Portrait

Wie Nordschleswig Benny Engelbrechts Sicht auf die Geschichte und Politik geprägt hat

Nordschleswig hat Benny Engelbrechts Sicht auf Geschichte und Politik geprägt

Was Zuzügler Benny Engelbrecht in Nordschleswig gelernt hat

Kopenhagen
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In Benny Engelbrecht Büro steht (selbstverständlich) Tom Buk-Swientys Buch über die dänische Niederlage bei Düppel. Der Wegner-Stuhl stand einst im Büro des ehemaligen Vorsitzenden der Sozialdemokratie Svend Auken. Foto: Walter Turnowsky

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Der sozialdemokratische Politiker, wohnhaft in Atzbüll bei Gravenstein, nennt sich selbst einen „politischen Handwerker“, dem die Ergebnisse wichtig seien. Im Hintergrund schwingen jedoch immer seine Kindheit und Jugend in einfachen Verhältnissen sowie sein historisches Bewusstsein mit.

Als Mia Wagner (Venstre) Anfang Dezember nach nur zwei Wochen als Gleichstellungs- und Digitalisierungsministerin zurücktreten musste, setzte sich der sozialdemokratische Folketingsabgeordnete Benny Engelbrecht bei X (Twitter) an die Tasten.

Medien hatten eine Liste von den zehn Ministerinnen und Ministern veröffentlicht, die am kürzesten im Amt waren. Die Liste ging jedoch nur bis zur Einführung des jetzigen Grundgesetzes 1953 zurück. Für Engelbrecht ein Zeichen von fehlendem Geschichtsbewusstsein.

„Man vergisst vollkommen die Regierung Otto Liebe. 1920 musste nach lediglich sechs Tagen nicht nur der Staatsminister, sondern das gesamte Kabinett zurücktreten“, sagt er mit hörbarem Engagement in der Stimme.

Die Osterkrise

Die durch die schleswigsche Frage ausgelöste Osterkrise 1920 sollte allen politisch interessierten Menschen ein Begriff sein, meint Engelbrecht. Nach der Volksabstimmung 1920 weigerte sich Staatsminister Carl Theodor Zahle von Radikale Venstre, die Bestrebungen der Konservativen und Venstre zu einer Eingliederung von Flensburg (Flensborg) zu unterstützen.

Nachdem ich jetzt 33 Jahre im Grenzland gewohnt habe, hat sich auch meine Sicht auf andere Teile des Landes geändert.

König Christian X. entließ Zahle, nachdem dieser keine Neuwahlen ausschreiben wollte. Er ernannte stattdessen den Haderslebener Otto Liebe zum Regierungschef. Das löste große Demonstrationen gegen den König aus und ein Generalstreik wurde angekündigt. Der König lenkte ein und entließ Liebe.

„Das ist ein ganz entscheidendes Ereignis für die dänische Demokratie, dass die Rolle des Königshauses definiert. Wir gelangen dadurch zu der konstitutionellen Demokratie, wie wir sie heute kennen“, sagt Engelbrecht.

Von der Hauptstadt nach Nordschleswig

Für ihn selbst wurde die zentrale Bedeutung der schleswigschen Geschichte für die Geschichte Dänemarks deutlich, nachdem er als 20-Jähriger aus der Hauptstadt nach Sonderburg gezogen war.

Mein Heranwachsen ist vom dänischen Wohlfahrtsstaat geprägt. Wir drei Brüder erhielten Chancen aufgrund der Gesellschaft, nicht weil unsere Eltern reich waren.

„Man kann ja nicht durch die nordschleswigsche Landschaft wandern, ohne dass einen ein Stein daran erinnert, was in den schleswigschen Kriegen geschah. Nachdem ich jetzt 33 Jahre im Grenzland gewohnt habe, hat sich auch meine Sicht auf andere Teile des Landes geändert“, so der sozialdemokratische Politiker.

Geboren ist der 53-Jährige im Kopenhagener Stadtteil Amager. Sein Vater war Typograf und nach harten Arbeitstagen kaum mental anwesend, wie Engelbrecht in der von seinem Bruder Flemming Sørensen geschriebenen Biografie „Selvlært“ erzählt. Seine Mutter erkrankte früh an Krebs und hatte auch psychische Leiden. Sie wollten gute Eltern sein, meisterten laut der Biografie die Aufgabe jedoch nicht.

Der kleine Sozialdemokrat

Dieses soziale Erbe und vor allem die Tatsache, dass er und seine beiden Brüder es durchbrechen konnten, sind wichtige Gründe, weshalb Engelbrecht überzeugter Sozialdemokrat wurde.

