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„Niger und das Mittelmeer als Friedhof“

Niger und das Mittelmeer als Friedhof

Niger und das Mittelmeer als Friedhof

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen/Brüssel
Zuletzt aktualisiert um:
Niger
Die Militärführer, die hinter dem Staatsstreich in Niger stecken (Archivfoto). Foto: Stringer/Reuters/Ritzau

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Die Machtübernahme durch das Militär in einem der bislang stabilsten Staaten Westafrikas hat enorme Auswirkungen, schreibt Jan Diedrichsen in seiner Kolumne „Voices“.

Das Interesse an Afrika ist begrenzt. Zu kompliziert, zu verworren, zu tragisch. Immer Gewalt und Elend. Die Flüchtlingszahlen und dabei leitend vor allem die Überlegungen, wie die Menschen, die aus diesem Elend fliehen, davon abgehalten werden können, nach Europa zu gelangen, stehen im Mittelpunkt.

In der Zwischenzeit ist das Mittelmeer zum Massengrab geworden. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit 2014 mehr als 20.000 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen, im Mittelmeer ertrunken.

Brennpunkt Sahel-Zone

Ein Beispiel für die Gewalt und Perspektivlosigkeit des Kontinents ist die Sahel-Zone. Ein kurzer Überblick: In der nordäthiopischen Region Tigray herrschte bis letztes Jahr Krieg, dann im Sudan, wo ein interner Machtkampf innerhalb eines repressiven Regimes zu massiver Gewalt geführt hat, und in der Zentralafrikanischen Republik, die als Beispiel für das Schlimmste gelten mag, was einer Nation in Afrika passieren kann. Mali, das von mehreren Aufständen, islamischen Extremisten und russischen Söldnern heimgesucht wird. Oder Kamerun, das von einem langen Bürgerkrieg gepeinigt wird, und Burkina Faso, das allein im Jahr 2022 zwei Militärputsche erlebt hat.

Und nun Niger, das als der stabilste Staat in der Region galt. Noch vor wenigen Monaten bezeichnete der US-Außenminister Antony Blinken das Land als „Modell der Demokratie“. Diese Schlussfolgerung stützte sich auf den Erfolg des Präsidenten Mohamed Bazoum, der bei den Wahlen im Jahr 2021 mehr als 55 Prozent der Stimmen erhielt.

Berichten zufolge plante Bazoum die Reorganisation der Präsidentengarde, einer Elitetruppe von Soldaten unter dem Kommando von General Abdourahmane Tchiani, der befürchtete, dass er entmachtet werden würde und sozusagen vorsorglich Bazoum unter Hausarrest setzte.

Staatsstreich in Niger

Was dann folgte, war wie ein Staatsstreich aus dem Bilderbuch. Soldaten traten im staatlichen Fernsehen auf und verkündeten, dass sie den Präsidenten entmachtet und die Verfassung außer Kraft gesetzt hätten. Auch hier spielt der Kreml geschickt die Karten und setzt seine Söldner ein. Wo immer die Söldner der Kreml-nahen Wagner-Mörder auftauchen, haben Zivilisten den Preis dafür bezahlt. Militärregime verlassen sich zwangsläufig auf Gewalt und nicht auf einen Konsens, um das komplexe und schwierige Zusammenspiel von Völkern, Ethnien und Religionen zu vereinen.

Die heutigen Grenzen in Afrika sind größtenteils ohne Änderungen aus der Zeit der europäischen Kolonialherrschaft übernommen. Diese Grenzziehungen waren oft willkürlich und eigenen Interessen der europäischen Kolonisatoren geschuldet, die mit den Bedingungen vor Ort wenig zu tun hatten. In etlichen Fällen fanden Ethnien sich auf beiden Seiten einer Staatsgrenze wieder.

Vielzahl ethnischer Gruppen betroffen

Die Sahelzone beherbergt eine Vielzahl ethnischer Gruppen, die jeweils ihre eigene Kultur, Sprache und Traditionen haben und sich nicht primär mit dem Staat identifizieren, in dem sie leben. Die Fulani, die größte und am weitesten verbreitete ethnische Gruppe in der Sahelzone, sind traditionell Viehzüchter und bekannt für ihre weiträumigen Wanderungen. Sie leben im Senegal, Mauretanien, Mali, Niger, Nigeria, Tschad, Kamerun und Sudan.

Die Tuareg sind ein nomadisches oder halbnomadisches Volk von Hirten und Händlern. Sie sind bekannt für ihre unverwechselbare indigofarbene Kleidung und ihre Beherrschung der weiten Wüstenlandschaften in der Sahelzone, wie z. B. der Wüste Sahara. Ihre Verbindungen zu den „Nationalstaaten“, in denen sie siedeln, sind, wenn überhaupt, äußerst gering ausgeprägt.

Extremistische Gewalt bedroht Europa

Die Gefahr extremistischer Gewalt, die von der Sahelzone ausgeht und Europa bedroht, ist real. Die Islamisten nutzen das wachsende Chaos. Eine verheerende Entwicklung, die den gesamten Kontinent um Jahrzehnte zurückwerfen könnte.

Auf geopolitischer Ebene scheint der Staatsstreich in Niger der sich entwickelnden Koalition von Staaten des Globalen Südens, die sich nun an der Seite Russlands gegen die USA und ihre westlichen Verbündeten stellen, einen neuen Rekruten hinzuzufügen. Die Ausrichtung in Afrika folgt nun den Bruchlinien des Kalten Krieges und das Mittelmeer wird als Friedhof weiter wachsen.

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