Analyse

„Brüssel und Berlin hätten das Ungarn-Dilemma der FUEN verhindern können“

Brüssel und Berlin hätten das Ungarn-Dilemma der FUEN verhindern können

Brüssel und Berlin hätten Ungarn-Dilemma verhindern müssen

Apenrade/Aabenraa
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Der FUEN-Gipfel endete am Sonnabendabend in Berlin – doch die Frage, ob die FUEN auch bei Geberländern Prinzipien einfordern sollte, stellt sich weiterhin. Foto: FUEN/László Mihály

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Orbán verurteilen oder ungarisches Geld kritiklos einstecken? Auf dem FUEN-Gipfel in Berlin gab es dazu eine intensiv geführte Debatte. Cornelius von Tiedemann bedauert in seinem ausführlichen Kommentar, dass es überhaupt so weit hat kommen müssen.

Die FUEN sei kein Vehikel für allgemeine politische Auseinandersetzungen – sondern strikt auf Minderheitenpolitik begrenzt, so ihr frisch wiedergewählter Präsident, der Rumänien-Ungar Loránt Vincze, am Sonnabend auf der Delegiertenversammlung des Dachverbandes europäischer nationaler Minderheiten.

Eine Debatte dazu, ob die FUEN sich kritisch zu Ungarn und seinen autokratischen Präsidenten Victor Orbán äußern solle, ließ er dennoch zu – eine Eilresolution allerdings nicht.

 

Hintergrund

• Die FUEN bekennt sich in ihrer Charta unter anderem zu den Prinzipien von „Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; Toleranz und gegenseitiger Achtung“ und zu „einem Europa der Vielfalt sowie zu den unveräußerlichen Werten und dem geistigen Erbe unseres Kontinents“.

• Europäische Institutionen sprechen der ungarischen Regierung ab, denselben Grundsätzen zu folgen.

• Ungarn unterstützt die FUEN finanziell.

• FUEN-Präsident Vincze, selbst Ungar aus Rumänien, lobt Ungarn dafür und für eine vorbildliche Minderheitenpolitik. Dasselbe tun Vertreterinnen und Vertreter ungarischer Minderheiten in Europa und von Minderheiten in Ungarn.

• Vincze bezeichnet die kritische Berichterstattung über Ungarns Regierung in Deutschland als „einseitig“.

• Bisher sind keine Fälle bekannt, in denen Ungarn Einfluss auf die FUEN nehmen wollte.

• Mehrere Delegierte von Minderheitenverbänden ohne Bezug zu Ungarn würden es gerne sehen, dass die FUEN Regierungen kritisiert, die nicht nach den Prinzipien der FUEN-Charta agieren.

• Dazu wollten sie eine Resolution erwirken und reichten einen entsprechenden Entwurf ein.

• Andere Verbände stützen Vinczes Argumentation, der sagt, die FUEN solle sich ausschließlich zu Problemen positionieren, die spezifisch autochthone, nationale Minderheiten betreffen.

• Vincze fürchtet ansonsten eine Spaltung der FUEN durch „ideologische Auseinandersetzungen“.

• Kritikerinnen und Kritiker verwahren sich dagegen, das Beharren auf Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als „ideologisch“ zu bezeichnen.

• Eine Abstimmung über eine Resolution wurde aus formellen Gründen nicht zugelassen, eine kurze Aussprache zum Thema endete ohne Einvernehmen.

 

Vincze verteidigte Ungarn: Ein kluger Schachzug?

Dass sich der FUEN-Präsident dabei dazu hinreißen ließ, in einer emotionalen Rede die Debatte für beendet zu erklären, indem er die ungarische Minderheitenpolitik und ihre finanzielle Förderung als europaweit einzigartig und vorbildlich rühmte, hinterließ bei manchen einen bitteren Nachgeschmack. Zumal, weil dieser Umstand zuvor von keiner Seite bestritten worden war.

Vinczes Darstellungen, in Deutschland würde einseitig über Ungarn berichtet, es handele sich um eine ideologisch geführte Debatte und es gebe eben unterschiedliche Arten von Demokratie, dürften ebenfalls nicht dazu beigetragen haben, das Vertrauen in die Unabhängigkeit der FUEN unter seiner Führung zu stärken.

Und das, obwohl es bisher keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass Ungarn sich politisch bei der FUEN einmischt oder für sein Geld Gegenleistungen erwartet. Das bestätigte das Präsidium in Berlin und so bestätigen es informierte Kreise dem „Nordschleswiger“.

Es geht um mehr als Ungarn: Es geht um die Grundlagen der europäischern Gemeinschaft

Dass die Eilresolution nicht zustande gekommen ist und dass sich Vincze ganz eindeutig gegen ihre Intention ausgesprochen hat, heißt deshalb noch lange nicht, dass das Thema damit vom Tisch ist. Im Gegenteil.

Denn es geht hier ums Prinzip. Das mag nicht jedem schmecken. Doch definitionsgemäß sind einmal angenommene Prinzipien dazu da, zu ihnen zu stehen. Wer es nicht tut, gilt unter jenen, die den gemeinsamen Grundlagen treu sind, nicht länger als vertrauenswürdig.

Und der FUEN-Präsident wird fortan mit dem Etikett leben müssen, sich nicht von Orbán, der nachweislich nicht mehr zu denselben Prinzipien steht wie die FUEN, distanziert, ja, ihn gar als vom Westen verunglimpften Saubermann der Minderheitenpolitik verteidigt zu haben. Und somit, kommt es hart auf hart, nicht zu den Prinzipien der FUEN zu stehen.