„Mein Heranwachsen ist vom dänischen Wohlfahrtsstaat geprägt. Wir drei Brüder erhielten Chancen aufgrund der Gesellschaft, nicht weil unsere Eltern reich waren.“

Sozialdemokrat – zumindest im Herzen – wurde er bereits als kleiner Junge, als er die 1. Mai-Kundgebungen im Fælledparken besuchte. Zwar war er primär zum Flaschensammeln dort, und an den konkreten Inhalt der Reden erinnert er sich auch nicht mehr, aber der damalige Vorsitzende der Sozialdemokratie, Anker Jørgensen, hat dennoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Bei Anker war man sich immer sicher über sein Engagement für gesellschaftliche Fragen. Das war entscheidend für die Wahl meiner parteipolitischen Zugehörigkeit.“

Zur Kandidatur überredet

Das Parteibuch sollte Engelbrecht jedoch erst etliche Jahre später bekommen. Zunächst hatte er Pläne, Journalist zu werden und wollte der Objektivität wegen nicht Mitglied einer Partei sein. Erst als er die Berufspläne änderte, weil sein Bruder Flemming Lehrer an der Journalistenschule wurde, trat er zwei Jahre nach dem Umzug nach Sonderburg der Sozialdemokratie bei.

Er arbeitete im Marketing und in der Kommunikation. Eine Zeit lang war er auch Moderator bei „Radio Sønderborg“. Als der damalige Gravensteiner Bürgermeister Bent Olsen (Soz.) ihn aufforderte, im Kreis Sonderburg 2007 für das Folketing zu kandidieren, war er zunächst schwer zu überzeugen, da er sich als Nicht-Nordschleswiger kaum Chancen ausrechnete.

Die Osterkrise

Hintergrund

Bei der Volksabstimmung 1920 stimmte eine Mehrheit in Flensburg zugunsten von Deutschland. Die bürgerlichen Parteien Venstre und die Konservativen forderten jedoch, dass südlich der heutigen Grenze eine neutrale internationale Zone eingerichtet wird – in der Hoffnung, die Mehrheitsverhältnisse würden sich ändern. Die von der Sozialdemokratie unterstützte Regierung des Radikalen Carl Th. Zahle meinte dagegen, man solle das Ergebnis der Volksabstimmung respektieren. Im Folketing stimmten 71 Abgeordnete für diese Lösung, 69 dagegen.

Beginn der Krise

König Christian X. forderte vor dem Hintergrund der knappen Mehrheitsverhältnisse von Zahle, er solle Neuwahlen ausschreiben. Zahle weigerte sich, dies zu tun, bevor ein neues Wahlgesetz erlassen worden war, worauf der König ihn entließ. Stattdessen ernannte er den königlichen Anwalt Otto Liebe zum Staatsminister. Dieser sollte die Neuwahlen ausschreiben.

Zuspitzung

Die Sozialdemokratie und die Radikalen sahen das Vorgehen des Königs als grundgesetzwidrig. Es kam am Ostersonnabend zu großen Demonstrationen, bei denen der Rücktritt des Königs und die Einführung einer Republik gefordert wurde. Die Gewerkschaften drohten mit einem Generalstreik.

Der Kompromiss

Der König kam zunehmend unter Druck und am Ostermorgen, dem 4. April, gab er nach und entließ die Regierung Liebe. Stattdessen ernannte er auf Anraten des späteren sozialdemokratischen Staatsministers Thorvald Stauning eine unpolitische Regierung unter M. P. Friis. Diese reformierte das Wahlgesetz und führte am 26. April Neuwahlen durch.

Die Konsequenzen

Seit der Osterkrise nahm das Königshaus eine zurückgezogene und vornehmlich repräsentative Rolle in der Politik ein. Die Königin ernennt und entlässt zwar weiterhin laut Grundgesetz die Regierung, doch geschieht das nur noch auf der Grundlage parlamentarischer Mehrheiten. Man spricht von einer konstitutionellen Monarchie.

Quelle: Den Store Danske

Olsen zählte ihm daraufhin Namen von Politikerinnen und Politikern, gewählt in Sonderburg auf, die ebenfalls nicht im Landesteil geboren sind.

„Er sagte: Du hast dich so stark für die Kultur und andere Belange eingesetzt. Keiner hat Zweifel an deinem Engagement für das Lokalgebiet.“

Der politische Handwerksgeselle

Und so zog er am 13. November 2017 ins Folketing ein. Im Marschgepäck hatte er die sozialdemokratische Überzeugung, die ihm erstmalig im „Fælledparken“ bewusst wurde.

„Für mich geht es um das sozialdemokratische Gesellschaftsmodell, bei dem wir Schulen, Gesundheitswesen, Sozialsystem und so weiter über Steuern finanzieren. Die Ideologie ist mir wichtig, aber die Bewahrung und Weiterentwicklung des sozialdemokratischen Gesellschaftsmodells sind mir wichtiger.“

Benny Engelbrecht fühlt sich auf den Gängen von Christiansborg fast heimisch. Foto: Walter Turnowsky

Wenig überraschend also, dass Engelbrecht sich vor allem als Pragmatiker einen Namen gemacht hat. Selbst bezeichnet er sich in einem weiteren Buch als „politischen Handwerker“. Quasi seine Gesellenprüfung konnte er kurz nach Einzug ins Parlament als Verbrauchersprecher seiner Fraktion ablegen.

Wenn man mich fragt, was es braucht, um auf Christiansborg Erfolg zu haben, lautet meine Antwort, man muss Beziehungen zu Politikerinnen und Politikern in anderen Parteien aufbauen und pflegen.

