenzung. Wir werden das nicht akzeptieren. F"ur Antiziganismus ist in unserer freien, demokratischen Gesellschaft kein Platz. #InternationalerRomaTag https://t.co/GuRYghPLXW
— Bundeskanzler Olaf Scholz (@Bundeskanzler) April 8, 2022
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bat um Vergebung:
„Auch in der jungen Bundesrepublik erlebten Sinti und Roma Ausgrenzung und Herabwürdigung; Behörden, Polizei und Justiz diskriminierten, stigmatisierten oder kriminalisierten Angehörige der Minderheit; in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit wurde der Völkermord an den Sinti und Roma verschwiegen, verleugnet oder verdrängt; Ansprüche auf Entschädigung wurden lange, viel zu lange nicht anerkannt.
Auch für dieses zweite Leid, das den Sinti und Roma in der Nachkriegszeit angetan wurde, will ich heute im Namen unseres Landes um Vergebung bitten!“
Das sind wichtige und richtige Worte sowie verdiente Anerkennung für die Aktivistinnen des Zentralrates der deutschen Sinti und Roma, der in diesem Jahr sein 40-jähriges Bestehen feiert! Auf Drängen nicht zuletzt der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) erkannten Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundespräsident Karl Carstens Anfang der 80er Jahre erstmals den Völkermord an den Sinti und Roma an und entschuldigten sich öffentlich.
Internationaler Roma-Tag
Sinti und Roma scheinen – zumindest in Deutschland – endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein? Dieser Eindruck trügt. Der dumpfe und klischeebeladene Antiziganismus ist leider weiterhin eher in der Mitte der Gesellschaft zu verorten, als es Sinti und Roma wären.
Der Zentralrat der deutschen Sinti und Roma mit dem Vorsitzenden Romani Rose, seit Jahrzehnten fest im Sattel, berichtet laufend über den mehr oder weniger offenen Antiziganismus weiter Teile der deutschen Gesellschaft. Noch schlimmer sieht es in vielen Staaten im östlichen Teil Europas aus, wo die großen Roma-Minderheiten Millionen Menschen umfassen und diese tagtäglich auf das Schlimmste diskriminiert werden, ja auch heute noch um ihr Leben fürchten müssen.
Der Zentralrat feiert Geburtstag und lässt sich zu Recht in diesen Tagen von der Politik feiern. Hier sei jedoch die Frage gestattet, ob der Verband so aufgestellt ist, dass er einen bevorstehenden Generationenwechsel nach dem Mitgründer Romani Rose konfliktfrei bewältigt. Den Sinti und Roma in Deutschland wäre das zu wünschen.
In Berlin erinnert seit 2012 ein Mahnmal an die Opfer. Den Verfassungsrang hat keine der Minderheiten in Deutschland, wenngleich sie dies immer wieder gefordert haben. Vielleicht sparen sich das der Bundespräsident und Bundeskanzler als Empfehlung für den nächsten Welt-Roma-Tag auf: eine Empfehlung für die Aufnahme der Minderheiten ins Grundgesetz, natürlich inklusive der Sinti und Roma, die fest dazugehören.
Roma hart vom Krieg betroffen
Währenddessen sollte der solidarische Blick auf die Roma in der Ukraine gerichtet werden, die besonders hart von dem russischen Angriffskrieg getroffen sind.
Laut internationalen Schätzungen leben rund 400.000 Roma in der Ukraine. Antiziganismus und Gewaltverbrechen sind in der Ukraine seit Jahren zuhauf dokumentiert. Nichtsdestotrotz spricht sich der überwiegende Teil der Roma-Vertreterinnen des Landes deutlich für den Kampf gegen den russischen Aggressor aus und machen selbst in mehreren Erklärungen darauf aufmerksam, dass der strukturelle Antiziganismus des Landes nicht der russischen Propaganda in die Hände spielen darf. Tausende Roma haben sich freiwillig zu den Waffen gemeldet. Sie leisten auch über die direkten Kampfhandlungen hinaus mutigen Widerstand. Von der Eroberung russischer Panzer bei heftigen Gefechten im Gebiet Cherson bis zum Bau von Barrikaden und der Verteilung von Lebens- und Hilfsmitteln.
