Geschichte

Kritischer Blick auf Kopenhagens Flüchtlingspolitik 1945-1949

Kritischer Blick auf Kopenhagens Flüchtlingspolitik 1945

Kritischer Blick auf Kopenhagens Flüchtlingspolitik 1945

Apenrade/Aabenraa
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Im Buch „De Uønskede“ sind Fotos von deutschen Flüchtlingen in Dänemark zwischen 1945 und 1949 zu finden. Foto: Gyldendal

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Der dänische Historiker Thomas Harder liefert mit „De uønskede. De tyske Flygtninge in Danmark 1945-1949“ eine fundierte Darstellung zu Umständen der Massenflucht von 250.000 Deutschen ins besetzte Dänemark am Ende des Zweiten Weltkriegs. Gründe für die anfangs geringe Hilfsbereitschaft Dänemarks und später verbesserte Versorgung sind auch Thema.

Der Umgang in Dänemark mit den gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach Dänemark gelangten deutschen Flüchtlingen, die überwiegend über die Ostsee der vorrückenden Roten Armee in Ostdeutschland zu entkommen versuchten, ist bis heute ein „heißes Eisen“ in der dänischen Geschichtsschreibung.

Kritischer Blick auf Thema Todesfälle unter Flüchtlingen

Der dänische Historiker, Romanist und Honorarprofessor an der Copenhagen Business School (CBS), Thomas Harder, legt mit seinem bei Gyldendal erschienenen Buch „De Uønskede“ (Die Unerwünschten) eine Darstellung des Themas mit kritischem Blick auf Tatsachen wie die vielen Todesfälle unter den Geflüchteten, die das rettende Ufer Dänemark erreicht hatten, vor.

Diese deutschen Flüchtlinge hatten im Mai 1945 Kopenhagen erreicht. Verstarben dort aber aufgrund von Entkräftung oder unzureichender Versorgung. Foto: Gyldendal

Im Buch, das auch zahlreiche Fotos aus der Zeit des Aufenhaltes deutscher Flüchtlinge in Dänemark enthält, wird ganz klar die Frage angesprochen, ob Dänemark viele der bereits in den letzten Monaten des deutschen Besatzungsregimes im Lande seit Februar 1945 aus dem feindlichen großen Nachbarstaat ins Land gekommen Menschen hätte besser behandeln können oder müssen. 

Das Buch von Thomas Harder liefert einen guten Einblick in das umstrittene Thema Umgang mit den deutschen Flüchtlingen in Dänemark zwischen 1945 und 1949. Foto: Gyldendal

Immer wieder war hinterfragt worden, ob der Tod von immerhin fast 15.000 deutschen Flüchtlingen, insgesamt kamen wohl 250.000 ins Land, nach ihrer Ankunft in Dänemark wenigstens teilweise hätte verhindert werden können.

Viele tote Kinder

So liest man erschütternde Zahlen, dass bis Ende 1945 offiziell 13.493 deutsche Flüchtlinge in Dänemark verstorben sind. Bei den Toten handelte es sich bei 7.746 um Kinder unter 15 Jahre. Harder beschreibt sehr detailliert, wie es zur Zuspitzung der Situation der meist aus den von der Roten Armee eingeschlossenen Landesteilen Ost- und Westpreußens nach Dänemark evakuierten Menschenmassen gekommen war. Er beschreibt auch das dortige schreckliche Regime des NS-Militärapparates und der Nazi-Zivilverwaltung in den mit dem Potsdamer Abkommen im August 1945 Polen und der Sowjetunion zugesprochenen Ostprovinzen.

