75 Jahre Der Nordschleswiger

Chefredakteur: „Es ist ein Projekt der gesamten Minderheit“

Chefredakteur: „Es ist ein Projekt der gesamten Minderheit“

Chefredakteur: „Es ist ein Projekt der gesamten Minderheit“

Claudia Knauer
Claudia Knauer
Nordschleswig/Apenrade
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Claudia Knauer interviewte Chefredakteur Gwyn Nissen (rechts) und seinen Stellvertreter Cornelius von Tiedemann zur Digitalisierung des „Nordschleswigers“. Foto: Karin Riggelsen

„Der Nordschleswiger“ wird am 2. Februar 75 Jahre und stellt gleichzeitig die Tageszeitung ein. Anlass genug für ein Doppelinterview mit der Chefredaktion – geführt von Claudia Knauer.

75 Jahre

„Der Nordschleswiger“ wurde am 2. Februar 2021 75 Jahre, und am selben Tag erschien die Tageszeitung der deutschen Minderheit in Nordschleswig zum letzten Mal. „Der Nordschleswiger“ setzt in Zukunft primär auf eine digitale Berichterstattung.

Dies ist eine Jubiläums-Serie über die Geschichte und die Zukunft des „Nordschleswigers“.

Viel hat sie mitgemacht, die kleine tapfere Zeitung im Süden Dänemarks. Allein als deutschsprachiges Medium – umgeben von vielen großen dänischen Zeitungen und Sendern. Im Rücken die Grenze Richtung Süden, gen Norden die Mehrheitsbevölkerung. Schon mit der ersten Schlagzeile hat der Chefredakteur viele seiner Leser verärgert, und mit der letzten – die die erste sein wird – ist es möglicherweise nicht anders.

Am 2. Februar 1946 kam „Der Nordschleswiger“ erstmals als Papierzeitung heraus. Am 2. Februar 2021 wird die letzte gedruckte Ausgabe neben der Kaffeetasse auf dem Tisch der verbliebenen treuen Abonnenten liegen.

In den 75 Jahren hat sich „Der Nordschleswiger“ von der Wochenzeitung zur Tageszeitung entwickelt, hat Fotos auf die Titelseite gebracht, die nach vielen Jahren sogar farbig wurden. Die Montagsausgabe wurde eingestellt und wieder neu belebt. Er hat zwischenzeitlich das „Der“ aus dem Titel verloren und es wiedergefunden.

Eine jahrzehntelang undenkbare Zusammenarbeit mit den drei anderen Tageszeitungen des Grenzlandes – „JydskeVestkysten“, „Flensborg Avis“ und dem Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag – wurde ins Leben gerufen. Es gab eine gemeinsame Wochenendbeilage und mittlerweile einen Artikelaustausch. Der Internetauftritt wurde lanciert und immer professioneller, tägliche Radionachrichtensendungen sorgten für eine weitere Verbreitung der deutschsprachigen Inhalte.

Diese Arbeit wurde und wird von engagierten Journalistinnen und Journalisten quasi rund um die Uhr geleistet – geleitet und inspiriert von vorausschauenden Chefredakteuren – Ernst Siegfried Hansen, Jes Schmidt und Siegfried Matlok, die Risiken nie scheuten.

Jetzt steht unter Chefredakteur Gwyn Nissen und seinem Stellvertreter Cornelius von Tiedemann die nächste, wahrhaftig umwälzende Veränderung an. Papier war gestern, Schirm ist heute.

Im Gespräch erzählen sie davon.

Die Papierzeitung hat die Minderheit nicht mehr erreicht – nur einen kleinen Kern davon, sagt Chefredakteur Gwyn Nissen. Foto: Karin Riggelsen

Wann hast du zum ersten Mal an die komplette Digitalisierung gedacht?

Gwyn Nissen: Das haben wir schon in meinem Bewerbungsgespräch für den Chefredakteursposten 2013 so besprochen. In den ersten Interviews nach meiner Anstellung habe ich immer gesagt, wir haben noch fünf bis sieben Jahre Zeit, und 2018 hat der Hauptvorstand des Bundes Deutscher Nordschleswiger (BDN) als Herausgeber die Entscheidung getroffen, die Papierzeitung einzustellen.

Ihr liegt also im Zeitplan?

Gwyn Nissen: Wir haben uns keinen direkten Zeitplan gesetzt, aber ja, es hat sich so ergeben. Unter anderem auch, weil die Abonnentenzahlen gegen uns sprachen. Die Papierzeitung hat die Minderheit nicht mehr erreicht – auch schon 2013 und davor. Wir waren schon seit vielen Jahren nicht mehr der viel beschworene Kitt der Minderheit – beziehungsweise nur für einen immer kleiner werdenden Kern der Minderheit. Darauf arbeiten wir wieder hin.

