Spuren durch die Hauptstadt
Per Rad – und mit Musik – zum Ballerup Boulevard
Per Rad – und mit Musik – zum Ballerup Boulevard
Per Rad – und mit Musik – zum Ballerup Boulevard

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Diesmal begeben wir uns bei unserer Spurensuche in Kopenhagen in eine Ecke, an der Touristinnen und Touristen bestenfalls im Auto vorbeisausen. Unterwegs entdecken wir unterschiedliche Stadtviertel der Hauptstadt, eine Wehranlage und eine Straße, deren Name sowohl ein Song- als auch ein Filmtitel ist.
Ballerup Boulevard: Eine lange, lange Straße, auf der dichter Verkehr vorbeifließt. Das klingt zunächst nicht nach einer naheliegenden Idee für einen Ausflug.
Der Anlass, weshalb wir hierher fahren, ist ein Song der kürzlich verstorbenen Musikerin Elisabeth Gjerluff Nielsen, der den Straßennamen als Titel hat und aus dem die oben stehenden Zeilen (frei übersetzt) stammen. Konnte sie hier im Verkehrslärm ein wenig Poesie entdecken, gelingt es uns vielleicht auch.

Doch sind wir unserer Spurensuche weit voraus, denn noch sind wir ja gar nicht hier, sondern in der Kopenhagener Innenstadt, und zwar am Kongens Nytorv. Den Weihnachtsmarkt umfahren wir mit unserem Rad in möglichst weitem Bogen, denn so etwas finden wir südlich der Grenze in authentischeren Ausgaben.

Dafür gibt es hier etwas, das für unser Vorhaben ganz hervorragend geeignet ist. Ein sogenannter „Superradweg“ beginnt hier (oder endet, wenn man aus der anderen Richtung kommt). Die Superradwege sollen für Pendlerinnen und Pendler das Rad zu einer attraktiven Alternative zum Auto machen.

Um ein schnelles Vorankommen zu gewährleisten, sind die Ampeln so geschaltet, dass Radfahrerinnen und Radfahrer nach Möglichkeit grüne Welle haben (wobei selbstverständlich nicht alle gleich schnell fahren). Fußstützen an den Kreuzungen gewährleisten möglichst komfortables und schnelles Anfahren. Der Straßenbelag ist von hoher Qualität.

Und das Konzept geht auf: Der Radverkehr auf den Strecken ist zwischen 30 und 50 Prozent gestiegen – bis zur Hälfte der neuen Radlerinnen und Radler sind vom Auto umgestiegen. Obwohl wir heute nicht pendeln, sondern einen Ausflug machen wollen, nutzen wir doch einfach die guten Radwege und wählen die Route Richtung Frederikssund. So weit müssen wir zum Glück nicht, denn das wären über 40 Kilometer – wir begnügen uns mit ungefähr 15. Wir rollen auf die Gothersgade hinaus und dann über die Nørrebrogade durch Nørrebro, das wir bereits kennen.

An der Nørrebro Station unterqueren wir die S-Bahn und gelangen nach „Nordvest“ oder einfach NV. Die Nørrebrogade wird zum Frederikssundsvej. Für das ungeübte Auge mag der Unterschied zu Nørrebro nicht sehr groß sein; wer die beiden Viertel als eins sieht, wird jedoch sowohl die Nørrebroer als auch die NV'ler beleidigen.

Ein Stück den Hügel hinauf gelangen wir zum Bellahøj Svømmestadion. Es ist seit 2009 das Elitezentrum der dänischen Schwimmunion: Rikke Møller Pedersen, Lotte Friis und Victor Bromer haben hier für ihre Medaillen trainiert. Hobbyschwimmerinnen und -schwimmer dürfen jedoch auch im 50-Meter-Becken ihre Bahnen ziehen.

Gleich daneben: Dänemarks älteste Hochhäuser, die Bellahøjhuse. Sie sind unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nach Inspiration des französischen Architekten Le Corbusier gebaut. Besonders die Wohnungen in den oberen Etagen zählen wegen ihres Blickes über die Stadt zu den gefragtesten gemeinnützigen Kopenhagens. Der Zahn der Zeit hat jedoch an den bewahrungswürdigen Bauten genagt, sie müssen renoviert werden.

Nach Bellahøj wandelt sich das Stadtbild: Die typischen Häuserblocks der inneren Stadtviertel weichen einer offeneren Bauweise. Wir kommen nach Brønshøj. Die Häuser am Frederikssundsvej sind noch Wohnungsbauten, drehen wir jedoch kurz rechts oder links rein, entdecken wir Einfamilienhäuser und Villen. Brønshøj ist eine gefragte Wohngegend für Familien mit Kindern.

Geschäfte jeglicher Art säumen den Frederikssundsvej, und einige Kreuzungen weiter kommen wir nach Husum, das dem gleichnamigen Ort an der Westküste in so gut wie keinem Punkt ähnelt. Wo genau die Grenze zwischen den beiden Vierteln verläuft, ist nicht so leicht zu erkennen. Häufig treten die beiden Viertel auch mit Bindestrich auf. Irgendwann löst der Husum Glarmester jedoch den Brønshøj Kebab ab, und spätestens wenn wir das Schild „Husum Torv“ entdecken, ist die Sache klar.

Bald schon kommen wir an den Vestvold, eine in den Jahren 1888 bis 1892 erbaute Wehranlage. Sie ist 14 Kilometer lang und sollte Angriffe auf Kopenhagen aus dem Westen abwehren. Der Vestvold galt bis zum Bau der Brücke über den Großen Belt als größtes Bauprojekt Dänemarks.