Die Flüchtlinge kamen mit teilweise beschädigten Schiffen in Dänemark an, die während der Fahrt durch die Ostsee oft von Flugzeugen oder U-Booten beschossen wurden. Auf dem Foto ein Schiff in Nyborg. Foto: Gyldendal

 

Viel zu spät war eine Flucht der Menschen zugelassen worden. Harder räumt auch mit dem in der Nachkriegszeit in Deutschland verbreiteten Mythos auf, unter Marinechef und Hitlernachfolger Dönitz habe das deutsche Militär heldenhaft Millionen Menschen vor der Sowjetarmee gerettet. Harder legt Erkenntnisse vor, dass fast bis zum Ende der Naziherrschaft stets das Militär auch bei den Transporten über See nach Dänemark Vorrang gegenüber den Flüchtenden hatte.

Tauziehen zwischen dänischen Stellen und Nazi-Besatzern

Der Autor greift auch das Tauziehen zwischen der seit 1943 nur geschäftsführenden dänischen „Departementsregierung“ und der dänischen Ärzteschaft mit der vom Reichsbevollmächtigten Werner Best geleiteten deutschen Besatzungsherrschaft über dänische Hilfe für die oft völlig desolat und entkräftet in Dänemark ankommenden deutschen Flüchtlingen auf. Die dänische Seite versuchte, mit der Weigerung, zu helfen die deutsche Naziherrschaft dazu zu bewegen, aus Dänemark in deutsche KZ und Lager verschleppte Dänen, Widerstahdskämpfer, Juden, Polizisten und Grenzgendarme in ihr Heimatland zurückzubringen. Auch sollte Druck ausgeübt werden, den in den letzten Monaten bis zur Befreiung Dänemarks eskalierenden Terror von Gestapo und  anderen Formationen in Dänemark zu beenden.  

Im Buch sind Fotos von Kindern im Flüchtlingslager Dragør bei Kopenhagen zu sehen. Die Lager waren von der Öffentlichkeit isoliert, um Mitleideffekte zu unterbinden, und die Insassen daran zu hindern, Kontakt mit der dänischen Bevölkerung zu suchen. Dennoch sind auch Partnerschaften und Ehen aus unerwünschten Kontakten über die Lagergrenze hinweg entstanden. Foto: Gyldendal

 

Während in Dänemark, aber auch in Deutschland, über Jahrzehnte vor allem erfreuliche Kapitel der Flüchtlingsversorgung in Dänemark gefeiert wurden, präsentiert Harder auch ungeschminkt hässliche Dinge aus dieser Zeit.

Flüchtlinge bekamen Quittung für Nazi-Verbrechen

Dazu zählen die Wiedergabe höhnischer Charakterisierungen der geschundenen Flüchtlinge in der dänischen Presse in den Wochen nach der Befreiung Dänemark im Mai 1945. Aber auch Diffamierungen von Persönlichkeiten wie Poul Henningsens oder Tove Ditlevsen, die in dänischen Medien kritisiert hatten, dass die Öffentlichkeit nicht über das Leiden vor allem von deutschen Flüchtlingskindern informiert wurden. Es wurde argumentiert, dass die unerwünschten Ankömmlinge die Quittung für die Verbrechen Nazideutschlands bekommen hätten.

Im Frühjahr und Sommer 1945 kamen Flüchtlinge in Kopenhagen unter anderem notdürftig in Schulen unter. Die Menschen hatten kaum eine Privatsphäre und es herrschten harte Bedingungen für die vielfach von Fluchterlebnissen traumatisieren Erwachsenen und Kinder. In Kopenhagen herrschte Unmut, dass die Schulen nicht den dortigen dänischen Kindern zur Verfügung standen. Foto: Gyldendal

 

