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„Der Kreml lenkt die Geschichte – die Krimtataren kennen sich damit nur allzu gut aus“

Der Kreml lenkt die Geschichte – die Krimtataren kennen sich damit aus

Der Kreml lenkt die Geschichte

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Brüssel/Apenrade
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Eigentlich wollte Jan Diedrichsen zum Tag der Muttersprache über die Sprache der Krimtataren schreiben. Warum es diese Woche anders kam als geplant und wieso ihm bei der Rede von Russlands Präsidenten angst und bange wird, erklärt er in seiner Kolumne.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Am vergangenen Montag war der Tag der Muttersprache, der von der Unesco initiiert jedes Jahr am 21. Februar begangen wird. Ich hatte meine Kolumne bereits fertig. Ich hatte mir vorgenommen, über die Krimtataren zu berichten. Bereits seit 2014 ein Opfer der aggressiven Politik des Kremls.

Putin hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hat mit seiner Rede an die Nation und die Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine dem Wahnsinn die Krone aufgesetzt. Im Internet gibt es eine Simultan-Übersetzung der Rede. Bereits nach Sekunden bleibt man kopfschüttelnd zurück. Wer noch die Hoffnung hegen sollte, dass dieser Mann zu rationalen Verhandlungen bereit ist, der schaue sich die Rede an, die an alle russischen Haushalte gerichtet war.

Der Kreml lebt in einer Parallelwelt. Die Ukraine plane einen Blitzkrieg (er nutzt das deutsche Wort) gegen den Donbas. Die Ukraine begehe einen Genozid an Russen. Es gebe keine historische Berechtigung für einen eigenständigen ukrainischen Staat. Was, der Putin-Logik folgend, übrigens auch für die baltischen Staaten gilt. Alles nur Produkte Lenins, die eigentlich zur großrussischen Einflusszone gehören. Kombiniert mit Gestik und Mimik des Präsidenten, wird einem angst und bange. Denn wie soll aus dieser Ausgangslage weiterhin etwas zu verhandeln sein? Wir leben in einer anderen Welt, nachdem Putin einen Weg eingeschlagen hat, den sogar die größten Putin-Versteher wohl nur mit (mehr als bisher) peinlichen Verbiegungen weg-schwadroniert bekommen. Ein substanzieller Kommentar von Sahra Wagenknecht oder Marie Krarup stehen meines Wissens noch aus.

Wenn wir ehrlich sind, blicken wir derzeit wie das Kaninchen hypnotisiert vor der Schlange sitzend und wollen uns nicht ausmalen, was nun passieren mag. Es wurde mit Sanktionen geantwortet; Nord Stream 2 wurde gestoppt. Gut so! Aber das wird Putin alles bereits eingepreist haben und wird ihn nicht weiter beeindrucken. Die korrupte Führungsschicht wird kaum den Gürtel enger schnallen müssen. Das Heft des Handelns liegt aufseiten des Kremls.

Unvorstellbar, aber anscheinend nicht unrealistisch sind die Szenarien, wonach Putin auf Kiew marschieren lässt. Falls dies der Plan sein sollte, sind die Aussichten katastrophal. Es scheint auch beim Schreiben komplett wahnsinnig. Zumindest ist eines klar: Es wird nichts mehr in Europa so sein wie zuvor – wir haben Anfang der Woche ein einschneidendes historisches Ereignis in Echtzeit miterleben können.

Zum Schluss kommend, will ich doch noch mit den Krimtataren enden. Sie haben diese Entwicklung nicht gewollt, auch nicht 1944 oder 2014 – sie sind immer die ersten Verlierer gewesen. Es sind die „normalen“ Menschen, die den Größenwahn von Imperialisten wie Putin in ihrer grausamen Konsequenz erfahren müssen.
 

Die krimtatarische Sprache:

Die krimtatarische Sprache ist eine kiptschakische Turksprache, die auf der Krim und in der krimtatarischen Diaspora in Usbekistan, der Türkei, Rumänien und Bulgarien sowie in kleinen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten und Kanada gesprochen wird. Sie ist nicht mit dem eigentlichen Tatarisch zu verwechseln, das in Tatarstan und den angrenzenden Regionen Russlands gesprochen wird; die Sprachen sind zwar verwandt, gehören aber zu zwei verschiedenen Untergruppen der Kiptschak-Sprachen und sind daher nicht untereinander zu verstehen. Sie wurde stark von den nahe gelegenen Oghuz-Dialekten beeinflusst.

Ein langjähriges Verbot der krimtatarischen Sprache nach der Deportation der Krimtataren durch die sowjetische Regierung hat dazu geführt, dass die Sprache derzeit von der Unesco zu den ernsthaft vom Aussterben bedrohten Sprachen (stark gefährdet) gezählt wird. Es wird von rund 500.000 Menschen gesprochen. Die krimtatarische Sprache ist in der Ukraine und in Rumänien als Minderheitensprache anerkannt.

Die rund 500.000 Menschen zählenden Krimtataren sind die ursprüngliche Bevölkerung auf der Krim. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion verfolgen die russischen Besatzungsbehörden eine Politik der Unterdrückung und Einschüchterung, die auch vor Folter und Mord nicht haltmacht: Dutzenden Krimtataren wurde unter fadenscheinigen Vorwürfen der Prozess gemacht. Die genaue Zahl der Verhafteten, der politischen Gefangenen, ist nicht bekannt. Nach 2014 hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) diese Menschenrechtsverletzungen als eine der einzigen Menschenrechtsorganisationen akribisch dokumentiert. Heute redet kaum noch jemand über die Krimtataren.

Die Deportation der gesamten krimtatarischen Bevölkerung nach Zentralasien und Sibirien unter Stalin im Jahr 1944 und die massenhafte Rückkehr, die Repatriierung seit 1991 sind für die Region konstituierende historische Tatsachen. Das aktuelle brutale Vorgehen der russischen Besatzer reicht allein schon als Grund aus, um die Annexion unter keinen Umständen durch die Hintertür als „unvermeidbare historische Tatsache“ zu legitimieren. Aber das sind alles politische Schöngeistereien, während aktuell die rohe Gewalt spricht. Die Krimtataren kennen sich damit nur allzu gut aus.

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