Und das wird jetzt anders?

Gwyn Nissen: Wir haben über viele Modelle nachgedacht. Ob Wochenzeitung oder nur digital. Wir sind uns sehr sicher, dass die digitale Lösung die richtige ist. Die 14-tägliche Papierausgabe wird dann der Ersatz sein für diejenigen, die nicht digital lesen können oder wollen. Diese Arbeit werden wir auch ordentlich machen, aber unsere Kräfte gehen zu 100 Prozent ins Digitale. Damit wollen wir die Minderheit, die mittlerweile viel fragmentierter ist als früher, besser erreichen.

Das wird nicht leicht. Wie erreichen wir die Eltern der Kinder in Kindergarten oder Schule? Die kommen nicht von allein. Aber das ist auch eine Aufgabe der gesamten Minderheit, und deshalb sind wir so froh, dass wir jetzt als Link auf dem Schul-Intra des Deutschen Schul- und Sprachvereins zu finden sind.

Das digitale Angebot des „Nordschleswigers“ wird nicht nur von der Minderheit wahrgenommen, sondern auch von der dänischen Mehrheitsbevölkerung, erklärt der stellvertretende Chefredakteur Cornelius von Tiedemann. Foto: Karin Riggelsen

Aber wie wisst ihr, ob ihr die Minderheit wirklich erreicht? Könnt ihr erkennen, ob eine Nutzerin oder ein Nutzer aus Rapstedt ist und der Minderheit angehört? Das wird wegen Bonn-Kopenhagen wohl ein bisschen schwierig.

Cornelius von Tiedemann: Tatsächlich können wir oft ziemlich genau sehen, woher sich die Leser eingeloggt haben. Aber die Bonn-Kopenhagener Erklärungen, die es verbieten, nach der Gesinnung zu fragen, lassen natürlich nicht zu, nachzuforschen, ob das eine deutsch- oder dänischgesinnte Leserin ist, aber anhand der Kommentare und daran, welche Artikel angeklickt werden, bekommen wir schon einen ganz guten Eindruck. Es ist unwahrscheinlich, dass eine Dänin, die keine Verbindung zur Minderheit hat, den Bericht von der Generalversammlung des Sozialdienstes in Gravenstein liest.

Aber ihr könnt nicht einfach Klicks im Internet mit dem Zeitunglesen vergleichen.

Gwyn Nissen: Nein, natürlich nicht. Die Lesegewohnheiten werden anders. Wir sind gespannt, welche Gewohnheiten vom Zeitunglesen auf Papier mit ins Netz genommen werden.

Aber verliert ihr nicht zu viele? Die Leser/innen, die dem „Nordschleswiger“ über Jahrzehnte die Treue gehalten haben. In euren Informationen zum digitalen „Nordschleswiger“ schreibt ihr: „Wir sind das Medienhaus der Minderheit … und wollen sowohl die digitalen Senioren …“. Und die Nicht-Digitalen? Nicht wenige fühlen sich abgehängt.

Gwyn Nissen: Wir haben mit dem BDN die Entscheidung getroffen, und ja, einige werden abgehängt auf diesem Weg. Die 14-Tägliche soll da einen Ersatz liefern. Aber für jeden, jede, die wir jetzt verlieren, gewinnen wir 10 oder 100 andere hinzu. Wir wollen viel weiter hinaus. Sind aktiv in den sozialen Medien. Wir wurden von „BBC“, „Spiegel“, dänischen Medien und der „Bild“-Zeitung zitiert und bei „TV2“ sogar einmal Breaking News.

Am Wichtigsten sind uns immer noch unsere eigenen und lokalen Leser in Nordschleswig, aber es zeigt, dass wir heute eine ganz andere Reichweite haben als früher.

Cornelius von Tiedemann: Es ist oft eine Einstellungssache. Wir haben wirklich versucht, die Angst vor dem Medium nordschleswiger.dk zu nehmen. Aber dann hat Corona uns da einen Riesenstrich durch die Rechnung gemacht, auch wenn wir gerade in der Corona-Zeit massiv an Leserinnen und Lesern im Netz dazugewonnen haben.
Den Mangel an Aufklärung konnten wir nicht so beheben, wie wir es gerne gewollt hätten – mit Veranstaltungen vor Ort. Mit der Beratung von Mensch zu Mensch. Wir wollen die Gruppe der Nicht-Digitalen gerne weiter verkleinern.

Gwyn Nissen: Wir haben schließlich eine Verantwortung für alle, und alle haben eine Verantwortung für uns. Das ist kein „Nordschleswiger“-Projekt. Das ist ein Projekt der gesamten Minderheit.