Erwähnt werden auch Fälle, dass in Kopenhagen angekommenen Flüchtlinge, die meist nach der Überfahrt in oft schwer beschädigten und bombardieren Schiffen kaum mehr als das nackte Leben retten konnten, auch noch Wertsachen abgenommen wurden. Bei seinen Darstellungen greift Harder auch auf Dokumentationen Kirsten Lyllofs zurück, die schon vor einigen Jahrzehnten wissenschaftlich Versäumnisse dänischer Institutionen im Umgang mit deutschen Flüchtlingen nachgewiesen hat – und dafür heftig auch von anerkannten dänischen Historikern kritisiert wurde. Es werden erschütternde Einzelschicksale vorgestellt, aber auch viele poistive Seiten des Umgangs mit deutschen Flüchtlingen, denen nach Überstehen der ersten harten Monate in Dänemark später in den Lagern Schulunterricht, kulturelles Leben oder berufliche und soziale Tätigkeit erlaubt wurden. Allerdings immer unter dem Aspekt, dass ein „Aufsaugen“ der unerwünschten Deutschen durch die dänische Gesellschaft durch strikte Abschirmung der Lager verhindert werden sollte.

Mehr Essen für nicht deutsche Ausländer

Ausführlich wird dargestellt, wie sehr sich – lange vergeblich –  Dänemark dafür bei den Siegermächten einsetzte, die Flüchtlinge loszuwerden, denen deutlich weniger Kalorieren bei der Lebensmittelversorgung zugestanden wurden, als nicht deutschen Personen, die in Dänemark ebenfalls versorgt werden mussten.

Die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, die während der deutschen Besetzung Dänemarks ins Land gekommen waren, konnten erst im Sommer 1945 ausreisen. Viele erwartete Lagerhaft, denn sie galten im stalinistischen Heimatland teilweise als Verräter oder Deserteure. Unter den Ausreisenden befanden sich auch Menschen aus den von Stalin im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes schon 1939 eroberten Ländern, die sich nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR in deutsche Dienste gestellt hatten. Auch sie erwartete ein ungewisses Schicksal. Foto: Gyldendal

 

Es wird berichtet, wie mit den Alliierten verhandelt wurde, diese aber immer wieder einer Abschiebung der Flüchtlinge nach Deutschland einen Riegel vorschoben, unter Hinweis auf die im Nachkriegsdeutschland schlechte Versorgungslage angesicht von vielen weiteren Flüchtlingen in Millionenanzahl. Harder berichtet, wie aber der Abzug einzelner Flüchtlingskontingente glückte, indem die Briten an der deutsch-dänischen Grenze mitunter an der Nase herumgeführt wurden. Auch Abschiebung gegen Lebensmittellieferung aus Dänemark oder Bereitstellung dänischer Soldaten zur Entlastung der Besatzungsmächte waren teilweise ein „Geschäftsmodell“.

Auch „Nebenthemen“ behandelt

Das Buch Thomas Harders zeichnet sich auch dadurch aus, dass Themen wie die Suche nach deutschen Kriegsverbrechern und hochrangigen Nazis, die möglicherweise mit den Flüchtlingsmassen nach Dänemark gekommen sind, behandelt werden. Nachdem zunächst die dänische Widerstandbewegung, teilweise gemeinsam mit britischen Behörden, „Jagd“ auf solche Personen gemacht hatte, übernahm ab November 1945 eine Polizeiverwaltung der dänischen Flüchtlingsverwaltung diese Aufgabe.

Nur wenige Nazi-Verbrecher aufgespürt

Es wurde sogar eine eigene Haftanstalt, Mosedelejren, für den Personenkreis eingerichtet. Laut Harder schloss die „Reinigungskommission“  am 1. Mai 1948 ihre Arbeit ab. Im Zusammenhang mit den 4.000 Personen, die als Verdächtige aufgegriffen wurden, hatte es 200 Festnahmen mutmaßlicher Kriegsverbrecher oder hoher NS-Funktionäre gegeben. Von diesen wurden 147 den britischen Behörden überstellt. Harder kommt zu dem Schluss, dass die Aufgabe unzureichend erfüllt wurde. Er verweist auf zahlreiche Fälle, wo antinazistische Flüchtlinge von ihnen wiedererkannte Nazi-Würdenträger meldeten.

