Leitartikel

„Fußball-Gott“

Fußball-Gott

Fußball-Gott

Nordschleswig
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Während sich die Fußballstadien wieder füllen, leben die Kirchen des Landes weiterhin mit strengen Corona-Maßnahmen. Das ist ein Skandal, meint Chefredakteur Gwyn Nissen.

Vieles hat sich in den vergangenen Monaten in unserer Gesellschaft normalisiert. Die meisten Corona-Maßnahmen sind inzwischen wieder vom Tisch, und der Alltag lebt sich in Dänemark fast wieder wie vor der Pandemie. Daher ist die Verwunderung groß darüber, dass der Kirche weiterhin mit die schärfsten Corona-Maßnahmen auferlegt werden.

Die Teilnehmerzahl ist bei Gottesdiensten, Konfirmationen, Trauungen, Taufen und Beerdigungen immer noch begrenzt. Vier Quadratmeter müssen jedem Kirchgänger eingeräumt werden, und damit ist schnell „volles Haus“. Die Maßnahmen wären nachvollziehbar, wenn auch anderswo in der Gesellschaft ähnliche Regeln gelten würden, doch genau das ist nicht der Fall.

Pastoren, Kirchgänger und Angehörige blicken neidisch auf die dänischen Fußballstadien, wo sich Tausende von Fans auf engstem Raum jubelnd – oder weinend – in die Arme fallen, laut brüllen oder Schulter an Schulter singen.

Das veranlasste den Pastor Johannes Gjesing aus Gramm im Juli dazu, in einem provokativen und humorvollen Video, Angehörigen vorzuschlagen, bevorstehende Beerdigungen als Fußballspiele durchzuführen. Gjesing trifft mit seiner Video-Botschaft den Nagel auf den Kopf: Die Maßnahme ist zum jetzigen Zeitpunkt schlichtweg eine Farce. Dass noch kein Ende angekündigt worden ist, ist sogar ein Skandal. 

Die Kirche ist von der Regierung entweder vergessen oder ignoriert worden. Beides ist gleich schlimm. Gewiss, es mussten in den vergangenen 18 Monaten viele und schwierige Entscheidungen getroffen werden. Dazu gehört der Gang in die Kirche allerdings nicht.

Dass es nicht mehr Proteste – oder Demonstrationen – vonseiten der Kirche gegeben hat, mag überraschen, spricht aber für die Kirchenvertreter, die versucht haben, durch sachliche Überzeugungsarbeit Lockerungen zu erreichen. Ohne Erfolg.

Die Regierung hat die Kirche schlichtweg auflaufen lassen. Ein Grund dafür ist Kirchenministerin Joy Mogensen (Soz.), die, als schwächstes Glied der Regierung, keine Durchschlagskraft hat. Ihre beiden Ressorts – die Kultur und die Kirche – haben unter der Pandemie besonders gelitten.

Aber der Fußball gehört auch zum Ressort der Ministerin, könnte man argumentieren. Doch die Rückkehr in die Stadien – unter anderem zur EM im Kopenhagen – haben die Fans kaum Mogensen zu verdanken, sondern eher dem Faktum, dass sich unter den Sozialdemokraten mehr Fußball-Fans als Kirchgänger befinden. In der Regierung gibt es anscheinend nur einen Fußball-Gott.

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