 

Vincze brachte valide Argumente vor: FUEN muss für alle offen sein

 

Dabei hat Vincze ja nicht gelogen, im Gegenteil: Ungarn hat die FUEN vor dem Bankrott gerettet. Und ja, es ist nicht Aufgabe der FUEN, sich Regierungen zum Feind zu machen. Der Verband muss ein vertrauenswürdiger Partner auch für Regierungen bleiben, deren Entscheidungen den liberalen Demokratinnen und Demokraten Europas nicht behagen. Und deren Chefs Ansichten äußern, die für Personen mit Verantwortung für andere Menschen, zumal für ganze Bevölkerungen, schlicht nicht tolerabel sind.

Ein Dilemma: Prinzipientreue und Glaubwürdigkeit aufrechterhalten – versus praktische Lösungen suchen, um zu inkludieren und zu beschwichtigen.

Kritiklosigkeit entspricht nicht den Prinzipien der FUEN

Vincze löst das Dilemma mit seinem Verweis, die FUEN nicht spalten zu wollen, nicht auf, sondern verfestigt es. Er reagiert auf die prinzipielle, grundsätzliche Frage mit einer der Gelegenheit entsprungenen Antwort.

Doch ist seine Antwort deshalb falsch?

Nein. Aber sie entspricht nicht den Grundsätzen der FUEN.

Denn: Wenn die FUEN ihren Prinzipien treu bleiben soll, kann sie kein Geld annehmen, ohne darauf zu verweisen, dass sie dies in der Hoffnung, ja, in dem Glauben tut, dass der Geber sich den Prinzipien des Verbandes anschließt. Nicht nur in spezifischen Fragen, sondern grundsätzlich.

Prinzipiell eben.

In anderen Worten: Wenn es Prinzip der FUEN ist, auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu bestehen, dann kann die FUEN es nicht zulassen, kritiklos Geld von Regierungen anzunehmen, die diese Prinzipien eigener Auslegung nach neu definieren – in Wirklichkeit aber schlicht untergraben und zersetzen.

FUEN lässt sich auf das Spiel der Populisten ein: Prinzipien werden zu austauschbaren Meinungen degradiert

Gibt sie also die von Vincze favorisierte praktische Antwort und setzt darauf, Regierungen mit abweichenden Auffassungen von Recht und Demokratie kritiklos zu inkludieren, dann öffnet sie nicht ein grundsätzlich intaktes, sondern ein somit bereits prinzipiell korrumpiertes System für diese Regierungen.

Sie opfert eigene Grundsätze, um sich jenen Kräften zu nähern, die die von der FUEN einst beschlossenen Prinzipien für verhandelbar oder Interpretationssache halten – und schließt sich ihnen in letzter Konsequenz somit an.

Zumindest, um es weniger orthodox auszulegen: Sie setzt sich damit jenem Wettbewerb aus, den die Verfechterinnen und Verfechter des Nationalkonservatismus aus Budapest, Warschau, Stockholm, Kopenhagen und Rom nur zu gern provozieren.

Der Rechtsstaat als Spielball

Prinzipien gegen Aktionismus, Grundsätze gegen Populismus. Nicht zufällig, sondern um ihnen den Status unverrückbarer Grundsätze abzusprechen, bezeichnen sie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als „Ideologie“.

Die FUEN lässt sich mit dem Verzicht auf Kritik an Ungarns Regierung auf dieses Spiel ein. Ein äußerst riskanter Schritt.

Ein Schritt, der nur dann eine Chance auf Erfolg im Sinne der FUEN-Prinzipien haben kann, wenn die progressiven, pluralistischen Kräfte in Europa stark und zuversichtlich bleiben. Und das kann nur gelingen, wenn sie die Strukturen ausbauen und finanziell festigen, die Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte für alle gesellschaftlichen Gruppen und Individuen in allen Mitgliedsstaaten sicherstellen.

Strukturen, die, mit anderen Worten, dafür sorgen, dass sich ihre Prinzipien und die der FUEN im Wettbewerb gegen den chauvinistischen Autoritarismus durchsetzen können.

Autokratischer Einfluss könnte aus den Nationalstaaten die europäische Ebene infiltrieren

Ansonsten kann die autokratische Gefahr aus Polen oder Ungarn, die auch in westlichen Parlamenten und Regierungen, die auch in Deutschland und Dänemark Fürsprecherinnen und Fürsprecher hat, ihren Einfluss in unseren europäischen Einrichtungen und Organisationen ungehindert ausweiten. Und so nach den nationalen auch die europäischen Strukturen infizieren.

Die EU könnte hier mit dem in Aussicht gestellten festen Förderbeitrag von 800.000 Euro jährlich für die FUEN erste Fakten schaffen – wenngleich das Dilemma auch damit nicht gelöst wäre.

EU und Bund haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht

Ein Dilemma, das überhaupt nur deshalb so aktuell werden konnte, weil weder Bundesregierung noch EU bisher auf die Idee gekommen sind, die Inklusions-, Demokratisierungs- und Friedensmission der FUEN zuverlässig und nachhaltig zu fördern.

Hier haben diejenigen, die die autokratischen Entwicklungen in einigen EU-Staaten kritisieren und ihnen in Reden und Resolutionen den Kampf ansagen, ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Es ist zum Haareraufen, dass es nun wieder die Minderheiten sind, die dieses Versäumnis in einer Zerreißprobe ausbaden müssen.

Brüssel und Berlin hätten das Ungarn-Dilemma der FUEN verhindern können – ja, im eigenen Interesse verhindern müssen.

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Kirsten Bachmann

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