Leitartikel

„Freude-Schmerz-Freude “

Freude-Schmerz-Freude

Freude-Schmerz-Freude

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Geschichte kennt keinen Schlussstrich, findet Siegfried Matlok, ehemaliger Chefredakteur des „Nordschleswigers“ und erinnert damit an die Ereignisse vor 75 Jahren.

Nur drei Prozent der Bevölkerung hat die Ereignisse vor 75 Jahren selbst erlebt, dennoch werden die Dänen heute den 75. Jahrestag der Befreiung Dänemarks feiern – wenn auch wegen Corona mit ungewohnten Mitteln, zum Beispiel via Internet im Frøslev-Lager. Dass auch junge Dänen dieses Tages gedenken, ist erfreulich.  Geschichte kennt keinen Schlussstrich, und gerade wir Deutsche verstehen ihn auch ganz besonders als Auftrag für kommende Generationen.

Es wird heute aber nicht jeder in Dänemark jubeln, denn während die Dänen ihre Freiheit gewannen, büßten damals Tausende deutscher Nordschleswiger ihre Freiheit ein. „Die erwartete Stunde ist nun gekommen. Für unsere dänischen Nachbarn ist es eine Stunde der Freude. Für uns eine Stunde des tiefen Schmerzens“, schrieb die „Nordschleswigsche Zeitung“ am 5. Mai, nachdem sie noch 24 Stunden zuvor nach dem Tod Hitlers in der von Dänen besonders verhassten Rubrik „Unsere Stimme“ notiert hatte: „Der Führer lebt, weil er für seinen Gedanken starb. In den Heimen der deutschen Menschen Nordschleswigs ist tiefste Trauer eingekehrt.“ Die deutschen Nordschleswiger ahnten, was sie erwarten würde. Diese Ungewissheit, gleichzeitig das Bangen der Mütter und Frauen um den möglicherweise im Krieg gefallenen Mann oder Sohn, ja die Angst um die nackte Existenz bestimmten die Gefühle in der Minderheit. „Die dänische Erlösung über die gewonnene Sicherheit gegenüber der Kriegsfurie wird in unseren Reihen geteilt“, hieß es zwar nun verständnisvoll, aber dies war leider eine zu späte Erkenntnis.

Zu glauben, dass die Minderheit, die nach der aus ihrer Sicht so ungerechten Volksabstimmung keine Loyalität zum Staat empfand und deshalb erst national, dann nationalistisch gesinnt schließlich die nationalsozialistische Ideologie übernahm, einen selbständigen Weg im dänischen Staat hätte gehen können, ist naiv. Die Minderheit machte sich nach der Besatzung des Landes durch Übergriffe, ja durch Verbrechen an dänischen Landsleuten mit-verantwortlich. Auch die damalige deutsche Zeitung trug zu diesem verhängnisvollen Kurs bei. Dafür gibt es keine Entschuldigung, und deshalb war auch die Rechtsabrechnung – so ungerecht sie in Einzelfällen auch gewesen sein mag – in der Summe der Mitverantwortung der Volksgruppe gerecht. Als Deutscher hat man mit seiner eigenen Geschichte genug zu tun, jedoch sei es dennoch erlaubt auf einige Widersprüche hinzuweisen, die auch im heutigen Jubel nicht untergehen sollten. Dansk Folkeparti hat gestern eine Entschuldigung von der Regierungschefin an das  dänische Volk für die in den Besatzungsjahren geführte dänische Zusammenarbeits-Politik verlangt – auf jeden Fall bis 29. August 1943.

Die dänische Regierung hätte – so DF – schon am Tag des Einmarsches am 9. April 1940 zurücktreten müssen. Geschenkte Besserwisserei, aber hätten sich Regierung und König damals anders entschieden, hätte es auf jeden Fall rote Linie gegeben. So gab es nach den Worten des späteren Staatsministers Erik Eriksen eine Politik mit doppeltem Boden; einerseits Verhandlungspolitik, andererseits Widerstandskampf. Diese Doppelheit prägte auch die Regierungen und die Rechtsabrechnung nach 1945, die die deutsche Minderheit besonders hart traf. Es gab ja im ganzen Lande mehr dänische Nazis als in der Minderheit, aber hier handelte es sich um eine Gruppe, um eine Volksgruppe, die angesichts ihrer eigenen Verfehlungen sichtbar zur Rechenschaft gezogen werden konnte.  In den Tagen der „Herrschaft der Strasse“ berichtete „Jydske“ in großer Überschrift „Deutsche Mädchen werden geschoren und bis auf den Gürtel entkleidet“. 

Der Rechtsstaat war durch die Besatzungsmacht außer Kraft gesetzt, und doch gab es schon damals auf dänischer Seite in Nordschleswig maßgebliche Leute, die mit mutiger Haltung die Brücke zu einer besseren, stabilen Nachbarschaft bauten. Und es fanden sich glücklicherweise in der Minderheit einige wenige –  in erster Linie die Verantwortlichen für die Gründung des „Nordschleswigers“ 1946 – , die in den eigenen Reihen nach harten Kämpfen nicht nur die loyale Anerkennung der Grenze durchsetzen.  Auch die (viel spätere) Einsicht, dass der 5. Mai letztlich nach langen Umwegen das Überleben der deutschen Minderheit gesichert hat – durch die Befreiung vom Ungeist jener Zeit.

75 Jahre danach sollten wir nicht nur aller Opfer gedenken, sondern uns gemeinsam über das Geschenk der Demokratie freuen, dass uns heute als deutsche Minderheit eine sichere Zukunft im dänischen Staat gewährleistet und gleichzeitig die Bande zwischen Dänemark und Deutschland im Freundschaftsjahr 2020 noch enger knüpft.

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