Identität

Minderheit: Stetige Gratwanderung zwischen Integration und Assimilation

Minderheit: Stetige Gratwanderung zwischen Integration und Assimilation

Gratwanderung zwischen Integration und Assimilation

Nordschleswig
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Katharina Kley (links), Ursula Petersen und Hinrich Jürgensen Foto: Karin Riggelsen

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Die deutsche Volksgruppe in Nordschleswig befindet sich in einem immerwährenden Wandel. Die Frage ist, was es heißen will, 2023 Minderheit zu sein. Was macht das Besondere aus, wenn die Abgrenzung von der Mehrheit verschwindet. Drei Personen in leitender Funktion verraten, was Minderheiten-Identität für sie bedeutet.

Sie gehören drei verschiedenen Generationen an, und sie nehmen unterschiedliche leitende Funktionen in der Minderheit wahr.

Hinrich Jürgensen ist Hauptvorsitzender des Bundes Deutscher Nordschleswiger (BDN), Katharina Kley ist Vorsitzende der Jugendpartei der Minderheit, der Jungen Spitzen, und Ursula Petersen ist Abteilungsleiterin des Sozialdienstes Nordschleswig. Ihre eigene Minderheiten-Identität definieren sie unterschiedlich.

Artikelserie zur Identität der Minderheit

Die Delegiertenversammlung ist das höchste Organ des Bundes Deutscher Nordschleswiger (BDN) und entscheidet die wichtigsten Fragen, mit denen sich der BDN befasst. Diese Fragen stellen sich immer wieder neu, denn die Minderheit von heute ist nicht die von gestern, die von morgen wird wiederum anders aussehen. Als Auftakt zur Delegiertenversammlung, die in diesem Jahr am 1. Juni stattfindet, befasst sich „Der Nordschleswiger“ in einer Reihe von Artikeln mit dem Thema Identität. Wir stellen unter anderem die Frage, was es heißt, Minderheit zu sein.

Alle veröffentlichten Artikel aus der Serie:

Minderheit: Stetige Gratwanderung zwischen Integration und Assimilation

Ehemalige Zugezogene erzählen: Die Minderheit verändert sich

Dänische Mehrheit und deutsche Minderheit: Das gute Verhältnis soll auf den Prüfstand

Deutsche Minderheit: Zugezogene im Fokus der Wissenschaft

Welche Anforderungen Institutionen der Minderheit in Nord- und Südschleswig an neue Mitglieder stellen

Zugezogene als Bereicherung und Herausforderung für die Minderheit

„Mit dem Begriff der Bindestrich-Identität kann ich wenig anfangen, denn er beinhaltet, dass man zur Hälfte deutsch und zur Hälfte dänisch ist. Ich bin eher zu 70 Prozent dänisch und zu 70 Prozent deutsch“, sagt Hinrich Jürgensen.

Ich bin 100 Prozent dänisch, zu 20 bis 40 Prozent deutsch und mindestens zu 30 Prozent sønderjysk.

Katharina Kley, Vorsitzende der Jungen Spitzen

Wenn Deutschland gegen Dänemark Fußball spielt, hält er mit Deutschland; im Handball ist es umgekehrt. „Ich kann nicht erklären, warum das so ist, das ist seit meiner Kindheit so“, meint der BDN-Vorsitzende lachend.

Katharina Kley ist 100 Prozent dänisch

Bei Katharina Kley gehen die Prozentzahlen rein mathematisch noch weniger auf als bei Hinrich Jürgensen.

„Vor allem bin ich Nordschleswigerin, aber viele verstehen nicht, was das bedeutet. Daher sage ich, ich bin 100 Prozent dänisch, zu 20 bis 40 Prozent deutsch und mindestens zu 30 Prozent sønderjysk“, erklärt sie.

Auch sie wehrt sich gegen die Definition, sie sei halb deutsch und halb dänisch. „Es beinhaltet, dass ich nicht richtig dänisch sei. Aber ich bin so dänisch wie alle anderen auch, nur bin ich eben auch deutsch und sønderjysk“, so die Chefin der Jungen Spitzen.

Bevor ich meine Stelle angetreten habe, fragte ich mich daher, ob ich ‚genug‘ Minderheit für so eine leitende Funktion bin.

Ursula Petersen, Abteilungsleiterin des Sozialdienstes Nordschleswig

Ursula Petersen musste sich mit Frage der Identität befassen

Auch für Ursula Petersen spielt Sønderjysk eine große Rolle. Damit haben die drei diesen Aspekt gemeinsam, denn zu Hause bei Hinrich Jürgensen wird auch der Dialekt gesprochen. Bevor Petersen im Januar 2022 die Stelle als Leiterin des Sozialdienstes übernahm, hat sie zehn Jahre lang als Sozialberaterin in der Kommune Tondern (Tønder) gearbeitet.

„Ich habe in meinem Erwachsenenleben vor allem in der Mehrheitsgesellschaft gelebt und gearbeitet. Bevor ich meine Stelle angetreten habe, fragte ich mich daher, ob ich ‚genug‘ Minderheit für so eine leitende Funktion bin. Ich habe das auch beim Vorstellungsgespräch thematisiert“, beschreibt sie ihre Überlegungen.

