Stolperstein-Initiative

Der siebenjährige Ib Jessen erlebte, wie die Nazis seinen Vater holten

Der siebenjährige Ib Jessen erlebte, wie die Nazis seinen Vater holten

Ib Jessen erlebte, wie die Nazis seinen Vater holten

Schelde/Skelde
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Ib Jessen (m.) kehrte 80 Jahre nach der Verhaftung seines Vaters nach Schelde zurück. Vor dem Haus legte er einen Stolperstein nieder. Foto: Karin Riggelsen

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Vor 80 Jahren musste Ib Jessen mit ansehen, wie eine Nazi-Patrouille seinen Vater Thomas Emil Jessen aus dem Zuhause der Familie in Schelde deportierte. Ein Stolperstein erinnert seit dieser Woche an die Tragödie.

Die Nazis kamen in den frühen Morgenstunden und nahmen den Vater mit. „Ich war als Erster wach und hörte das Klopfen. Ich hatte im Schlafzimmer meiner Eltern geschlafen. Meinem Vater wurde der Ernst der Lage schnell bewusst. Er durfte noch ein schnelles Frühstück einnehmen, dann nahmen sie ihn mit. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe.“ 

Festnahme am Haus Nummer 13

Der 87-jährige Ib Jessen erzählte am 19. September vor seinem damaligen Zuhause an der Nederballe in Schelde von der Tragödie, die seiner Familie auf den Tag genau vor 80 Jahren widerfahren war. 

Um an dieses Verbrechen zu erinnern, verlegte Ib Jessen einen sogenannten Stolperstein vor dem Haus mit der Nummer 13. Ein Stein, der an Thomas Emil Jessen erinnern soll. Und an das Unrecht, das ihm und seiner Familie geschehen ist. 

Der Stolperstein für Thomas Emil Jessen, der im September 1944 verhaftet und im Oktober im Konzentrationslager Neuengamme interniert wurde. Zwei Monate nach der Deportation starb er an den elendigen Verhältnissen im Lager. Foto: Karin Riggelsen

Thomas Emil Jessen war in seiner Funktion als Grenzgendarm verhaftet worden. Rund 300 Angestellte dieser dänischen Polizeieinheit waren im September 1944 festgenommen und ins Fröslevlager bei Pattburg (Padborg) gebracht worden. 

38 Grenzgendarme kamen in Konzentrationslagern ums Leben

Von dort aus schickten die Nationalsozialisten 141 Grenz-Polizisten weiter in Konzentrationslager nach Deutschland. 38 von ihnen starben in den Lagern, auch Thomas Emil Jessen. Er kam zwei Monate später im Lager Neuengamme bei Hamburg ums Leben.

 

Zur Legung des Stolpersteins waren viele Menschen nach Schelde gekommen. Foto: Karin Riggelsen
Auch die Enkel, Urenkel und Ururenkel des Verstorbenen Thomas Emil Jessen waren nach Schelde gereist, um bei der Verlegung des Gedenksteins dabei zu sein. Foto: Karin Riggelsen

Die Nachricht vom Tod des Vaters kam damals per Brief nach Schelde, erinnerte sich Ib Jessen. 

„Als der Brief von den deutschen Behörden aus Deutschland ankam, gingen wir mit dem Brief zunächst rüber zu unseren Nachbarn. Der Brief war auf Deutsch. Unsere Nachbarn lasen ihn vor und übersetzten, und als meiner Mutter klar wurde, dass mein Vater als tot gemeldet wurde, wurde sie ohnmächtig“, sagt Ib Jessen. 

Er kam in Begleitung seiner Kinder, Enkelkinder und Urenkel nach Schelde. Über 100 Menschen nahmen an der Verlegung des Stolpersteins teil.

Der Stein soll daran erinnern, dass hier am 19. September 1944 der Grenzgendarm Thomas Emil Jessen gefangen genommen und später deportiert wurde. Sohn Ib Jessen drückte auf den Tag genau 80 Jahre später den Stein in die Mulde. Foto: Karin Riggelsen
Die beiden Sonderburger Stadtratspolitiker Stephan Kleinschmidt und Ellen Trane Nørby haben die Verlegung des Stolpersteins aktiv unterstützt. Im Hintergrund der Chor der lokalen Nachschule, der zum Singen von drei Liedern einlud. Foto: Karin Riggelsen

Mit dabei in Schelde war Ruth Candussi von der Schleswigschen Partei. Sie hatte die Initiative des ersten Stolpersteins in der Kommune Sonderburg ins Rollen gebracht. Zusammen mit SP-Stadtratspolitiker Stephan Kleinschmidt hatte sie im Frühjahr 2021 online zu einem runden Tisch eingeladen. 

Mithilfe der Initiative „Snublesten Fyn“ und der Kommune Sonderburg sowie einer Spende der Stiftung „BHJ Fonden“ konnten sie das Vorhaben in die Tat umsetzen.

 

 

Ib Jessen mit Ruth Candussi (l.) und Stephan Kleinschmidt, die die Initiative mit dem Stolperstein in Schelde vor drei Jahren ins Rollen gebracht hatten. Foto: Karin Riggelsen
Ib Jessen bei der Verlegung des Stolpersteins vor seinem damaligen Zuhause. Foto: Karin Riggelsen

Deshalb wurden 1944 die Grenzschützer verhaftet

Historiker Poul-Erik Thomsen hat in seinem Buch „Ingen så det komme“ darüber geschrieben, wie und weshalb 1944 Hunderte dänische Grenzgendarme verhaftet wurden. 141 Grenzschützer schickten die Nazi-Behörden weiter in Konzentrationslager nach Deutschland, 38 starben dort.

Warum ließen die Nationalsozialisten im September 1944 die Grenzschützer festnehmen und 141 von ihnen in Konzentrationslager deportieren? „Eine ganz klare Antwort darauf gibt es nicht. Aber als Gründe wurden in einem Brief genannt, dass die Grenzschützer im militärischen Untergrund aktiv waren und dass sie Flüchtende, die von Deutschland nach Dänemark kamen, nicht aufgehalten hätten. Das war in den Augen der Nazis Verbrechen genug, um deportiert zu werden“, erläutert Poul-Erik Thomsen. 

Auch Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Minderheit in Nordschleswig waren anwesend. Neben der SP-Sekretärin Ruth Candussi (m.) waren Büchereidirektorin Claudia Knauer (3. v. r.) und Volker Heesch (r.) in Schelde dabei. Der pensionierte „Nordschleswiger“-Redakteur Heesch hatte im April 2024 die Verlegung des ersten Stolpersteins in Nordschleswig initiiert: vor seiner eigenen Haustür in Hoyer. Neben Ruth Candussi steht Poul-Erik Thomsen, der ein Buch über die 1944 verhafteten Grenzschützer geschrieben hat. Foto: Karin Riggelsen
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Leitartikel

Gwyn Nissen
Gwyn Nissen Chefredakteur
„Die Minderheit lebt – und liegt nicht auf dem Sterbebett“