Leitartikel

„M 612-2020“

M 612-2020

M 612-2020

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Sonderburg/Sønderborg
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Siegfried Matlok, ehemaliger Chefredakteur des „Nordschleswigers", erinnert in seinem Leitartikel an das Schicksal von elf deutschen Marinesoldaten im 2. Weltkrieg.

Das kommende Jahr bringt viele Feierlichkeiten und Gedenktage – besonders in Verbindung mit dem 100. Jahrestag der damals so umstrittenen Grenzziehung zwischen Deutschen und  Dänen. Es gab in diesem Jahrhundert leider viele Opfer – psychisch und  auch physisch.

Hier geht es um ein nicht abgeschlossenes Kapitel  der deutschen Geschichte, die sich auf nordschleswigschem Boden abgespielt hat – genauer gesagt, in und um Sonderburg.

Das Ende der kriegerischen Handlungen für „Nordwestdeutschland, Holland und Dänemark“ war mit der Kapitulation aller deutschen Streitkräfte für den 5. Mai 1945, 8.00 Uhr, vereinbart worden, doch während sich die Dänen nach der Befreiungsmeldung vom Vorabend via BBC in den Armen lagen, kam es in der Sonderburger Bucht in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai  zu einer schrecklichen Tragödie. Elf junge Marinesoldaten des Minensuchbootes „M 612“ wurden standrechtlich zum Tode verurteilt, erschossen und ihre  Leichen in der Mühlenbucht vor Sonderburg versenkt. 

Sie waren von ihrem Kommandanten zu einer Rettungsaktion in der Ostsee befohlen worden, um deutsche Ost-Flüchtlinge vor den Russen in Sicherheit zu bringen, doch die Soldaten meuterten, entwaffneten den Kommandanten und die anderen Offiziere mit der Begründung, dass der Krieg ja offiziell vorbei sei. 

Sie wurden jedoch von anderen Bootsbesatzungen „entdeckt“ und verhaftet. Die Hinrichtung erfolgte wegen Fahnenflucht  auch vor dem Hintergrund, dass Großadmiral Dönitz als Hitler-Nachfolger  die Fortsetzung der Rettungsaktionen durch die Kriegsmarine befohlen und gefordert hatte, dass gegen „Wehrkraftzersetzung“ mit allen Mitteln durchgegriffen werden sollte. 

Auf dem Sonderburger Friedhof  an der Christianskirche wurden sieben der später gefundenen Leichen begraben, voneinander getrennt im Abschnitt „Deutsche Flüchtlinge“. Jürgen Karwelat aus Berlin und die inzwischen verstorbene Historikerin Inge Adriansen haben den Fall ausführlich beschrieben; Siegfried Lenz hat daraus 1984 sogar eine Novelle mit dem Titel „Ein Kriegsende“ gemacht.

Der Versuch, den Sonderburger Stadtrat zu einer Gedenktafel zu bewegen, scheiterte jedoch 1995 im Ökonomie-Ausschuss unter der Leitung des damaligen sozialdemokratischen Bürgermeisters Ingolf Winzor. Auch angebliche Bedenken „von Deutschen“ wurden als Begründung angeführt.

Die allseits geschätzte Lokalredakteurin unserer Zeitung in Sonderburg, Ruth Nielsen, schrieb damals an dieser Stelle die denkwürdigen Zeilen: „Fehlt den Sonderburger Ökonomieausschuss-Mitgliedern der Mut, Entscheidungen mit möglicher vorhersehbarer Brisanz zu treffen, oder fehlt es ihnen an einem Geschichtsverständnis, aktuelle menschliche Tragödien an historischen Begebenheiten der Regionalgeschichte aufzuzeigen?“ Eine berechtigte Frage, die leider  bis heute unbeantwortet blieb.

Interessant für die deutsch-deutsche Geschichte ist übrigens die Tatsache, dass die DDR – die meisten der Hingerichteten kamen aus Ostdeutschland – die Meuterer als „rote Matrosen“ heldenhaft feierte und nach ihren Namen sogar drei Landungsschiffe der DDR-Marine benannte.

Inzwischen hat sich ja vieles geändert – Deutschland ist wiedervereinigt –, vor allem auch die juristisch-moralische Sicht auf die Deserteure von einst. 

Der Bundesgerichtshof bezeichnete 1995 die Militärjustiz als „Blutjustiz“. Der Deutsche Bundestag hob 2002 die Urteile der Wehrmachtsjustiz gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ auf – nicht aber gegen sogenannte „Kriegsverräter“. Erst 64 Jahre nach Kriegsende hat der Bundestag dann auch die sogenannten „Kriegsverräter" rehabilitiert. Entsprechende Urteile der NS-Justiz wurden aufgehoben. Die „Ehre und Würde einer lange vergessenen Opfergruppe" werde so wiederhergestellt, sagte die damalige Justizministerin Brigitte Zypries 2009.

Nach dieser historischen Revision ist es verständlich und vor allem dankens- und   begrüßenswert, dass Jürgen Karwelat nun in Sonderburg den Stadtrat sozusagen um eine „Wiederaufnahme“ des Verfahrens bittet und darauf hofft, dass 2020 eine Gedenktafel in Erinnerung an die erschossenen Soldaten errichtet werden kann.

Die Verpflichtung dazu liegt natürlich bei der Bundesrepublik Deutschland – in Abstimmung mit den dänischen Behörden. Auf Düppel wird  jährlich an die toten dänischen und deutschen Soldaten von 1864 erinnert. Höchste Zeit, auch jener Opfer zu gedenken, die nach Kriegsende 1945 zu Unrecht hingerichtet wurden.

Dass sich die so hoch respektierte Historikerin Inge Adriansen damals so nachdrücklich für das Gedenken an diese Untat eingesetzt hat, kann eine Korrektur der Entscheidung von 1995 doch 2019 nur erleichtern!  

    

 

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