Claudia Knauer, ehemals stellvertretende Chefredakteurin des „Nordschleswigers“, führte das Gespräch mit der Chefredaktion. Foto: Karin Riggelsen

Ihr habt euch bemüht, die Menschen zu erreichen und ihnen beigebracht, die E-Zeitung zu lesen und sich dafür zu begeistern. Ab dem 2. Februar gibt es die aber gar nicht mehr. Glaubt ihr nicht, dass sich die Leser/innen da ein bisschen verschaukelt fühlen?

Cornelius von Tiedemann: Wir haben niemanden verschaukelt, sondern immer darauf hingewiesen, dass wir ab dem 3. Februar auf eine reine Webseite umstellen. Die E-Zeitung entfällt, weil wir eben keine gedruckte Zeitung layouten. Aber ja, den Unterschied zwischen E-Zeitung und Webseite konnten wir nicht allen begreiflich machen. Auch hier spielt Corona leider eine Rolle – da ist noch ein Kommunikationseinsatz zu leisten.

Gwyn Nissen: Aber immerhin sind sie dann schon im Netz drin und haben sich an Klicken statt Blättern gewöhnt. Digital ist anders, unserer Ansicht nach besser. Wir haben da sehr viel anzubieten. Wir schaffen mehr Nähe zum Leser oder zur Leserin, auch wenn ihr oder ihm das Medium erst einmal fremd ist. Man muss sich daran gewöhnen, dass man nie fertig ist. Eine Zeitung ist irgendwann ausgelesen. Das Netz ist es nie.

Wir können und wollen durch unsere gute Arbeit, unsere gut geschriebenen Artikel überzeugen.

Cornelius von Tiedemann: Zum Beispiel werden sich die Nutzerinnen die Artikel auf der Webseite und in der App vorlesen lassen können. Das wird ein Riesengewinn. Eine neue Suchfunktion gibt es dann bald auch, sowie die Möglichkeit, eine persönliche Auswahl zu treffen.

Die Mitarbeiter des „Nordschleswigers“ arbeiten bereits seit dem Jahreswechsel 2019/2020 „web-first“, erklärt Gwyn Nissen. Foto: Karin Riggelsen

Was waren die größten Hürden für euch?

Cornelius von Tiedemann: Die ganz große Herausforderung war es, über solch einen langen Zeitraum gleichzeitig für das Internet und die Printzeitung zu arbeiten. Das Team hat über Jahre zwei Medien vollumfänglich professionell bedient. Dieser Rucksack war schon ganz schön schwer.

Dann atmet ihr also am 2. Februar tief durch?

Gwyn Nissen: Den ganz großen Unterschied wird es nicht machen, denn seit 2019/2020 gilt ja schon „web first“ bei uns. Aber natürlich war das eine Hürde für jede Einzelne bei uns, die seit 10 oder 30 Jahren für die Papierzeitung geschrieben hat. Aber jetzt können wir mehr als Text und Foto liefern. Vielleicht gibt es in Zukunft von der einen oder anderen Veranstaltung erst einmal keinen Textbericht, sondern ein Video. Oder wir machen einen Podcast (Radiosendung zum Nachhören nach Bedarf).

Cornelius von Tiedemann: Wir müssen heute auch etwas anders schreiben, weil wir auch Menschen erreichen wollen, die sich eher am Rande der Minderheit aufhalten. Da müssen wir erklären, wer Hinrich Jürgensen (Red.: Hauptvorsitzender des BDN) oder Uwe Jessen (Red.: BDN-Generalsekretär) ist, ohne die zu langweilen, die sich gut auskennen.

Das sind viele Umwälzungen und Herausforderungen, denen nicht nur die Leser/innen, sondern auch die Journalisten und Journalistinnen gegenüberstanden und -stehen. Ihr Arbeitsalltag und ihre Arbeitsbelastung haben sich ja massiv verändert. Das ist aller Ehren und alles Lobes wert.

Gwyn Nissen: Wir haben viel Zeit und Geld in Fortbildung investiert.

Cornelius von Tiedemann: Es war eine große Umstellung, und es gab viele Sorgen. Zum Glück haben BDN und Presseverein immer den Weg unterstützt. Sie waren hilfreich dabei, Sorgen zu nehmen. Wir haben gute Argumente, gute Zahlen. Wir können überzeugen. Und die Kolleginnen und Kollegen haben richtig toll mitgezogen, sind vorangegangen. Mittlerweile haben alle Spaß daran, diese „neue Welt“ zu entdecken.

Gwyn Nissen: Die mentale Umstellung, die bestimmt nicht leicht war, ist gelungen. Wir machen große Sprünge.

