Minderheiten in Europa

In Nordschleswig unvorstellbar: Südtirol zählt die Minderheiten durch

In Nordschleswig unvorstellbar: Südtirol zählt die Minderheiten durch

In Südtirol werden die Minderheiten durchgezählt

Hatto Schmidt/Dolomiten
Donostia/San Sebastián
Zuletzt aktualisiert um:
Bozen
In Südtirol, hier Bozen/Bolzano, hängt finanziell und politisch vieles für die unterschiedlichen Sprachgruppen von ihrem Bestand ab. Foto: Fabrizio Coco/Unsplash

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Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe: In Südtirol findet im Herbst die Sprachgruppenerhebung statt. Sie ist Grundlage für den Proporz und die Verteilung öffentlicher Geldmittel in der Region in Norditalien. Fast 70 Prozent der Bevölkerung sprechen dort Deutsch, und die ladinische Minderheit macht etwa 5 Prozent aus. Oder doch nicht?

Im Herbst wird in Südtirol die Sprachgruppenerhebung durchgeführt. Sie ist ein Grundpfeiler des Proporzes, der wiederum die Basis der Südtirol-Autonomie bildet. Das Ganze ist ein komplexes Thema und für viele Minderheiten, für die es – aus historischen oder anderen Gründen – unvorstellbar wäre, gezählt zu werden, eine höchst ungewöhnliche Regelung, berichtet Hatto Schmidt von den „Dolomiten“ aus Italien.

Minderheit ist für gewöhnlich, wer es sein möchte

Für viele Angehörige von ethnischen oder nationalen Minderheiten wäre es inakzeptabel, auf irgendeine Weise erfasst zu werden. Nicht ohne Grund lautet Artikel 3 des Rahmenübereinkommens über den Schutz nationaler Minderheiten wie folgt: „Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht; aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nachteile erwachsen.“

Foto: Dolomiten

Die Dolomiten sind die älteste und meistgelesene deutschsprachige Tageszeitung in Südtirol. Sie gehen zurück auf die 1882 gegründete Zeitschrift „Der Tiroler“. Ihren Namen tragen die „Dolomiten“ seit dem Jahr 1923, als die Zeitung auf Druck der Faschisten umbenannt werden musste. Von den Nazis wurden die „Dolomiten“ 1943 verboten. Nach Kriegsende 1945 konnten sie wieder erscheinen. Sie erreichen heute mehr als 200.000 Leserinnen und Leser.  

Südtirols eigener Weg hat historische Gründe

Südtirol geht einen völlig anderen Weg, aus historischen Gründen. Die Basis des Autonomiestatuts wurde mit dem Gruber-Degasperi-Abkommen 1946 gelegt, und seine Wurzeln reichen zurück in die Zeit des habsburgischen Vielvölkerreichs.

Gruber-De-Gasperi-Abkommen

Der Vertrag garantiert den Schutz der kulturellen Eigenart der deutschsprachigen Bevölkerung in der Provinz Trentino-Südtirol. Er war ein Kernargument dafür, dass die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg zustimmten, dass Südtirol weiter zu Italien gehörte. Quelle: Südtiroler Landesverwaltung

Mit dem Zweiten Autonomiestatut wurde der ethnische Proporz als Regelung für die Verteilung der Ressourcen unter den Sprachgruppen eingeführt. Bekanntlich gibt es in Südtirol drei Sprachgruppen. Bei der jüngsten Volkszählung mit gleichzeitiger Sprachgruppenerhebung im Jahr 2011 erklärten sich 69,41 Prozent der deutschen Sprachgruppe zugehörig, 26,06 der italienischen und 4,53 der ladinischen; sie ist mit rund 17.000 Angehörigen die kleinste Minderheit in Südtirol und spricht eine romanische Sprache.

Dieses Jahr im Herbst findet die Sprachgruppenerhebung nicht mehr als Teil der allgemeinen Volkszählung statt, weil die Volkszählung in eine Dauerzählung umgewandelt wurde, bei der jedes Jahr Stichproben erhoben werden.

In Südtirol sind nicht nur zweisprachige Ortsschilder möglich – auch dreisprachige Ortsschilder gehören zum Alltag. Foto: Hatto Schmidt/Dolomiten

Deutsch, Italienisch, Ladinisch oder „Andere“?

Bei der Sprachgruppenerhebung wird festgestellt, welchen Anteil die jeweilige Sprachgruppe an der Südtiroler Gesamtbevölkerung hat. Die im Lande ansässigen Menschen, die die italienische Staatsbürgerschaft besitzen, müssen also angeben, ob sie der deutschen, der ladinischen oder der italienischen Sprachgruppe angehören. Es gibt allerdings auch die Möglichkeit, „Andere“ anzugeben, für all jene, die sich keiner oder nicht nur einer der drei Gruppen zugehörig erklären wollen.

