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„Zwischen Kiew und Budapest: Die ungarische Minderheit zwischen allen Stühlen“

Die ungarische Minderheit zwischen allen Stühlen

Die ungarische Minderheit zwischen allen Stühlen

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kiew/Budapest
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Eine Minderheit Europas ist einmal mehr zum Spielball autokratischer Machtinteressen geworden. Jan Diedrichsen beschreibt, wie die ungarische Minderheit in der Ukraine vom ungarischen Autokraten Viktor Orbán instrumentalisiert wird, der ihre wirklichen Interessen und jetzigen Bedürfnisse überhaupt nicht sieht.

Die Minderheiten kennen die Gefahr: Wenn sich Nationalstaaten in Auseinandersetzungen untereinander auf „ihre“ Minderheiten berufen, bedeutet dies nie etwas Gutes. In aufgeladenen bilateralen Beziehungen werden Minderheiten gerne als politische Speerspitzen der Auseinandersetzung genutzt. 

Wer sich schamlos der Minderheitenfrage für machtpolitische, vor allem innenpolitisch motivierte Überlegungen bedient, ist Viktor Orbán in Ungarn. Immer wieder instrumentalisiert er die Minderheitenfrage. Dabei ist es durchaus legitim, die ungarischen Minderheiten im Ausland zu unterstützen. Doch statt sie politisch zu stärken, schadet der Regierungschef den ungarischen Minderheiten sowie der europäischen Minderheitenpolitik im Allgemeinen durch seine nationalistischen und populistischen Einlassungen. 

Die Tonlage zwischen Budapest und Kiew ist derweil schrill. Es ist kein Geheimnis, dass der Autokrat in Budapest und seine Fidesz-Regierung mehr oder weniger offen die EU-Politik gegen Russland unterlaufen. Doch Orbáns Ukraine-Politik ist wie so vieles in Budapest nicht von Überzeugung getrieben, sondern Populismus und Eigeninteressen geschuldet. 

Mit seinen ambivalenten Äußerungen über die Autonomie der ungarischen Minderheit in der Ukraine oder die Staatlichkeit und Souveränität der Ukraine als Ganzes zielt Orbán vor allem auf die rechtsextremen Wählerinnen und Wähler in Ungarn. Diese träumen noch immer von einem „Großungarn“ in seinen Grenzen von vor 1918.

Ungarns Abhängigkeit von Russland

Außenpolitisch sind die engen Beziehungen Ungarns zu Russland wichtiger als ein gutes Verhältnis zur Ukraine. Der Grund dafür ist einfach: Ungarn ist von russischen Energielieferungen abhängig. Mit anderen Worten: Jede anti-ukrainische Äußerung aus Budapest ist auch eine indirekte Loyalitätserklärung an Moskau. Dazu gehören auch die wiederholten Unterstellungen, der Westen sei schuld am Krieg Russlands gegen die Ukraine. 

Kürzlich erklärte der Regierungschef, Ungarn sei an einem „souveränen Staat zwischen Russland und Mitteleuropa interessiert, den wir der Einfachheit halber jetzt Ukraine nennen“. Kurze Zeit später wurde er bei einem Spiel der ungarischen Fußballmannschaft fotografiert, als er einen Schal mit dem Bild von „Groß-Ungarn“ trug – dem Gebiet, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu Ungarn gehörte und Teile der heutigen Ukraine einschloss.

Eine Region, etliche Zugehörigkeiten

Die ethnischen Ungarn, etwa 150.000 Menschen, machen 0,3 Prozent der Bevölkerung der Ukraine aus. Sie leben hauptsächlich in der Region Zakarpattia Oblast – Kárpátalja auf Ungarisch, auch bekannt als Transkarpatien oder Karpatenukraine – im südwestlichen Teil des Landes an der Grenze zu Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Polen.

Diese Region ist multiethnisch und hat eine bemerkenswert turbulente Geschichte hinter sich. Allein im 20. Jahrhundert war die Region Teil von Ungarn, der Tschechoslowakei, Rumänien, der Sowjetunion und der Ukraine.

Die ungarische Minderheit in der Ukraine haben weder separatistische Bewegungen gegründet, noch haben sie sich für eine Wiedervereinigung mit Ungarn eingesetzt. Ihr politisches Ziel ist eine Autonomielösung innerhalb der Ukraine. Der Ungarische Kulturverein (Kárpátaljai Magyar Kulturális Szövetség – KMKSZ) hat eine Erklärung abgegeben, in der er die russische Aggression verurteilt und die territoriale Integrität der Ukraine uneingeschränkt unterstützt. Eine Haltung, die auch im Rahmen der FUEN von der ungarischen Minderheit unterstrichen wurde. 

Mangelnder Minderheitenschutz 

Aktuell wird in der Ukraine alles der Verteidigung des Landes und dem Überlebenskampf untergeordnet. Natürlich müssen dennoch Fehlentwicklungen in der Minderheiten- und Sprachenpolitik benannt werden. Vor allem das Sprachengesetz der Ukraine steht seit Jahren in der Kritik. Dieses wird vor allem wegen seiner Einschränkungen des Gebrauchs von Regionalsprachen in Behörden, Universitäten und im öffentlichen Raum gescholten. Das Gesetz möchte den Einfluss der russischen Sprache zurückdrängen und das Ukrainische stärken, trifft dabei aber auch die anderen Minderheitensprachen. Sprachenvielfalt und Minderheitenschutz müssen in einer komplett von den russischen Besatzern befreiten Ukraine europäische Standards erfüllen.

Kyjiw streitet ab, dass das Gesetz eine Verschlechterung darstellt. Da man einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellt, gehört nach den Kopenhagener Kriterien auch ein Minderheitenschutz zu den zu erfüllenden Aufnahmekriterien. Leider verweigert sich die EU-Kommission bekanntlich, in Zusammenarbeit mit den Minderheiten in Europa Mindeststandards zu definieren, die festlegen würden, was die Ukraine (und andere EU-Mitglieder) für ihre Minderheiten als Minimum vorhalten müssen.

Orbán und seine Regierung haben der ungarischen Minderheit in der Ukraine mehrfach versichert, dass man sie im Ernstfall unterstützen und verteidigen würde. Der beste Weg, die ungarische Minderheit zu schützen, wäre die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen den Aggressor Russland. Doch leider ist die Politik Ungarns durch eine Instrumentalisierung der „nationalen Frage“ und ein Anbiedern an den Kriegspräsidenten im Kreml dominiert.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

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