Staatenlos
Rund 10 Prozent der Roma, so die Schätzungen, sind in der Ukraine ohne Papiere und de facto staatenlos. In den meisten Fällen haben sie nach dem Gesetz zwar das Recht auf die ukrainische Staatsangehörigkeit, können dieses Recht aber ohne Dokumente nicht nachweisen. Ihr Status ohne Papiere wird auch an ihre Kinder weitergegeben, wodurch ein Teufelskreis entstanden ist. Roma ohne Papiere können nicht zur Schule gehen. Sie bekommen keine guten Jobs. Sie haben nur eingeschränkten Zugang zu Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Ohne Geburtsurkunde kann ein Kind kein Schulzeugnis erhalten, und die Kinder von Eltern ohne Papiere können keine Geburtsurkunden bekommen.
Selbst wenn ein Roma-Kind ohne Papiere zur Schule zugelassen wird, erhält es kein Zeugnis, was bedeutet, dass es später weder seine Ausbildung fortsetzen noch eine Arbeit finden kann. Ohne Ausweispapiere können Roma nicht offiziell arbeiten oder ihr eigenes Unternehmen anmelden. Selbst wenn es ihnen gelingt, die gesellschaftliche Diskriminierung zu überwinden, die Roma eine Beschäftigung verwehrt, bedeutet ihre Staatenlosigkeit, dass sie inoffiziell arbeiten müssen, ohne den Schutz der Arbeitsrechte zu genießen. Laut Schätzungen sind nur 15 Prozent der Roma in der Ukraine formell beschäftigt.
Die ärmsten Roma, die in slumartigen Siedlungen leben, die von Wasser und Strom abgeschnitten sind, wohnen oft in Häusern ohne Eigentums- oder Mietverträge. Dadurch sind sie der Gefahr einer Zwangsräumung ausgesetzt. Für diejenigen, die keine Ausweispapiere haben, ist es unmöglich, einen offiziellen Wohnungsvertrag abzuschließen oder einen Räumungsbescheid anzufechten. Staatenlose Roma haben auch kein Recht auf den Bezug einer Sozialwohnung, da sie ihre ukrainische Staatsangehörigkeit nicht nachweisen können.
Nach ukrainischem Recht sollte die Gesundheitsversorgung für alle Bürger kostenlos sein. Roma ohne Papiere, die die ukrainische Staatsbürgerschaft nicht nachweisen können, müssen für die Gesundheitsversorgung bezahlen – wenn sie überhaupt von einem Arzt behandelt werden. Die Diskriminierung von Roma im Gesundheitswesen ist weit verbreitet, und Roma haben berichtet, dass Ärzte sich weigerten, sie aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu behandeln, und in einigen Fällen wurde berichtet, dass Notdienste sich weigerten, auf Anrufe von Roma zu reagieren.
Auf der Flucht
Tausende Roma haben sich im Zeichen des russischen Angriffskrieges zur Flucht entschieden. Viele haben keine Ausweispapiere und daher Schwierigkeiten bei der Ausreise oder bei der Einreise in die Nachbarländer. Leider häufen sich die Aussagen, dass sie nicht immer mit der gleichen Offenheit und Gastfreundschaft empfangen werden, die die Vertriebenen in den vergangenen Tagen und Wochen erfahren haben.
In Deutschland erreichte kürzlich die Geschichte einer geflüchteten Roma-Familie in Mannheim die Öffentlichkeit, die von Bahn-Mitarbeitern massiv bedrängt wurde, da diese nicht glauben wollten, dass die Roma tatsächlich Vertriebene seien, sondern davon ausgingen, dass sie sich Hilfe erschleichen wollten. Die Bahn hat sich für das „Missverständnis“ entschuldigt.