Der frühere Arbeitsminister, der Sozialdemokrat Johannes Kjærsbølm (1885-1973), leitete von 1945 an die dänische Flüchtlingsverwaltung. Er hielt sich an die Vorgaben, die deutschen Flüchtlinge getrennt von der Bevölkerung unterzubringen. Er erhielt aber auch Anerkennung für seinen Einsatz, den unerwünschten Gästen in den Lagern ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Foto: Archiv Der Nordschleswiger

 

Dabei handelte es sich unter anderem um Funktionäre des NS-Feriendienstes Kraft durch Freude, aber auch um eine in der dänischen Flüchtlingsverwaltung zur Leiterin des Kindersuchdienstes aufgestiegenen deutschen Rot-Kreuz-Funktionärin, die sich als hochrangige Nazi-Funktionärin entpuppte. Trotz Forderung des Leiters der Flüchtlingsverwaltung, Johannes Kjærbøl, die Frau zu entlassen, blieb sie als unersetzliche Suchdienstexpertin, auch auf Bitten des deutschen Kommunisten und Redakteurs der Zeitung „Deutsche Nachrichten“, Niels Rickelt, auf ihrem Posten. Erwähnt wird auch, wie schwierig es war, unter den vielen Tausenden nichtdeutschen Personen, die sich ebenso wie die deutschen Flüchtlinge 1945 in Dänemark aufhielten, diejenigen zu identifizieren, die von den Deutschen verschleppt worden waren, oder aber sich als Soldaten in den Dienst des deutschen Nazi-Militärs gestellt hatten.

Briefeversenden bis 1946 nicht möglich

Es wird auch über eine besonders traurige Sache berichtet. Das Verbot des Briefverkehrs zwischen in Dänemark untergekommenen deutschen Flüchtlingen und Angehörigen in Deutschland. Dänemark berief sich auf Anweisungen der Besatzungsmächte in Deutschland. Erst ab 1. Mai 1946 wurde der von vielen Menschen herbeigesehnte Briefverkehr über die deutsch-dänische Grenze in Regie des Internationalen Roten Kreuzes zugelassen. Erst danach konnten viele Menschen Gewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen bekommen. Das Postverbot hatte das Leiden vieler Flüchtlinge unnötig in die Länge gezogen.

Erst 1947 durften größere Kontingente deutscher Flüchtlinge die Lager in Dänemark verlassen. Die Westalliierten blockierten lange deren Ausreise wegen der schlechten Versorgungslage in Deutschland im Vergleich zu Dänemark. Das Foto zeigt deutsche Flüchtlinge auf dem Weg von Bahnhof Pattburg zur deutsch-dänischen Grenze unter Aufsicht britischer Soldaten. Foto: Gyldendal

 

Ab Frühjahr 1946 verbesserte sich offenbar auch die Verpflegung der Flüchtlinge, von denen es aber dennoch auch Demonstrationen gab. So forderten rund 1.000 Frauen im Lager Oksbøl am 9. Juni 1947, dass ihnen endlich die Ausreise in die britische Zone erlaubt wird, nachdem sie nunmehr über zwei Jahre eingesperrt waren.

Bundesrepublik zahlte Kosten für Unterbringung in Dänemark

Nicht unerwähnt lässt Harder auch das Thema Erstattung der Millionenausgaben, die Dänemark durch die Unterbringung der deutschen Flüchtlinge 1945 bis 1949 entstanden waren. Es wurde nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 in Westdeutschland vereinbart, dass Dänemark 160 Millionen Kronen an Ausgleich erhält, zahlbar in 20 Jahren. Die Bundesrepublik hatte am 1. September 1958 schon den Gesamtbetrag überwiesen. Geregelt wurde auch die Pflege der Gräber von 14.900 deutschen Flüchtlingen und 10.250 deutschen Soldaten in Dänemark.

 

Thomas Harder: De Uønskede. Verlag Gyldendal. København 2021. 480 Seiten. Preis 359,95 Kronen.  

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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