Buchpräsentation

Drogen nahmen Jeannet die Eltern - sie wählte das Leben

„Ich bin heute die, weil ich all das durchgemacht habe“

Drogen nahmen Jeannet die Eltern - sie wählte das Leben

Sonderburg/Sønderborg
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Jeannet Jensen in ihrer Wohnung Foto: Karin Riggelsen

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Jeannet Jensen hat ihre drogenabhängigen Eltern als kleines Mädchen wegen Überdosen verloren. Wie sie über fehlende Fürsorge und die großen Verluste hinwegkam, erzählt sie in einem Gespräch mit dem „Nordschleswiger".

Es sind manchmal Zufälle, die die großen Dinge ins Rollen bringen. Das weiß auch Jeannet Jensen aus Sonderburg. Der heute 38-Jährigen sollte ein Anruf des Analyseinstituts „Danmarks Statistik“ die Augen öffnen. Ein Anruf, der für sie der Anfang einer Bewältigung ihres eigenen Schicksals wurde.

Jeannet Jensen erzählte dem Anrufer, einem Interviewer von Danmarks Statistik, von ihrer Kindheit. Von ihrer Mutter, die sie im jungen Alter von 9 Jahren wegen einer Überdosis verlor. Von ihrem ebenfalls drogensüchtigen Stiefvater, der nur fünf Jahre später starb. Ebenfalls an einer Überdosis. Auch ihr leiblicher Vater und nun auch ihr jüngerer Bruder sind abhängig.

 

Jeannet Jensen mit ihrer Katze Molly, die seit vielen Jahren ihre beste Freundin ist. Foto: Karin Riggelsen

Nach dem langen und ausführlichen Interview gab der Statistik-Mitarbeiter der jungen Frau in Sonderburg einen sehr guten Rat: „Du brauchst Hilfe. Hol sie dir“. Das nahm sich Jeanet Jensen zu Herzen. Mithilfe von Selbsthilfegruppen, der Hilfsorganisation TUBA, Therapeuten und Psychologen ist die heute 38-Jährige weit gekommen.

Drogenkonsum der Mutter schädigte Jeannet

Wegen des Drogenkonsums der Mutter wurde Jeannet Jensen mit einer psychosomatischen Behinderung geboren. Aber sie hat trotz der in ihrer Kindheit jahrelang fehlenden Fürsorge und den vielen schweren Stunden nicht aufgegeben.

„Ich bin heute die, weil ich all das durchgemacht habe“, meint sie. Sie führt ein gutes Leben mit eigenem Zuhause, Flex-Job, Freunden und Bekannten, die ihr viel bedeuten.

Jeannet Jensen mit ihrem Buch „Et mælkebøttebarn giver aldrig op". Foto: Karin Riggelsen

Sie will anderen mit ähnlichen Problemen helfen. Deshalb hat sie ein Buch geschrieben. In „Et mælkebøttebarn giver aldrig op“ erzählt Jeannet Jensen ehrlich und offen, was sie einst durchmachte. Was schmerzte und worüber sie sich freuen konnte. Sie beschreibt einen langen Weg voller Aufs und Abs.

Vom stillen Kind zur offenen Person

„Als Kind war ich eher still. Ich musste immer aufpassen, was ich sagte. Ich habe damals gelernt, dass Lügen besser sind als die Wahrheit“, stellt Jeannet Jensen im Vorwort ihres im vergangenen Jahr veröffentlichten Buchs fest. Heute sieht sie das anders – und  will für andere ein Modell sein. Will zeigen, dass es trotz schweren Verhältnissen doch gut enden kann. Wovon viele etwas lernen könnten: Jeannet Jensen hat ihren Eltern – für sie war ihr Stiefvater ihr Vater – vergeben.

„Trotz eines schweren Starts im Leben bin ich dankbar, dass ich das meiste geschafft habe. Und den Rest schaffe ich auch“, stellt sie fest. Ihr Buch „Et mælkebøttebarn giver aldrig op“ ist in seiner zweiten Auflage erschienen.

Trotz eines schweren Starts im Leben bin ich dankbar, dass ich das meiste geschafft habe. Und den Rest schaffe ich auch.

Jeannet Jensen, Sonderburg

Der Ausdruck Löwenzahn-Kinder ist die Bezeichnung für Kinder, die in einem belasteten und risikobehafteten Milieu aufgewachsen sind. Die Blume Löwenzahn kann selbst unter den schwersten Bedingungen wachsen und gedeihen. Trotz schweren Verhältnissen dringen diese Pflanzen sogar durch Asphalt.

Als Kind hast du es verdecken oder verstecken wollen. Fiel es dir nicht schwer, über deine Kindheit zu schreiben?

