Gehirntumor

Wenn das Leben am seidenen Faden hängt

Wenn das Leben am seidenen Faden hängt

Wenn das Leben am seidenen Faden hängt

Kopenhagen
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Foto: Robin Skjoldborg / Gyldendal

Kulturjournalist Niels Frid-Nielsen lässt eine Sehschwäche untersuchen. Schon einen Tag später wird er im „Riget“ in Narkose gelegt. Er weiß nicht, ob er jemals die Augen wieder öffnen wird. „Der Nordschleswiger“ traf ihn zu einem Gespräch über Leben und Tod und darüber, wie man damit umgeht, wenn ein Tumor die eigene Persönlichkeit ändert.

Unser Treffen findet im Vorstandsraum des alteingesessenen Verlages „Gyldendal“ statt, wo ausreichend Platz ist.
Denn Niels Frid-Nielsen gehört zu den Menschen, die in diesen Corona-Zeiten besonders auf sich achtgeben müssen.

Der Anlass unseres Treffens ist ein Buch, das der profilierte Kulturjournalist zunächst gar nicht schreiben wollte. Ein Freund hatte ihm vorgeschlagen, es zu schreiben.

„Ich dachte, ich kann dies meiner Familie nicht antun. Ich kann diese noch blutenden Wunden nicht wieder aufreißen. Es sind zu diesem Zeitpunkt fünf bis sechs Jahre vergangen. Wir sind wieder zu einer Familie geworden. Uns geht es gut, und wir haben vieles hinter uns gebracht“, sagt er eindringlich.

„Ich weiß, es wäre zu schmerzhaft für sie.“

Denn es ist eine sehr persönliche Erzählung darüber, wie ein schleichender Gehirntumor Niels‘ Persönlichkeit änderte, ohne dass er selbst davon etwas bemerkte. Über eine Operation, die ihn auch das Leben hätte kosten können. Aber vor allem eine Erzählung darüber, was man verliert, aber vielleicht auch darüber, was man entdeckt, wenn ein Tumor auf seine Gehirnzellen gedrückt hat.

Die schleichenden Änderungen

Trotz des Schmerzes erscheint das Buch „I en tynd tråd“ jetzt doch am 27. Mai. Wie Frid zu dem Entschluss gekommen ist, darauf werden wir zurückkommen.

Zunächst sollten wir mit dem Anfang beginnen.

Niels Frid-Nielsen hat für DR als Kulturjournalist gearbeitet. Als solcher hat er jährlich die großen Filmfestivals in Berlin, Venedig und Hollywood besucht. Es war eine Arbeit, die für ihn sehr lustbetont war und in die er daher viel Energie gesteckt hat.

Doch im Laufe des Jahres 2011 begann sich dies zu ändern. Plötzlich war Frid häufig sehr müde, hatte dauernd den Drang zu essen, hat stark zugenommen. Zunächst hat er die Zeichen jedoch nicht ernst genommen.

„Ich habe es als eine natürliche Entwicklung empfunden. Ich war zu diesem Zeitpunkt Anfang 50 und hatte ein wildes Leben gelebt. Und jetzt hatte ich einen festen Lohn und einen Job als Redakteur. Ich dachte, dass es nur natürlich ist, dass ich in dem Alter allmählich zur Ruhe komme. Da darf man sich schon etwas gönnen.“

Ich muss gestehen, dass ich in dem Moment große Angst hatte

Niels Frid-Nielsen

Doch dann kamen auch die ersten physischen Anzeichen. Er konnte die Farbe Rot nicht mehr erkennen, Bremslichter von Autos vor ihm sah er nicht mehr. Seine Frau Pia Rønn überredete ihn, den Augenarzt aufzusuchen.

Denn sie hatte deutlich bemerkt, was Frid zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte. Es waren noch viel einschneidendere Veränderungen mit ihm passiert, seine ganze Persönlichkeit hatte sich verändert.