Petersen stammt aus einer Minderheitenfamilie, hat die deutschen Institutionen besucht, und auch ihre Kinder hat sie in deutsche Schulen geschickt. Dennoch hat das Thema in ihrem Erwachsenenleben bis vor eineinhalb Jahren keine große Rolle gespielt.

„Ich habe mich vorher mit der Frage meiner Identität noch nie beschäftigt. Jetzt bin ich damit konfrontiert worden, und für mich ist es eine positive Herausforderung, mich damit auseinanderzusetzen“, so die Leiterin des Sozialdienstes.

Sprache als Merkmal

Die deutsche Sprache ist nach Auffassung der drei eines der deutlichsten Merkmale der Minderheit. Über sie werde auch die deutsche Kultur transportiert. Wobei sie auch hier etwas unterschiedliche Akzente setzen.  

„Die Pflege der deutschen Sprache ist eine unsere wichtigsten Aufgaben überhaupt“, meint BDN-Chef Jürgensen.

„Für mich ist die Zweisprachigkeit einer der wichtigsten Grundwerte, sie macht uns aus“, so Kley.

„Eigentlich sprechen wir ja vier Sprachen: Deutsch, Dänisch, Sønderjysk und das nordschleswigsche Deutsch, das eigentlich eine eigene Sprache ist.“

Ursula Petersen meint, man kann seine Minderheiten-Identität nur selbst definieren. Foto: Karin Riggelsen

Anderes Geschichtsverständnis

Es ist jedoch bei Weitem nicht nur die Zwei- beziehungsweise Mehrsprachigkeit, die die Minderheit ausmacht. Das Aufwachsen und Leben in (mindestens) zwei Kulturen und im Grenzland, das Knivsbergfest, der Faustball, das Sønderjysk Kaffebord, das Lottospiel sowie die Verbände sind ebenfalls identitätsstiftend.

„Wir tanzen nach dänischer Tradition um den Weihnachtsbaum, singen dabei jedoch deutsche Lieder“, berichtet Ursula Petersen.

Und so kann auch Katharina Kley bei sich Unterschiede in der Denkweise im Vergleich zu rein dänischen Freundinnen und Freunden erkennen.

„Vor allem, wenn es um das Geschichtsverständnis geht, reden wir anders darüber. Unser Verhältnis zum Nationalen unterscheidet sich, und ich finde, dass wir uns stärker mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen“, meint sie.

Hinrich Jürgensen bei der diesjährigen Gedenkfeier auf den Düppeler Schanzen Foto: Karin Riggelsen

Öffnung der Minderheit

Genau diese Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte – vor allem auch mit den dunklen Kapiteln während der Nazizeit – sieht Jürgensen als einen der Prozesse, die zur Entwicklung der Minderheit und damit des Zusammenlebens im Grenzland beigetragen haben.

„Es spielen sicherlich viele Faktoren eine Rolle dafür, dass wir vom Gegeneinander übers Miteinander zum Füreinander gehen konnten. Die Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte hat dabei jedoch eine große Rolle gespielt“, so die Einschätzung des BDN-Chefs.

Petersen sieht den Unterschied nach ihrer „Rückkehr“ in die Minderheit vielleicht noch deutlicher. Gegen Deutsche gerichtete dumme Sprüche, wie sie sie aus ihrer Kindheit kennt, seien seltener geworden. Und auch die Minderheit habe sich deutlich gewandelt.

„Damals war es doch sehr eine ‚Boble‘ (Blase), die sich nach außen verschlossen hat. Das hat sich total verändert. Diese Starre ist aufgebrochen worden, und das Wort ‚weltoffen‘ steht jetzt zu Recht in unserem Motto.“

„Mir hat das Aufwachsen in zwei Kulturen auch einen internationalen Ausblick bereitet. Denn wenn es supergut ist, zwei Sprachen zu sprechen, dann kann es ja nur noch besser sein, mehr Sprachen zu sprechen. Es hat in mir eine Neugierde für andere Kulturen geweckt“, berichtet Kley.

Für Katharina Kley bedeutet Minderheit auch internationaler Ausblick. Foto: Nina Stein

Die Gratwanderung

Die Entwicklung der Minderheit dürfe nie stehen bleiben, meint Jürgensen. „Es ist eine immerwährende Gratwanderung zwischen Integration und Assimilation. Wir müssen an unseren eigenen Traditionen festhalten, über unsere eigene Geschichte Bescheid wissen.“

„Ich meine, wir müssen uns ständig mit der Frage der Identität befassen und uns auch, was das anbelangt, ständig weiterentwickeln – die Positionen kritisch betrachten“, sagt Kley.

Die drei sind sich einig, dass es nicht die eine Minderheiten-Identität gibt, sondern dass jeder die Frage nur für sich beantworten kann.

„Die Minderheit ist bunt, nicht schwarz-weiß“, so Jürgensen.

„Ich habe mir aus den unterschiedlichen kulturellen Einflüssen meine eigene Identität gebildet. Und ich denke, das gilt für alle in der Minderheit. Und in Zukunft kann diese Identität wieder ganz anders aussehen“, sagt Petersen.

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