Cornelius von Tiedemann: Das Feedback von Medienkollegen ist großartig. Viele sehen uns als den fittesten medialen Spieler im Grenzland.

Gwyn Nissen: Neben der Digitalisierung haben wir uns in den vergangenen zwei Jahren auch journalistisch weiterentwickelt und versuchen heute noch mehr, den Leser im Blick zu haben. Da passiert viel.

„Wir sind enorm privilegiert“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Cornelius von Tiedemann zur Situation des „Nordschleswigers“. Foto: Karin Riggelsen

Warum habt ihr euch entschieden, den Weg durch den Dschungel zu bahnen und nicht gewartet, bis andere, größere Medien das getan haben?

Cornelius von Tiedemann: Wir sind enorm privilegiert durch unsere Förderung durch die Bundesrepublik Deutschland. Wir sind finanziell nicht von Anzeigen abhängig.

Gwyn Nissen: Wir können den Weg gehen. Wir müssen nicht. Aber wir können und wir wollen es. Es gab da keinen Druck von keiner Seite. Der Wechsel ist keine Sparmaßnahme, sondern entspringt unserem journalistischen Ehrgeiz.

Cornelius von Tiedemann: Andere beneiden uns darum, dass wir das tun können. Wir nehmen eine Vorreiterrolle ein, auch innerhalb der Minderheitenzeitungen.

Gwyn Nissen: Unser Produkt bleibt wegen unserer Förderung auch nach wie vor kostenfrei. Jede/r kann alles lesen. Es gibt keine Bezahlschranke.

Cornelius von Tiedemann: Nischen haben es leichter im Internet, und wir sehen uns als Nische, wie man als Minderheit im Mainstream sowieso eine Nische besetzt.

Der Weg zur ausschließlich digitalen Ausgabe war beizeiten dornig. Es gab heftige Kritik. Sind Narben geblieben?

Gwyn Nissen: Auch dafür bekomme ich mein Gehalt. Noch schlimmer wäre es aber gewesen, wenn es gar keine Reaktionen gegeben hätte, wenn den Menschen der Nordi egal gewesen wäre. Mit den härtesten Kritikern haben wir den längsten und besten Dialog geführt, u. a. mit der Kirche. Das hat dazu geführt, dass jetzt die 14-Tägliche erscheint.

Die Enttäuschung, das Erschrecken am 3. Februar, wenn keine Zeitung mehr im Briefkasten liegt, kann ich durchaus nachvollziehen. Auch ich werde da eine Träne verdrücken.

Es gab aber keine Alternative. Selbst als billigste Zeitung in Dänemark wollten uns nicht genügend Menschen abonnieren. Der Zeitpunkt der Umstellung kommt eher zu spät als zu früh. Den Start hätten wir anders anpacken können. Aber der Hauptvorstand hat mutig entschieden.

Dreier-Gespräch über die Zukunft des „Nordschleswigers“ Foto: Karin Riggelsen

Was passiert mit der letzten Zeitung? Geht sie ins Museum nach Sonderburg?

Gwyn Nissen: Die letzte Zeitung kommt in einem Rahmen hier ins Pressehaus; die vorletzte geht ins Museum.

Und eure Zielmarken? Was wollt ihr erreichen?

Gwyn Nissen: Schön wären 8.000 bis 9.000 Nutzer täglich, die immer länger auf der Seite bleiben und immer mehr lesen. Es geht uns nicht um Klicks. Das Wichtigste ist weiterhin, dass 500 bis 600 Nutzer aus Tondern uns täglich lesen, 200 aus der Bülderuper Gegend, 400 aus Tingleff und so weiter.

Für diese Leser sind unsere Leute vor Ort, und das soll auch so bleiben. Obendrauf kommen dann andere, z. B. aus Deutschland oder auch Dänen, denen die Barriere für ein Abo viel zu hoch gewesen wäre.

Habt ihr den Traum vom perfekten Portal?

Cornelius von Tiedemann: Es gibt kein Ziel, es gibt eine spannende Entwicklung. Ständig verändert sich die Technik. Vielleicht lesen wir bald die Nachrichten über die Kontaktlinse. Wer weiß.

Mittlerweile ist in der Musikwelt die gute alte Schallplatte wieder in. Vinyl statt streamen. Kommt auch Papier zurück?

Cornelius von Tiedemann: Ja, aber leider nicht bei uns.

Gwyn Nissen: Wir stehen auf einem Fundament von 75 Jahren erfolgreicher Arbeit mit einer Papierzeitung, die uns geprägt hat. Sonst könnte es uns heute nicht als www.nordschleswiger.dk geben. Und damit arbeiten wir jetzt weiter.

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