Eine Tasse Kaffee

Der Augenarzt konnte nicht feststellen, wo das Problem lag und schickte ihn weiter zur Augenabteilung am Hvidovre Hospital. Doch auch dort konnte man die Ursache nicht finden. Der Arzt muss jedoch Verdacht geschöpft haben, denn er reicht Frid eine Tasse Kaffee, hält aber die Hand darüber. Als Frid sagt, das rieche aber gut, zeigt der Arzt ihm, dass nur Wasser in der Tasse ist. Von ihm selbst völlig unbemerkt, hatte er den Geruchssinn verloren und hat ihn bis heute nicht wiedererlangt.

Danach wurde ein MR-Scanning durchgeführt.

„Nach dem Scanning kommt der Arzt zu mir und sagt, wir haben einen Tumor so groß wie eine Mandarine in deinem Gehirn gefunden“, sagt Frid und deutet mit der Faust die Größe des Tumors an.

Der Tumor ist ein sogenannter gutartiger und hat sich möglicherweise im Laufe von 20 Jahren entwickelt. Er sitzt in den Frontallappen, die die persönlichen Eigenschaften steuern.

Es war sehr erschreckend zu entdecken, dass man jemand anderes war, als man dachte.

Niels Frid-Nielsen

Gleich am nächsten Tag wird Frid im Rigshospitalet operiert. Seine Frau sitzt im Wartezimmer, während er in die Narkose abgleitet.

„Ich muss gestehen, dass ich in dem Moment große Angst hatte. Denn ich wusste nicht, ob ich jemals die Augen wieder öffnen würde.“ Auch bestand das Risiko, dass er stark behindert aufwachen würde.

Doch die Operation verlief gut, was nicht bedeutete, dass Frid nicht noch einen sehr schweren Weg vor sich hatte.

„Ich esse gerade einen Hotdog“

Erst jetzt nach der Operation wurde Frid allmählich klar, wie sehr der Tumor seine Persönlichkeit verändert hatte. Er entsinnt sich, dass er Kollegen gegenüber ungeduldig und unwirsch reagiert hat.

Bei einem Workshop mit dem Regisseur Steven Spielberg, interessiert er sich ausschließlich für das Essen.

Und als die dänische Regisseurin Susanne Bier ihn auf dem Weg zum Filmfestival in Berlin am Kopenhagener Flughafen anspricht, faucht er sie an: „Siehst du nicht, dass ich gerade einen Hotdog esse.“

„Es war sehr erschreckend zu entdecken, dass man jemand anderes war, als man dachte. Ich war zutiefst erschrocken.“

Die Kollegen hatten die Veränderungen weitgehend auf die Eigenheiten des Kulturjournalisten geschoben. Seine Frau Pia jedoch vermochte ihren geliebten Mann zum Schluss kaum noch wiederzuerkennen.

In der Zeit nach der Operation quält Frid der Gedanke, wer er eigentlich geworden ist.

„Ich fragte mich, wie die Änderungen zum Ausdruck gekommen sind. War ich in Wirklichkeit anderen gegenüber unangenehm. Ich fragte mich, war ich in Wirklichkeit ein blödes Schwein, wie so viele andere mit so einem Tumor?“

In der Krankenakte hat der Arzt zu den Persönlichkeitsänderungen vermerkt: „Völlig klassischer Verlauf, jedoch ist er nicht geschieden worden, und ihm ist auch nicht gekündigt worden.“

Frid liest über den Tumor und erfährt, dass häufig die Empathie verloren geht. Ein Gedanke, der so gar nicht zu seinen Idealen passen will. Für ihn ist entscheidend, dass man für einander da ist.

Ein Brot mit frischen Kartoffeln

Langsam, sehr langsam beginnt er, sein Leben neu aufzubauen. Er muss das Gehirn trainieren, darf es aber gleichzeitig nicht überanstrengen. Führt er zu lange Gespräche, ist er anschließend tagelang erschöpft.

Nach gut einem halben Jahr kann er in ruhigem Tempo wieder die Arbeit aufnehmen.

Das Leben ist intensiver geworden

Niels Frid-Nielsen

Das Gefühlsleben und die Persönlichkeit wieder aufzubauen, das dauert wesentlich länger. Er muss sich selbst ganz neu definieren.

