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„Autonomie in Europa: Vom Problem zum Teil der Lösung“

Autonomie in Europa: Vom Problem zum Teil der Lösung

Autonomie in Europa: Vom Problem zum Teil der Lösung

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Apenrade/Aabenraa
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Jan Diedrichsen plädiert in seiner Kolumne dafür, auf höchster politischer Ebene ernsthaft über die Möglichkeit von Autonomiemodellen als Konfliktlösung nachzudenken. Wenn die Zukunft Europas gelingen solle, sieht er Bedarf für eine künftige EU-Architektur, die Autonomie und ein „Europa der Regionen“ mit einschließt.

Im Norden des Kosovo wurden in den vergangenen Wochen schlimme Erinnerungen wach, als fanatische serbische Demonstrierende Nato-Schutztruppen angriffen und zum Teil schwer verletzten. Was wird mit den Menschen in Arzach geschehen, wenn sich Aserbaidschan voraussichtlich die armenisch besiedelte Region einverleiben wird? Diese beiden aktuellen Beispiele verdeutlichen, wie dringend geboten es ist, auf höchster politischer Ebene ernsthaft über die Möglichkeit von Autonomiemodellen als Konfliktlösung nachzudenken.

Ich würde sogar einen Schritt weiter gehen und postulieren, dass eine gelingende Zukunft Europas mit davon abhängt, ob Autonomie und ein „Europa der Regionen“ – über allgemeine Erklärungen hinaus – Teil der künftigen Architektur der EU wird. Die Regionen in Europa fühlen sich nicht in allen Fällen von den Regierungen in den Hauptstädten vertreten.

Die Nationalstaaten hingegen pochen auf ihre Souveränität. Als wäre diese etwas, an das man sich in verzweifelt-komplexen Zeiten klammern könne. Souveränität ist jedoch vielmehr etwas, was ausgeübt wird. Dafür sind die einzelnen Staaten in Zeiten der multiplen Krisen nicht mehr eigenständig in der Lage. Nur in Europa können die Zukunftsfragen im Verbund gelöst werden. Doch der EU fehlt dafür ausreichende demokratische Legitimität sowie die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger. Es ist meine These, dass diese Akzeptanz nur über die Einbindung der Regionen Europas wachsen wird.

Für viele Staaten ist Autonomie jedoch „Teufelszeug“, sozusagen der erste Schritt in eine Sezession. Hier prallen zwei Grundsätze des Völkerrechtes fundamental aufeinander: Der Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Recht auf territoriale Unversehrtheit ist ein immer wieder auftretendes Spannungsfeld in der internationalen Politik und dem Völkerrecht. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker besagt, dass Völker das Recht haben, frei über ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Es ist in der Charta der Vereinten Nationen verankert und wird als grundlegendes Menschenrecht angesehen.

Auf der anderen Seite steht das Recht auf territoriale Unversehrtheit, das die Souveränität und Integrität von Staaten schützt. Es besagt, dass die Grenzen eines Staates nicht durch Gewalt oder unautorisierte Handlungen verändert werden dürfen. Dieses Prinzip soll die Stabilität und den Frieden zwischen Staaten fördern und verhindern, dass territoriale Ansprüche gewaltsam durchgesetzt werden.

Das Selbstbestimmungsrecht kann dazu führen, dass ethnische, religiöse oder kulturelle Minderheiten den Wunsch nach Selbstbestimmung und folgend Unabhängigkeit äußern, was wiederum die territoriale Unversehrtheit eines bestehenden Staates infrage stellt.

Ein Beispiel für diesen Konflikt ist der Fall von Katalonien. Ein Teil der Bevölkerung in Katalonien hat den Wunsch nach Unabhängigkeit geäußert, um ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Dies steht jedoch im Konflikt mit der territorialen Unversehrtheit Spaniens, das die Einheit des Landes bewahren will. Ähnliches gilt für Schottland und den Wunsch vieler Menschen dort, sich aus dem Vereinigten Königreich zu verabschieden.

Es gibt viele Stimmen, die sich strikt gegen neue Staatsgründungen in Europa aussprechen. Aber es stellt sich die Frage, warum man den Bürgerinnen und Bürgern in Katalonien und Schottland das Recht auf Eigenstaatlichkeit verweigern sollte, wenn sie nicht weniger als Dänemark das Potenzial und die geschichtlichen sowie sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen mitbringen, um eine eigenständige Nation zu werden. Doch gleichermaßen sind die Bedenken nachvollziehbar, dass Europa nicht zu einem Flickenteppich der kleinen Nationalstaaten werden darf.

Und was könnte eine Lösung sein? Territoriale Autonomie ist eine Möglichkeit der Konfliktlösung, die darauf abzielt, den verschiedenen ethnischen, religiösen oder kulturellen Gruppen innerhalb eines Staates einen gewissen Grad an Selbstverwaltung und Entscheidungsbefugnis über ihre Angelegenheiten zu gewähren. Das Prinzip der Autonomie und des Föderalismus als Beteiligung auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene muss die Zukunft sein. Dieses würde jedoch bedingen, dass Europa sich neu erfindet. Die Staaten müssen sowohl Macht und Einfluss nach Brüssel abgeben (was sie de facto täglich tun), aber gleichzeitig eine weitere Ebene signifikant stärken – die Regionen.

Thomas Benedikter forscht seit Jahren intensiv über Autonomiemodelle weltweit und ist Autor eines Standardwerkes zum Thema. Auf VOICES schreibt er eine Serie (Achtung Eigenwerbung), in der er kenntnisreich verschiedene Autonomiemodelle vorstellt. Zu empfehlen ist auch ein Podcast, den wir mit ihm gemacht haben. Thomas Benedikter stammt aus Südtirol. In Südtirol zeigt sich bei allen Problemen im Detail an einem funktionierenden Praxisbeispiel, wie viel Potenzial in dem Konzept der territorialen Autonomie steckt.

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