Leitartikel

„Drahtseil Covid-19“

Drahtseil Covid-19

Drahtseil Covid-19

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Die deutsche Minderheit muss in dieser Zeit „Opfer“ bringen, findet Siegfried Matlok, ehemaliger Chefredakteur des „Nordschleswigers“.

Nach ihren eigenen Worten hat Staatsministerin Mette Frederiksen auf einem Drahtseil einen ersten vorsichtigen Schritt getan zur Wiederöffung des Landes: mit Maßnahmen, die jeden im Königreich treffen, aber – mit Pardon – Nordschleswig noch mehr betreffen als andere Landesteile. 

Der Verzicht auf Großveranstaltungen wie das Roskilde-Festival hat – ohne Vergleich natürlich – auch die großen nationalen Feierlichkeiten zur dänischen Wiedervereinigung auf Düppel mit allem royalen und staatlichen Drum und Dran zu Fall gebracht. Auch die deutsche Minderheit wird „Opfer“ bringen müssen, der geplante Besuch von Bundespräsident Steinmeier im Juli lässt sich unter diesen Umständen verständlicherweise nicht durchführen. 

Jammerschade! Dass Düppel 2020 nun 2021 in gleicher Besetzung nachgeholt werden soll, ist zwar ein Trostpflaster, aber es wird emotional einen anderen Charakter haben.

In Bayern gibt es einen Volkstanz, die Echternachter Springprozession: zwei Schritte vor – und einer zurück. Dies ist auf dem Drahtseil Covid-19 nicht möglich, jedenfalls nicht, ohne neue Absturz-Gefahr für unsere Gesellschaft hervorzurufen. Gewiss, der Virus unterscheidet nicht zwischen Deutschen und Dänen, aber es gibt offenbar doch Unterschiede in der Bekämpfung dieser tückischen Infektionskrankheit. Nach Österreich und Tschechien gehört Dänemark zu den europäischen Ländern,  die als erste eine Lockerung des Corona-bedingten Würgegriffs versuchen. Vorsichtig, wie die Staatsministerin mehrfach betont, denn sie will auch für die Entscheidungen der Regierung nach Ostern keine Gewähr liefern;  weiterhin bleibt Abstand das oberste Gebot für soziale Nähe.

Die Regierungschefin, die sich in der allgemeinen Beurteilung in dieser Krise praktisch als Staatsmännin bewährt hat,  stützt sich bei diesen Maßnahmen auf den Sachverstand ihrer besten Mediziner und Virologen, aber mit der Entscheidung, die Zügel teilweise zu lockern, hat sie eine rote Linie überschritten, die da besagt, dass das Herunterfahren einer Gesellschaft leichter zu bewerkstelligen ist als das Hochfahren eines Landes, das bei aller Isolation ja nicht isoliert ist. Die Zustimmungsrate von 71 Prozent für die Staatsministerin – eine historische Traummarke – ist für die Geschichtsbücher, aber dafür wird sie sich vorläufig nichts kaufen können. Jede ihrer Maßnahmen wird nun auf Herz und Nieren geprüft – nicht nur von Eltern von Kleinkindern, die in die Kindergärten geschickt werden –, weil nun  jede noch so kontrollierte Maßnahme umstritten sein wird – und nie ohne Risiko. Von einer „Herden-Immunität“ als Strategie will sie zwar nichts wissen, aber die Wahrheit ist leider, dass die jetzigen Beschlüsse auch Opfer bringen werden und nicht nur bei den  älteren Mitbürgern mit Vorerkrankungen.  Überschriften mit diesen negativen Folgen sind wahrscheinlich leider auch gar nicht zu vermeiden, wenn man die Volksgesundheit und die Ökonomie als Gleichungen mit ins politische Kalkül ziehen muss.

Und hier beginnt die politische Immunschwäche einer Regierungschefin – einer Minderheitsregierung. Sie hat bisher alle Vollmachten aus dem Folketing erhalten, ja sogar Ermächtigungen, die mit Eingriffen in die Freiheit des Einzelnen oder beim Versammlungsrecht sonst nur in Kriegszeiten gewährt werden. Da haben alle von links und rechts Zustimmung à la „Yes, Minister“ genickt, weil sie unter dem Druck der dramatischen Ereignisse auch keine Alternativen anbieten konnten. Wenn ein sonst hoch anerkannter dänischer Philosoph ihre Politik indirekt sogar mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis von 1933 vergleicht, dann ist das unfair und unhistorisch allemal,  aber die Staatsministerin muss jetzt dringend darauf achten, dass sie auch in der zweiten lebenswichtigen Phase dieser Krise durch Konsens überzeugt.

Die alarmierenden Hintergrund-Informationen über den Verlauf der jüngsten Video-Schaltung zwischen  ihr und den Parteivorsitzenden lässt erahnen, dass sie es offenbar versäumt, nicht nur die Opposition auf diesem noch schwierigeren Weg mitzunehmen. Die Klagen aus der Radikalen Venstre, ja teilweise sogar aus Reihen von Einheitsliste und Sozialistischer Volkspartei, sollten ihr eine Warnung sein, denn wenn etwas schiefgeht, dann werden ihre persönlichen Zuwachsraten ebenso schnell nach unten stürzen, wie sie seit März in die Höhe geschossen sind.

Die Staatsministerin hat natürlich einen enormen Wissensvorsprung angesichts ihres Beraterteams, aber die anderen Parteien nur vor vollendete Tatsachen stellen, das reicht nicht aus für eine Minderheits-Regierung, die gerade jetzt bei den ökonomischen Zukunfts-Fragen einen breiten Rückhalt im Parlament und in der Bevölkerung benötigt.  Wir stehen erst am Anfang eines langen, schmerzvollen Weges, der uns noch viele Opfer abverlangen wird, und Mette Frederiksen wird daran gemessen, wie sie diesen gesellschaftlichen Zeitenwechsel meistert. Sie muss jetzt verhindern, dass der Virus auf das Folketing übergreift. Erst dann wäre sie eine Drahtseil-Künstlerin!

 

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