Diese Woche in Kopenhagen

„Wir können uns nur auf uns selbst verlassen“

„Wir können uns nur auf uns selbst verlassen“

„Wir können uns nur auf uns selbst verlassen“

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
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Menschenrechte und Demokratie werden in der Türkei, dem NATO-Mitglied, mit Füßen getreten. Wie die aktuelle Entwicklung belegt, schreckt man auch vor einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht zurück, meint der Leiter des Kopenhagener Sekretariats der deutschen Minderheit in Dänemark, Jan Diedrichsen.

Die aus Sulaymaniah in irakisch-Kurdistan stammende kurdisch-dänische Romanautorin und Aktivisten Sara Omar hat am Freitag in der Tageszeitung „Politiken“ einen aufwühlenden Beitrag zur Situation der Kurden in Rojava (Nord- und Ostsyrien) verfasst. Die Kurden haben jahrelang als Bodentruppen gegen den so genannten Islamischen Staat (ISIS) gekämpft. Als treue Verbündete der Allianz, unter Einschluss Dänemarks, gegen die Fanatiker. „Haben diese Männer und Frauen umsonst ihr Leben gelassen?“, fragt Sara Omar mit Blick auf die dabei ums Leben gekommenen Kämpfer.

Nach der Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, die US-Streitkräfte aus Rojava zurückzuziehen, hat der türkische Präsident Erdogan seine von langer Hand vorbereitete Offensive gestartet. Ziel ist es, die Selbstverwaltung der Kurden in Syrien zu zerstören.

Es gäbe viel über die Geschichte und die Politik der Kurden zu erklären, über das weltweit größte Volk, ohne einen eigenen Staat. Die Weltpolitik spielt sich derzeit wieder einmal auf dem Rücken dieses unglücklichen und ein ums andere Mal verratenen Volkes ab. Die Kurden werden sich wieder daran erinnern müssen, was zu einem geflügelten Wort in Kurdistan geworden ist: „Wir können uns nur auf uns selbst verlassen“.  

130.000 Menschen auf der Flucht, Leid und Elend, zahlreiche getötete Zivilisten. Die türkische Invasion – begleitet von einer radikal-islamischen Soldateska im Sold von Erdogan – sorgt für Schrecken und Terror. Die ersten Hinrichtungsvideos sind im Internet aufgetaucht. Flüchtlinskonvois wurden von der türkischen Luftwaffe bombardiert. Vieles erinnert an die Angriffe der Türken auf Afrin im Jahr 2018, wo 300.000 Menschen fliehen mussten oder getötet wurden. Mehrere tausende Kurden wurden verschleppt – ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt.

„Das wird ein Ethnozid“, sagt Kamal Sido, der Nahost-Experte der Menschenrechtsorganisation „Gesellschaft für bedrohte Völker“ der Wochenzeitung „Die Zeit“, und meint damit die kulturelle Auslöschung einer ethnischen Gruppe. Nur Kurden, die sich assimilieren, werden bleiben können, sagt er. In Afrin lebten einst fast ausschließlich Kurden. Jetzt machen sie nur noch etwa ein Drittel der Bevölkerung aus. „Die Alten, die ohnehin bald sterben.“ Östlich des Euphrats, so fürchtet er, könnte alles nun noch schlimmer werden.

Es werden sich einige an den denkwürdigen Besuch des türkischen Präsidenten Erdogan in Kopenhagen erinnern. Das liegt bereits 14 Jahre zurück, und damals hieß der dänische Regierungschef Anders Fogh Rasmussen. Der Besuch von Erdogan endete im Eklat. Er reiste übereilt aus Kopenhagen ab. Der Grund: Er drängte die dänische Regierung dazu, bei der Pressekonferenz den akkreditierten Vertreter von ROJ TV, einem kurdischen Fernsehsender, auszuschließen. Fogh weigerte sich, und Erdogan reiste daraufhin wutentbrannt ab und versuchte anschließend, Anders Fogh Rasmussen als NATO-Generalsekretär zu verhindern.

Menschenrechte und Demokratie werden in der Türkei, dem NATO-Mitglied, mit Füßen getreten. Wie die aktuelle Entwicklung belegt, schreckt man auch vor einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht zurück. Was den Kurden und der Zivilbevölkerung in Rojava angetan wird, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Entrüstung ist groß, auch in Dänemark. Doch von verbaler Entrüstung zu konkreten, die Türkei empfindlich treffenden Maßnahmen, ist es ein weiter Weg. Die zentrale Frage ist doch: Wie weit sind wir bereit zu gehen, um das Leid zu lindern und gegen die Ungerechtigkeit vorzugehen.

Erdogan hat bereits damit gedroht, die Grenzen dann eben zu öffnen, wenn die Kritik aus Europa nicht abreißt. Mehrere Millionen Flüchtlinge befinden sich nach Schätzungen in der Türkei. Wie würden wir reagieren, wie würde das Folketing in Kopenhagen votieren, wenn die Frage danach anstünde, das Elend der Kurden und den Angriffskrieg der Türken zu stoppen, um damit jedoch, möglicherweise als direkte Konsequenz, einen Anstieg der Flüchtlingsbewegungen nach Europa zu riskieren? Die Kurden kennen die Antwort: „Wir können uns nur auf uns selbst verlassen!“

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