Leitartikel

„Hinsehen“

Hinsehen

Hinsehen

Apenrade/Aabenraa
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Panikmache ist nicht angebracht. Doch die Augen zu verschließen, hilft auch nicht: Der Coronavirus könnte gerade für die Menschen, die schon jetzt im Ausnahmezustand leben, zum Verhängnis werden. Die Hilfsorganisationen schlagen Alarm. Zeit, hinzusehen, meint Cornelius von Tiedemann.

Der gewohnte Alltag ist futsch. Die Corona-Krise, wie manche die Umstände schon nennen, ist da. Wie im Katastrophenfilm. Doch es besteht berechtigte Hoffnung auf ein einigermaßen gutes Ende.

Gar nicht weit entfernt von uns sieht das anders aus. Macht sich Verzweiflung breit. Hilfsorganisationen, Helfer aus Dänemark und Deutschland, die in Europa, im Nahen Osten, in Afrika, in Asien, weltweit im Einsatz sind, warnen vor einem Massensterben, sollte sich der Coronavirus in Flüchtlingslagern ausbreiten.

Mit der Politik, Flüchtlinge vor Europa aufzuhalten und Länder, die an Europa grenzen, dafür zu bezahlen, Menschen zu internieren, die vor Krieg, Terror, Gewalt flüchten oder die einfach nur vor Aussichtslosigkeit fliehen, hat sich Europa, haben wir uns, Ruhe gekauft. Ruhe vor dem, was draußen in der Welt los ist. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Ob dies politisch und moralisch richtig oder falsch war, beantworten Politiker unterschiedlich. Der Trend geht dahin, das Thema zu vereinfachen oder zu umgehen. Fakt ist, dass die Maßnahmen dazu beigetragen haben, dass in jüngerer Zeit deutlich weniger Menschen nach Europa hineingekommen sind. Vielleicht haben sie auch dazu beigetragen, dass sich weniger Menschen auf den Weg nach Europa gemacht haben.

Doch es fliehen weiter Abertausende. Häufig noch bevor sie nach Europa kommen, werden diese Menschen abgefangen, durch Grenzschützer der Anrainerstaaten, der EU-Mitgliedsstaaten und im Auftrag von oder direkt durch die EU, also uns, und unsere Agentur Frontex. Egal, ob sie legitime Fluchtgründe haben oder solche, die einer Prüfung nicht standhalten würden.

Es geht den Europäern, es geht uns, inzwischen weniger darum, Asylverfahren zu beschleunigen und effizienter zu unterscheiden zwischen solchen, die ein Recht auf Hilfe haben und solchen, die als nicht hilfsbedürftig abgeschoben werden sollen.

Es geht uns mehr darum, den Menschen komplett die Chance zu verwehren, in der reichsten Gemeinschaft der Welt um Asyl zu bitten. Selbst Menschen, die es bereits in die EU geschafft haben, werden inzwischen ungeprüft zurückgeschickt oder -transportiert.   

Einen gemeinsamen, solidarischen Weg, anders mit der Situation umzugehen, gibt es derzeit nicht – und er steht, auch dank dänischer politischer Bestrebungen, vorerst nicht ins Haus. Die Mehrheit der Menschen in Dänemark, in Europa, will aus unterschiedlichen Gründen ganz offenbar einfach keine Menschen in Not mehr aufnehmen.

Und jetzt greift der Coronavirus um sich. Und er wird früher oder später auch die teils verheerenden Lager an den europäischen Außengrenzen und in den Regionen rund um Europa, zum Beispiel in den Maghreb-Staaten, erreichen.

Schon jetzt hat er dafür gesorgt, dass zahlreiche Hilfsprojekte eingestellt werden. Und sogar Rückführungen aus den Lagern in die Herkunftsländer werden eingestellt. Menschen, für die keine Hoffnung besteht, nach Europa zu gelangen, und die das bereits wissen, sitzen nun in Lagern fest, in denen die hygienischen Zustände mitunter katastrophal sind.

Hoffen wir, dass der Virus vor diesen Lagern gestoppt wird. Dass es keine Menschenleben, kein „Massensterben“ erfordert, uns aufzuzeigen, dass wir als Teil der Weltgemeinschaft in der Verantwortung sind, endlich eine solidarische und nachhaltige europäische Flucht- und Migrationspolitik zu schaffen, die nicht auf dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ beruht. Egal, wo wir politisch stehen und wie sehr wir gerade um uns selbst besorgt sind: Wir dürfen hier jetzt nicht wegsehen.

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