Ungewohnte Allianzen

Es gelang ihm, gegen den Willen der damaligen Regierung durchzusetzen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher auf der Verpackung von Hühnchen sehen können, wie viel Wasser eventuell in das Fleisch gepumpt worden ist. Eine für die Zeit ungewöhnliche Allianz mit der Dänischen Volkspartei machte es möglich.

„Das gelang nur, weil ich unkonventionell dachte. Es war damals nicht gerade üblich, dass Sozialdemokraten die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien anstrebten, um Ergebnisse zu erzielen.“

Seither konnte Engelbrecht als Finanzsprecher sowie als Steuer- und als Transportministerposten deutlich weitreichendere Ergebnisse erzielen als die Lauge in Hähnchenbrüsten. Den Pragmatismus und das Schmieden von Allianzen hat er jedoch aus seiner Gesellenprüfung für die weitere Laufbahn mitgenommen.

Es kann durchaus sein, dass die Bevölkerung die Vorteile der SVM-Regierung bisher nicht ganz erkannt hat, aber ich sehe sie als einen großen Gewinn für die dänische Demokratie.

Benny Engelbrecht

4. August 1970 auf Amager geboren

1990/1901 Umzug nach Sonderburg

Seit 2007 Folketingsmitglied für die Sozialdemokratie

Vorsitzender des Südschleswigausschusses

2014-2015 Steuerminister

2019-2022 Transportminister

Derzeit Finanzsprecher und Fraktionssekretär

Wohnhaft in Atzbüll (Adsbøl)

„Wenn man mich fragt, was es braucht, um auf Christiansborg Erfolg zu haben, lautet meine Antwort, man muss Beziehungen zu Politikerinnen und Politikern in anderen Parteien aufbauen und pflegen.“

Als Engelbrecht Mette Frederiksen unterstützte

Auch parteiintern hatte er mit seinen Allianzen nicht unbedingt Pech – man könnte auch sagen, er hat den richtigen Riecher gehabt. Er hatte ursprünglich Helle Thorning Schmidt als Parteivorsitzende unterstützt. Als sie ihren Rücktritt bekannt gab, wurde er von seinem Parteiflügel, dem einflussreichen Kaffeeklub „Morgenmadsklubben“ auserkoren, bekannt zu geben, er würde Mette Frederiksen als Nachfolgerin empfehlen. Engelbrechts Karriere wird es nicht geschadet haben.

Geschadet hat es ihm allerdings, als die linke Einheitsliste der sozialdemokratischen Alleinregierung von Mette Frederiksen aufgrund ihrer Klimapolitik eines auswischen wollte. Sie zwang ihn, als Verkehrsminister wegen einer eher geringfügigen Sache zurückzutreten. Engelbrecht nahm es hin, dass er den Kopf hinhalten musste. Er wird seinem Ruf als äußerst loyaler Mann seiner Partei gerecht.

Begeistert von der SVM-Regierung

Bei den parteiinternen Diskussionen kann er durchaus mit Nachdruck seine Ansichten vertreten, aber „man muss ja nicht in aller Öffentlichkeit streiten“. Wiederum bestätigt sich, dass ihm Lösungen – und zwar von der sozialdemokratischen Sorte – am wichtigsten sind.

Benny Engelbrecht liebt Kompromisse und die breite Zusammenarbeit. Foto: Walter Turnowsky

Es mag daher auch nicht überraschen, dass der Mann der Allianzen ein ausgesprochener Fan der Koalition mit den einstigen politischen Gegnern von Venstre und den Moderaten von Ex-Venstrechef Lars Løkke Rasmussen ist. Den Konsens in der Mitte und die Einschränkung des Einflusses der Außenflügel sieht er als erstrebenswert.

„Es kann durchaus sein, dass die Bevölkerung die Vorteile der SVM-Regierung bisher nicht ganz erkannt hat, aber ich sehe sie als einen großen Gewinn für die dänische Demokratie“, sagt er mit einer gewissen Untertreibung. Die Zustimmung für die drei Regierungsparteien ist von knapp über 50 Prozent bei der Wahl auf unter 40 Prozent in den Umfragen abgesackt.

Die Lehre aus Bismarcks Angebot

Doch, wie der geschichtsinteressierte Engelbrecht weiß, lassen sich Umfragen durchaus umdrehen. Er meint zwar nicht, dass man in den Geschichtsbüchern unbedingt die Antworten auf die heutigen politischen Probleme finden könne, schon aber, dass man daraus lernen könne. Und wiederum bezieht er sich dabei auf das Grenzland, und ganz konkret auf die dänische Niederlage auf den Düppeler Schanzen.

Er sieht als einen der größten Fehler jemals, dass der damalige dänische Regierungschef, das Friedensangebot Bismarcks und die Teilung Schleswigs ablehnte.

„Dann hätten wir ungefähr die Grenze bekommen, wie wir sie heute haben – nicht ganz, aber fast.“

Es ist unschwer zu erkennen, wie sich die Lehre vom rechtzeitigen Kompromiss wie ein roter Faden durch Benny Engelbrechts politische Karriere zieht.

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