„Ich war 18 oder 19 Jahre alt, als ich es ’Danmarks Statistik’ erzählt habe. Ich kann gut über schwere Dinge sprechen. Aber schreiben .... Ich schrieb wie ein Kalender, meinte auch Allan Olsen. Man konnte mich nicht spüren. Deshalb forderte Olsen mich auf, einen Journalisten um Hilfe zu bitten.“ Der Sonderburger Journalist Henrik Rath übernahm diese Aufgabe.

Allan Olsen (62) ist ein dänischer Schauspieler – u.a. „Mig og Charlie“, „Den kroniske uskyld“ – der einst abhängig von Alkohol war. Er ist seit 1993 nüchtern. Jeannet Jensen hat er bei einem Besuch von TUBA („Terapi og rådgivning for Unge, der er Børn af Alkohol- og stofmisbrugere“) in Jütland kennengelernt.

Damit der Lesende spürt, was in dir passierte?

„Das ist ja die Essenz. Ich will den Leuten nicht leidtun. Überhaupt nicht. Es war eine schlimme Kindheit, aber so schlimm war sie auch wieder nicht. Eine Freundin hatte es noch schwerer - sie wurde von ihrem Vater missbraucht. Es gab keine Gewalt in meiner Familie, aber wir wurden vernachlässigt. Mir fiel es damals schwer, anderen zu vertrauen.“

Woran erinnerst du vor allem, wenn du an deine Kindheit denkst?

„Ich musste selbst die Verantwortung übernehmen. Fragen wie: Was essen wir heute? Wie kommt man in die Schule? Ich konnte ja in meinem Kontaktbuch sehen, dass ich oft abwesend war. Erst krank an dem einen Tag und auch am nächsten. Ich konnte ja nicht schreiben, dass ich mich um meinen kleinen Bruder kümmern musste. Ich war nicht krank, aber ich konnte dem Lehrer nicht die Wahrheit schreiben. Einige wussten damals schon, was bei uns passierte. Aber sie wussten nicht, wann sie eingreifen sollten. Familie und auch Nachbarn haben Alarm geschlagen, aber die Kommune hat damals Scheuklappen vor den Augen gehabt. Ich bin nicht sauer oder enttäuscht. Wenn sie damals etwas getan hätten, dann wäre ich nicht die Person, die ich heute bin. Es hat mir auch Stärke gegeben.“

Das war bestimmt nicht einfach?

„Meine Mutter war seit ihrer Schwangerschaft mit mir ja von Drogen beeinflusst. Ich war einen Monat alt, als ich mit ihr ins Gefängnis kam. Da hätte die Kommune schon sagen müssen, jetzt müssen wir untersuchen, ob diese Familie Hilfe braucht. Hätten sie es untersucht, dann hätten sie herausgefunden, dass die Großeltern nicht da kamen. Die waren keine große Hilfe. Meine Mutter war drogenabhängig.“ 

Wie denkst du heute über deine Mutter?

„Ich habe mich gefragt, warum ich geboren wurde, wenn sie nicht einmal ihr eigenes Leben meistern konnte. Aber ich habe ihr verziehen. Jetzt ist das okay. Ich habe über der einen Tür zur Küche einen kleinen Altar mit einem Bild von uns beiden. Dort zünde ich jeden Nachmittag um 17 Uhr eine Kerze an. Dort stehen auch einige Vogel-Figuren ihres Grabsteins, der nicht mehr bei der Christianskirche steht.“

Wie war es in deinen jungen Jahren?

„Wir sind immer viel umgezogen. Immer in der Stadtmitte von Sonderburg, in Düppel oder Ulkebüll. Man hat immer wieder neue Menschen kennenlernen müssen. Man war stets vorsichtig, und man wollte sich nicht richtig anderen anschließen. Als meine Mutter starb, wohnten wir in Düppel. Damals war ich viel mit der Tochter des Nachbarn zusammen. Sie hat mein Buch gekauft und sie kommt ins Buchcafé. Das ist für mich eine sehr große Sache.“

Ist es für dich wichtig, viele Bücher zu verkaufen?

„Mein Coach in Randers fragte mich vor einigen Tagen, ob ich nicht unglaublich stolz bin, so viele Bücher verkauft zu haben. Nein, das bin ich nicht. Ich bin stolz, dass so viele das Buch erworben haben, weil sie mich kennenlernen und meine Geschichte hören wollen. Die, die zum Büchercafé im Sønderborghus kommen, wollen mir zuhören. Das ist mein Aha-Erlebnis. Ich habe meinem jüngeren Bruder, der drogenabhängig ist, dieses Lied gespielt. Er konnte es nicht vertragen“, erklärt die 38-Jährige.