Er besteht aus Schanzen, Wehrgräben, Magazinen und unterirdischen Gängen. Bereits 1920 hatte er jedoch seine militärische Bedeutung verloren und wurde als Verteidigungsanlage aufgegeben.

Man kann den gesamten Wall entlang spazieren oder radeln, aber das heben wir uns für ein anderes Mal auf. Wir biegen jedoch kurz rechts rein, finden eine Bank und lassen ein wenig Ruhe einkehren.

Während wir das bunte Herbstlaub genießen, stimmen wir uns schon einmal ein wenig auf Elisabeth ein. Zur Jahreszeit passend, wählen wir „Regnmørkeland“: „Efterår og jeg snakker højt med mig selv og mit hjerte, som er ude at svømme“. Nachdem wir die etwas melancholische Herbststimmung genossen haben, ziehen wir weiter.

Wir überqueren den Vestvold und verlassen damit die Kommune Kopenhagen und gelangen nach Herlev, eine typische Vorstadt. Bereits unmittelbar nach dem Krieg arbeiteten weit über die Hälfte der dortigen Steuerzahlerinnen und -zahler in Kopenhagen. Kurz darauf wurde das ehemalige Dorf an das S-Bahn-Netz angeschlossen, und danach ging die Entwicklung schnell, denn in Kopenhagen herrschte Wohnungsnot. Gemeinnützige Wohnungsbauten schossen in die Höhe, aber auch Häuschen fanden hier Platz.

Unter dem Autobahnring 3 durch kommen wir zum Big, einem der größten Einkaufszentren Dänemarks, das 2015 öffnete. Wir werden jedoch nicht ausgerechnet dann, wenn wir mit dem Rad unterwegs sind, auf Großshopping gehen, und der Architektur wegen brauchen wir es nicht zu besuchen.

Allmählich wird der Frederiksundsvej breiter, und wir merken, hier wurde seinerzeit fürs Auto geplant. Es ist an diesem Tag ein wenig nebelig, warum also beim Streamingdienst nicht „Tågedage“ wählen, während wir weiter in die Pedale treten: „Durch das Land, an dunstigen Tagen. Der Horizont hängt nebelblau“ (Übersetzung des „Nordschleswigers“).
Wir kommen in die Kommune Ballerup und dort zunächst in den Ort Skovlunde. In Einfamilienhäusern haben Pendlerinnen und Pendler ein Zuhause gefunden.

Wir erreichen Ballerup und sehen linker Hand das Fabrikgelände des Pharmariesen Leo. 1908 gegründet, hat die Firma, damals als Løvens Kemiske Fabrikker, die Produktion in den Jahren 1949 bis 1959 von Kopenhagen an den jetzigen Standort verlegt. Seit den 80er-Jahren hat sie sich zu einem weltweiten Konzern entwickelt.

Auch rechter Hand liegt ein Gewerbegebiet; ein Grundstück wäre noch zu haben. Dahinter Nets, der Betreiber von Dankort und MitID. Am Ende des Betriebsgeländes von Leo biegen wir vom Superradweg ab und fahren den Malmpark hinunter. Schließlich wollen wir ja zum Ballerup Boulevard.

Wie eingangs vermutet: Verkehr gibt es auf der vierspurigen Straße selbst mitten am Tag nicht zu knapp. Eine Tankstelle und ein Restaurant „Zur goldenen Möwe“ mit dem geschwungen M passen ebenfalls ins Bild. Lang und gerade ist der Boulevard auch.

Doch wie steht es um die Suche nach ein wenig Idylle? Vielleicht etwas überraschend, brauchen wir da gar nicht lange zu suchen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite säumt ein kleines Wäldchen den Boulevard. In einer Schneise: eine Bank mit Rücken zur Straße und Blick auf ein offenes Gelände.


Hier sitzend, könnte man fast meinen, wir wären mitten in der Natur, wäre da nicht der Verkehrslärm im Hintergrund. Doch auch dafür haben wir ja eine Lösung: Kopfhörer rein und den Song am Handy aufgelegt, der uns hierhergeführt hat:
Und während wir so dasitzen, entdecken wir, dass das Naturgebiet von den Ortsansässigen eifrig genutzt wird: Hier eine Spaziergängerin, dort ein Jogger und da hinten ein Hund, der sein Frauchen Gassi führt.

Der Song „Ballerup Boulevard“ ist übrigens für den gleichnamigen Jugendfilm geschrieben. In dem geht es weniger um die Straße als um die Band der 14-jährigen Protagonistin Pinky, die, du hast es erraten, „Ballerup Boulevard“ heißt. Als ihre Familienverhältnisse zerrüttet werden, findet sie gemeinsam mit einer Freundin Trost in der Band. Bei einem Fest am Gymnasium werden sie mit ihrem Song „E66 – Trans-Europa-Express“ die Stars des Abends, was allerdings nicht heißen will, dass der Film eindeutig glücklich endet.


Und nach dieser Dosis dänischer Populärkultur aus den 80er-Jahren begeben wir uns den besagten Boulevard entlang. Wir kommen an der Ballerup Superarena vorbei, in der das Kopenhagener Sechs-Tage-Rennen stattfindet. Wir rollen in gemächlicherem Tempo Richtung Ballerups Stadtzentrum und in Richtung S-Bahn, die wir für die Rückfahrt in die Kopenhagener City nehmen werden.

An der S-Bahn-Station sehen wir zwei Mädchen, die fast Enkelinnen von Pinky und ihrer Freundin sein könnten.
Wir haben unterwegs drei Songs von Elisabeth gehört. Solltest du für die ganze Tour Musik benötigen oder die Fahrt einfach vom Sofa aus mitmachen wollen, habe ich dir eine Playlist zusammengestellt, die du hier finden kannst: