Buch-Veröffentlichung

Gerhard Paul: Ein Hybrid-Buch zum Nationalsozialismus

Gerhard Paul: Ein Hybrid-Buch zum Nationalsozialismus

Gerhard Paul: Ein Hybrid-Buch zum Nationalsozialismus

Antje Walther/shz.de
Flensburg
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Prof. Gerhard Paul wird am 15. März 70 Jahre alt. Bilder sind ein zentrales Thema des Historikers. Foto: Marcus Dewanger

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Die fünf Jahre seit seiner Pensionierung hat der Seniorprofessor der Uni Flensburg für spektakuläre Buchprojekte genutzt.

Fünf Jahre sind seit seiner Pensionierung vergangen, als Seniorprofessor „schleiche“ er sich aus dem Uni-Betrieb raus, sagt Gerhard Paul, dreifacher Vater und stolz auf sieben Enkel. Der Nordhesse wurde 1994 Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg. Der Historiker, der am 15. März 70 Jahre alt wird, hat sich mit der Veröffentlichung seiner neuesten Bücher Lebensträume erfüllt. Warum sein Werk über den Nationalsozialismus europaweit seines gleichen sucht und was ein Föhn zu seiner Familiengeschichte beigetragen hat, erzählt er im Interview.

Herr Paul, das letzte Mal haben wir uns hier bei Ihnen gesehen mit Herrn Franzolin. Wissen Sie noch, wann das war?

Ja, das war am Tag nach dem deutschen Sieg über Brasilien bei der Fußballweltmeisterschaft. Das Treffen (mit João Franzolin, Doktorand aus Brasilien an der Europa-Universität Flensburg) muss also am 9. Juli 2014 gewesen sein – Anmerkung der Redaktion.) Da hat Deutschland doch 7:1 gewonnen. Und er war fix und fertig. Das war ein toller Typ. Er sagt, das sei die schönste Zeit in seinem Leben gewesen.

Der hatte sich beworben unter tausenden von Stipendiaten für Deutschland und kam dann in die Ausscheidungsrunde. Er wurde gefragt, wo er gern promovieren möchte. Und er hat gesagt: Flensburg. Das musste dann erst geprüft werden, ob es die Universität überhaupt gibt.

Ich kann mich erinnern, dass seine Klavierlehrerin...

... seine Deutschlehrerin! Er hat Deutsch gelernt bei einer Professorin, die vor dem Krieg aus Königsberg nach Brasilien ausgewandert ist. Die hat ihm eine Sprache beigebracht, die hier nicht mehr gesprochen wird. Er wollte mal ins Kino gehen und hat jemanden auf der Straße gefragt. Das Wort Kino kannte er nicht. Er hat gefragt, wo das nächste Lichtspieltheater ist, da haben die überlegt, was ist das.

João war einer der intelligentesten Studenten, die ich hatte. Wir waren mit ihm auf der NordArt in Büdelsdorf und haben eine Ausstellung mit Schwerpunkt Russland gesehen. Da war so etwas wie ein Ikonenbild: neun verschiedene Portraits von sowjetischen Herrschern, vom letzten Zar über Lenin, Stalin bis hin zu Putin. Ich habe ihn gefragt, ob er jemanden davon kennt. Dann hat er wie bei der Zwei-Millionen-Dollar-Frage alle hintereinander aufgesagt.

Sie haben angedeutet, dass Sie noch guten Kontakt zu ihm haben: Arbeitet er als Historiker?

Nein, er hat versucht, eine Professur zu bekommen, bewirbt sich auch, aber scheitert an Kriterien wie Geschlecht und Ethnie. Jetzt gibt er Deutsch-Kurse für Kriegsflüchtlinge, die in Brasilien angekommen sind und die nach Deutschland wollen.

Sie wissen bestimmt noch, was das Thema seiner Promotion war...

Ja. Auf die Idee muss man kommen! Er hat sich beworben schon mit der Idee zu promovieren über die Zeitschrift „Die Wehrmacht“. Ihm ist es gelungen, alle Exemplare dieser Zeitschrift von 1936 bis 1945 zu sammeln und zu digitalisieren.

War das Ihr letzter Doktorand?

Nein. Im Mai habe ich die letzte Disputation.

Das heißt, Sie nabeln sich ganz langsam von der Universität ab?

Ich bin 2017 noch zum Senior-Professor ernannt worden. Dadurch bin ich offiziell pensioniert, meine Stelle ist besetzt worden, aber ich habe alle Rechte behalten, also Promotionsrecht, Bücher ausleihen. Das läuft auch im Mai aus. Wie sagen die Mediziner bei einer Krankheit: Es schleicht etwas aus. Das war schön. Noch weiter arbeiten zu können... Ich habe die Zeit hauptsächlich genutzt, um endlich mal die Bücher zu schreiben, die ich schon immer machen wollte.

Ein guter Übergang... Sie haben schon gesagt, es sind die Bücher Nummer 50 und 51 geworden. Worum geht es in beiden?

Ich habe ja sehr viel über Bilder gearbeitet in den letzten Jahrzehnten. Und vorher habe ich über die Nazi-Zeit auch Standardwerke geschrieben. Ich habe einen Sohn, der ist ungeheuer fit in allem, was Digitalisierung betrifft. Der sagte: Papa, Bücher sind doch irgendwie gruftig. Überleg doch mal, wie man jüngere Leute ans Buch führen kann. Das muss peppiger sein. Daraus ist die Idee geworden - zumindest europaweit ist es das erste Buch - eines Meta-Buchs oder Hybrid-Buchs zur Geschichte des Nationalsozialismus. Also, eine neue Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus‘, die es seit zehn Jahren nicht mehr gibt, und das als Hybridbuch.

Ist da nicht alles gesagt und geschrieben worden?

Ja. Es gibt keine Phase in der deutschen Geschichte, die besser erforscht ist. Aber diese enorme Literatur zusammenzufassen, das ist heute die Herausforderung. Hybrid-Buch heißt: Auf 500 Seiten, großformatig, den Text unterzubringen und neben dem Text mit Handy oder Tablet aufzurufen: Filmsequenzen, Tonsequenzen, Tonzitate, geographische Informationen, Museen und so etwas. Sie laden sich, bevor Sie das Buch erwerben, eine App herunter. Das ist enorm aufwendig. Das Innenministerium und die Bundeszentrale für politische Bildung haben das als Pilotprojekt gefördert – das kostet wahrscheinlich, halten Sie sich fest, mehrere hunderttausend Euro. Die Filmrechte müssen bezahlt werden, diese App muss entwickelt werden, Sie müssen für jedes Bild Rechte einholen und entgelten. Wir haben 1000 Bilder im Buch und nochmal 1000 Bilder auf der App inklusive Film- und Tonsequenzen.

Meine Güte...

Das ist das organisatorisch Aufwendigste, was ich gemacht habe. Bei jedem vierten oder fünften Bild war die Bildlegende nicht korrekt. Im Laufe des Sommers ist das Buch draußen.

Ihr Team muss dafür mehrköpfig gewesen sein.

Ja, wir haben ein siebenköpfiges Team. Und ich habe sieben Jahre daran gearbeitet.

Sieben Köpfe, sieben Jahre. Und der Titel ist...

„Der Nationalsozialismus“, ganz einfach, mit Vorgeschichte und Nachgeschichte, wie ist nach 1945 mit der Zeit umgegangen worden, auch in Ost und West. Hat unendlich viel Spaß gemacht.

Wie ist die Auflage und wie hat man die Preisgestaltung berechnet?

Das Buch – Hardcover, 1000 Abbildungen, inklusive App – wird neun Euro kosten.

Wie bitte?

Neun Euro.

Wie geht das?

Wahrscheinlich wäre der Herstellungspreis 150 Euro. Regierungseinrichtungen dürfen keine Ladenpreise erheben, die nehmen eine Schutzgebühr. Der Preis soll auch niedrigschwellig sein. Wir fangen mit 10.000 Exemplaren an. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat gesagt, wir beobachten das als Pilotprojekt, um zu gucken, was man künftig daraus machen kann. Es wird in diese Richtung gehen: Bücher werden digital aufgewertet, ergänzt. Ein tolles Projekt, tolle Leute.

Es ist eine große Freude zum Ende seines Berufslebens einmal das machen zu können, was Sie wollen, nicht auf Geld zu achten, in die Vollen zu greifen.

Gerhard Paul, Seniorprofessor der Europa-Universität Flensburg

Wir haben eine Kölner Firma, die jede Seite individuell setzt. Ich hatte gedacht, dass es zum 70. Geburtstag da wäre – das schaffen wir wegen Corona nicht ganz. Aber es ist eine große Freude zum Ende seines Berufslebens einmal das machen zu können, was Sie wollen, nicht auf Geld zu achten, in die Vollen zu greifen.

Und woran arbeiten Sie jetzt?

Vor Corona war ich jede Woche einmal irgendwo in Deutschland oder im nahen Ausland zu Vorträgen unterwegs. Dadurch, dass ich plötzlich so viel Zeit hatte, habe ich angefangen, alles, was meine Frau und ich von unseren Eltern und Großeltern an Nachlässen bekommen haben, durchzuarbeiten. Das war so spannend und fing an mit einer Urkunde. Ich kannte sie schon als Kind, wusste aber nie, was sie bedeutet, vor allem weil sie englisch und französisch ist.

Mit dieser Urkunde von 1816 im Hause von Prof. Gerhard Paul fing alles an - und endete in einem Buch über die mehr als 200 Jahre alte Familiengeschichte. Foto: Marcus Dewanger

Das ist die Originalurkunde meines Ururururgroßvaters von Februar 1816...

Viermal „Ur“...

Viermal „Ur“. Der war Söldner der königlich-deutschen Legion des englischen Königs in der Schlacht von Waterloo. Das ist praktisch sein Rentenbescheid. Aus einer der größten Schlachten der Weltgeschichte bekam er einen Rentenanteil ausbezahlt. Die Beute wurde geteilt. Die Kriegsherren haben die Kriegskasse immer mitgeführt und dann geteilt. Hier bekommt er für die Schlacht von Waterloo – die war sechs Stunden lang – zwei Jahre zusätzlich Rente ausbezahlt. Darüber mochte ich mehr wissen. Er war ein ganz kleiner Tagelöhner, dann Soldat, kommt mit diesem Anteil nach Hause, lernt eine junge Frau kennen, die bauen zwei Jahre später ein Häuschen – das finanziert er alles mit dieser Rente.

Ich dachte, das müsste nicht so viel sein.

Doch. Das war so viel, dass er ein Haus bauen konnte. Das Bauholz hat er von Adligen in der Nachbarschaft erhalten. Er wurde zu Gesprächsabenden eingeladen. Er war in Paris, Sevilla, Madrid – der hatte was zu erzählen. Ich sage immer, das ist der erste Historiker in der Familie, der aus Geschichte Geld gemacht hat. Daraus ist dann eine Familiengeschichte geworden unserer Herkunftsfamilien über mehr als 200 Jahre.

Dieses Schweigen habe ich ein Stück weit zum Thema meines Lebens gemacht.

Gerhard Paul, Jahrgang 1951

Ich habe mich in vielen Jahren wissenschaftlich mit Kriegen beschäftigt. Eines meiner wichtigsten Bücher ist eine Bildgeschichte des modernen Krieges. Ich habe mich gefragt, warum habe ich das gemacht. Dann habe ich zum ersten Mal Zeit gehabt, diesen Fragen nachzugehen. Der Grund: Meine Eltern haben über den Krieg immer geschwiegen. Dieses Schweigen habe ich ein Stück weit zum Thema meines Lebens gemacht. Mich hat es sehr interessiert, wie die ehemaligen Feindstaaten Krieg erlebt haben. Natürlich bin ich in die Sowjetunion gefahren. Ich war eingeladen an einem Abend in Kiew bei einem Professor und seiner Tochter. Wir haben den ganzen Abend über Krieg gesprochen; das war so belastend, was er erzählte, es hielt sich nur mit viel Wodka aus. Dann bin ich abends in das Hotel zurückgekommen. Das Hotel heißt „Mir“.

Frieden.

Ja! Ich war noch so erregt und wollte mit irgendjemandem sprechen. Dann bin ich durch die Hotelflure gegangen und hab gelauscht, ob da noch irgendjemand wach war. Das macht man auch nur, wenn man einen in der Krone hat... Und tatsächlich hörte ich in einem der Zimmer Stimmen aus Deutschland und bin da einfach reingegangen. Und kam mit einer Frau zu sprechen, die eine Zeitlang wie ich im selben Dörfchen bei Hannover gelebt hat. Da haben wir uns kennen und lieben gelernt und sind jetzt seit mehr als 43 Jahren zusammen. Aus allen diesen Recherchen und Erinnerungen ist ein Buch über fünf sehr unterschiedliche Familien geworden. Die kann ich über 200 Jahre dicht beschreiben.

Das ist beneidenswert.

In ihr kommen keine Opfer, keine Widerständler vor, es sind im Grunde die Täter und die Mitläufer. Es waren immer kleine Leute; wir sind die erste Generation, die studiert hat. Es sind fast 500 Seiten geworden mit Anekdoten natürlich auch über das Flensburger Uni-Leben. Es ist lustig, mal tragisch, mal traurig. Das Buch heißt „Der Krieg, die Bilder und ein Föhn.“

Warum das?

Die Nacht war noch nicht zu Ende, als ich meine Frau kennen gelernt habe. Es war Winter, es war März, in Kiew lag noch Schnee. Wir wollten morgens so gegen 3 Uhr noch eine Runde spazieren. Nun wurden aber sowjetische Hotels nachts hermetisch abgeriegelt. Der Portier hat zu meiner Frau gesagt, wir sollten ins Bett gehen. Ich fand, das sei eine gute Idee. Nur bei Sigrid im Zimmer war eine Freundin – sie sagte, die muss ich vorher fragen. Dann hat sie sie wach gemacht. Dann sagte die Freundin: Er kann hier schlafen, wenn er einen Föhn dabei hat. Und ich hatte damals so eine Matte und bin immer mit Föhn verreist. Konnte daher mit einem Föhn aufwarten. Hätte ich den Föhn nicht gehabt, wer weiß, wie die Geschichte ausgegangen wäre.

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