Sie will nicht mit ihrem Bruder reden, wenn er unter dem Einfluss von Drogen steht. Sie vertröstet ihn dann auf einen anderen Tag. Sie vergleicht ihn mit dem Mörder Peter Lundin, der sich einst nur die eine Gesichtshälfte Schwarz anmalte. „Auf der einen Seite ist er die eigene Person, auf der anderen Seite eine andere. Das habe ich gelernt“, wie Jeannet Jensen feststellt. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder hat im Gegensatz zu der Autorin den gleichen Weg wie seine Eltern eingeschlagen: „Das ist schon ziemlich hart.“

Glaubst du nicht, dass andere in einer ähnlichen Situation den anderen gegenüber eine Art Fassade bewahren wollen?

„Das weiß ich. Ich war ja fünf oder sechs Jahre als Freiwillige bei den Sommerkursen von TUBA dabei. Mit einem Mädchen habe ich mich gut unterhalten und zu Weihnachten traf ich mich mit ihr. Da hat sie mir ihr Herz geöffnet und erzählt. Das war mega groß.“

Jeannet Jensen hat im vergangenen Jahr auch bei der Aufnahme von Micky Skeels „Tonede ruder“ für Youtube mitgewirkt. Es ist ein Lied für alle Angehörigen, die sich neben einer Person befinden, die von etwas abhängig ist – ob Alkohol, Drogen oder die Spielsucht.

Wie war es, ein Buch zu schreiben?

„Das war einfach. Ich hatte vorab einen Autorenkursus belegt. Vier Lektionen im Multikulturhaus, und das brachte wirklich viel. Ich habe auch die Vorträge mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Lisbeth Zornig Andersen erlebt. Wie konnte ich Akteneinsicht in meine Sachen erhalten? Und ich habe darüber nachgedacht, wer mich im jungen Alter von 0 bis 10 Jahren kannte. Ich habe meine und die Tagespflegemutter meines jüngeren Bruders interviewt und mit früheren Nachbarn und Lehrern gesprochen. Ich habe auch den Dannevirkevej aufgesucht, wo ich neben dem Spielplatz auf das Haus schaute, wo meine Mutter starb.“

Das war nicht einfach, aber Berührungsangst hat Jeannet Jensen nicht.

Was hat das Buch bewirkt?

„Ich bin eigentlich einigen Bekannten viel nähergekommen. Sie kennen mich seit der Buchpräsentation noch besser als vor 15 oder 20 Jahren.“

Was fragen dich die Zuhörenden bei den Veranstaltungen?

„Die fragen immer, wie ich so weit gekommen bin, und welche Werkzeuge ich benutzt habe. Mit TUBA hat alles begonnen, aber sie haben mir nicht am meisten geholfen. Das war das Missbrauchzentrum, das mir die größte Hilfe bot. Aber nur die wenigsten Kommunen helfen den Familienangehörigen. Das Missbrauchzentrum, ein persönlicher Berater und der Psychologe. Ich habe gerade die monatlichen Besuche beim Psychologen wieder eingeleitet. Auch mein Coach bringt mir sehr viel. Wir sind verschieden – aber gerade das macht uns stark. Er ist ein Freund, mit dem ich über alte Sachen reden kann. Er spornt mich an. Man muss nicht nur das ganz Vernünftige tun. Davon hat er mich überzeugt.“

Für dich ging es sehr gut. Ist es, weil du einen starken Willen hast?

„Es gibt immer Steine und Berge. Den Leuten will ich nicht leidtun. Es ist schlimm, dass ich meine Mutter sehr früh verloren habe, und sie fehlt mir. Aber ich weiß, dass sie mich im Auge behält – als das Buch veröffentlicht wurde, und wenn ich Vorträge halte.“

Was ist dein bester Rat für andere?

„Sag es immer laut. Wenn ich ein wenig von mir selbst gebe, gibt es immer wieder welche von meiner geschlossenen digitalen Gruppe, die sich öffnen. Ich kenne sie nicht alle in diesem Forum. Man erfährt plötzlich, was TUBA oder das Missbrauchzentrum für einen tun können. Einen Dialog einleiten – das ist wichtig.“ Jeannet hat 148 Mitglieder in ihrer geschlossenen Gruppe. 

Wer Jeannet Jensen kennen lernen möchte, der sollte am Sonnabend, 28. Januar, ab 15 Uhr ins „Sønderborghus“ zu Brecklings Buchcafé kommen. Karten können auf Tel. 5240 6616 oder E-Mail acharling@gmail.com, reserviert werden. Der Eintritt kostet 145 Kronen. Beim Buchcafé wird Jeannet von der Stadtratspolitikerin Vivi Brit Nielsen interviewt.

Der Altar für ihre Mutter hängt über der Tür zur Küche. Dort hat sie einen lieben Gruß, ein Foto, eine Kerze und zwei kleine Vögel vom Grabstein ihrer Mutter platziert. Jeden Tag um 17 Uhr zündet sie die Kerze an. Foto: Karin Riggelsen
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