Hilfestellungen bei diesem Prozess findet er in der Kunst, dem Theater, der Literatur, aber auch in der Kirche.

„Ich habe mein Leben wiederentdeckt. Ganz basale Sachen wie ein Brot mit den ersten dänischen Kartoffeln bereiten mir eine ungemeine Freude.“

Auch das Beisammensein mit Frau und Kindern gehört zu seinen großen Freuden.

„Das Leben ist intensiver geworden.“

Gehirntumor

Jährlich erkranken 1.522 Menschen in Dänemark an einem Gehirntumor (Durchschnitt der Jahre 2012 bis 2016). Mehr Frauen als Männer sind betroffen.
Die Überlebenschancen variieren stark von Person zu Person. Art des Tumors, Verlauf der Operation, Alter und Gesundheitszustand spielen eine Rolle.
508 Person jährlich sterben an einem Gehirntumor.
Hat man Bedarf an einem Gespräch, kann man „Kræftlinjen” anrufen: 8030 1030.
Weitere Informationen findet man auf hjernetumorforeningen.dk.

Der langwierige Kampf um die eigene Identität bedeutet auch, dass er Ideale seiner Jugend wieder stärker in den Vordergrund stellt.

„Die zwei zentralen Werte in meinem Leben sind Nächstenliebe oder Mitmenschlichkeit und Vergebung. Ich habe selbst erlebt, wie viel es für mich bedeutet hat.“

In weißem Gewand

Wenn man wie Niels Frid-Nielsen erlebt hat, wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod sein kann, dass das Leben manchmal an einem seidenen Faden hängt, dann sieht man auch die Situation mit dem manchmal tödlichen Corona-Virus aus einer anderen Perspektive.

Wir begegneten einander als Menschen im Krankenhaus-Gewand und bloßen Füßen.

Niels Frid-Nielsen

Als er nach der Operation zur Reha ins Bispebjerg Hospital kam, war er nicht mehr der bekannte Kulturreporter, sondern nur „Niels“, der ebenso wie die anderen Patienten im weißen Gewand die Gänge auf und ab wanderte.

„Ich erlebte die anderen Patienten in ihrer reinsten menschlichen Form. Wir begegneten einander als Menschen im Krankenhaus-Gewand und bloßen Füßen. Und ich erlebte auch die gegenseitige Fürsorge.“

„In der Krankheit sind wir alle gleich. Mit Corona ist es ähnlich. Keiner ist vor ihr sicher. Vor der Pandemie sind wir alle nur Menschen. Wir kommen da vielleicht durch, indem wir dies als Gemeinschaft und mit gesellschaftlicher Verantwortung lösen.“

Zum Autor

Niels Frid-Nielsen (geb. 1954) ist Kulturjournalist, Kommentator und Verfasser einer Reihe von Büchern wie „Bille August. Et portræt af manden og hans film (2004)“, „I det nye Sydafrika (1996)” und „Cola som kult (1993)“.
Er war Kulturredakteur bei „DR Nyheder” und „Det fri Aktuelt”, Filmkritiker bei „TV2" und „TV3".
Seit 2015 ist er Botschafter für „HjernetumorForeningen”.

Den meisten Lesern wird sich jetzt wohl erschlossen haben, warum Niels Frid-Nielsen das Buch doch geschrieben hat, aber lassen wir ihn abschließend noch einmal zu Wort kommen.

„Wenn dieses Buch Menschen helfen kann, die heute in dieser Situation stehen, dann kann ich auf diese Weise vielleicht auch ein wenig an die Menschen zurückzahlen, die mich gerettet haben.“

Als wir uns auf Strøget verabschieden, erzählt Niels, dass er sich nach den zwei Interviews des Tages vor dem Abendessen noch etwas hinlegen wird. Denn er weiß, dass er nur so nachher noch einen guten Abend genießen kann.

„I en tynd tråd – om at leve med en alvorlig sygdom“ erscheint 27. Mai bei Gyldendal.

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