Diese Erhebung hat sehr konkrete Folgen, denn ihre Ergebnisse sind die Grundlage für den ethnischen Proporz. So werden die Geldmittel der öffentlichen Hand für die Schulen und Schulgebäude – in Südtirol wird muttersprachlicher Unterricht garantiert; es gibt also Schulen mit deutscher und mit italienischer Unterrichtssprache – gemäß dem Anteil der jeweiligen Sprachgruppe an der Bevölkerung verteilt.

Auch die personelle Besetzung der regionalen, Landes-  und kommunalen Körperschaften folgt dieser Logik. Je nach Ergebnis der Sprachgruppenerhebung erhält jede Sprachgruppe einen entsprechenden Anteil an Stellen im öffentlichen Dienst, also im Gesundheitswesen, in Schule und Landesverwaltung, Gemeinden und staatlichen Behörden, die sich in Südtirol befinden.

Dreisprachiges Schild in Südtirol
Dreisprachiges Schild in Südtirol Foto: Hatto Schmidt/Dolomiten

Alle in Südtirol müssen sich verbindlich zu einer Sprachgruppe bekennen

Um die Verteilung der Stellen im öffentlichen Dienst organisieren zu können, braucht es eine weitere Erklärung, eine rechtlich verbindliche, individuelle Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung: Jede in Südtirol lebende Person muss zumindest einmal in ihrem Leben – meist beim Erreichen der Volljährigkeit – die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe erklären und beim Landesgericht in Bozen deponieren. Nur gegen das Vorweisen dieser Erklärung kann jemand eine öffentliche Stelle antreten oder gewisse Leistungen in Anspruch nehmen, etwa eine Sozialwohnung beantragen. 

Die Sprachgruppenerhebung wird im Herbst stattfinden. Sie ist Pflicht für alle in Südtirol ansässigen Menschen mit italienischer Staatsbürgerschaft und findet erstmals auch online statt. Die Erhebung ist einzigartig in Italien. Zwar wird auch im Trentino, mit dem Südtirol in einer Region vereint ist, die Stärke der Sprachgruppen erhoben, aber mit einem völlig anderen System und ohne ethnischen Proporz. Außerhalb der Region wird nirgendwo sonst auf italienischem Staatsgebiet die Stärke von Minderheiten erhoben.

Amtstafel
Amtlicher Aushang am Rathaus in der Gemeinde Urtijëi/St. Ulrich/Ortisei in drei Sprachen: Ladinisch, Deutsch und Italienisch Foto: Hatto Schmidt/Dolomiten

Für die Ladinisch-Sprechenden ist die Erhebung besonders wichtig

Besondere Bedeutung hat die Erhebung für die kleinste Sprachgruppe, die Ladinerinnen und Ladiner. 20.548 Bürgerinnen und Bürger (das waren 5,43 Prozent der Südtiroler Bevölkerung) erklärten sich 2011 als Ladinisch-Sprechende. Der Proporz garantiert, dass auch sie bei der Mittelverteilung nicht unter die Räder kommen und genügend Mittel für die öffentliche Dreisprachigkeit (Deutsch, Italienisch und Ladinisch in den acht ladinischen Gemeinden in Südtirol) vorhanden sind.

Nicht verschwiegen werden soll, dass der Proporz in gewissen Bereichen ein (zu) enges Korsett für die Ladiner ist, denn angesichts der geringen Zahl stehen ihnen zum Beispiel im Gesundheitswesen nur wenige qualifizierte Stellen zu.

Der Landtag liegt zwar außerhalb des ladinischen Siedlungsgebietes, doch er hat große Bedeutung für die Sprachgruppe. Deshalb wird auch hier in drei Sprachen angezeigt. Foto: Hatto Schmidt/Dolomiten

Proporz als Friedensgarantie

Der Proporz hat sich trotz aller Kritik an gewissen Details als Garantie für das friedliche Zusammenleben in Südtirol erwiesen. Denn vor dem Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts im Jahre 1972 hatten deutschsprachige Südtirolerinnen und -tiroler nur äußerst wenige Stellen in der öffentlichen Verwaltung; auch der geförderte Wohnbau ging an ihnen vorbei. Das hat sich in den Jahrzehnten danach geändert.

In Südtirol gibt es ein weiteres Instrument des ethnischen Proporzes, der mit der Sprachgruppenerhebung aber nichts zu tun hat: Es geht um den Proporz in der Politik. So werden die Posten in der Landesregierung, im Stadtrat und im Gemeindeausschuss gemäß dem jeweiligen Wahlergebnis bestimmt.

Ein Beispiel: Gehören 70 Prozent der Landtagsabgeordneten der deutschen Sprachgruppe an, muss auch der Anteil der Deutschsprachigen in der Landesregierung 70 Prozent betragen. Zugleich ist auch die Vertretung der Italienerinnen und Italiener und – allerdings als Kann-Bestimmung – der Ladiner in der Landesregierung sichergestellt. Diese Bestimmung wird noch 2023 relevant werden, denn am 22. Oktober finden in Südtirol Landtagswahlen statt.

 

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