Leitartikel

„Warum die geringe Wahlbeteiligung eine Chance für den SSW ist“

Warum die geringe Wahlbeteiligung eine Chance für den SSW ist

Warum die geringe Wahlbeteiligung eine Chance für den SSW is

Flensburg
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Gemeinsame Aktion von SSW und SP am Grenzübergang Pattburg.
Der SSW-Landesvorsitzende Christian Dirschauer, hier bei einer Aktion gegen die Grenzkontrollen, ist glücklich und geehrt darüber, dass die Wählerinnen und Wähler der Partei das Vertrauen ausgesprochen haben. Foto: Gerrit Hencke

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Der Südschleswigsche Wählerverband hat bei der Kommunalwahl in Schleswig-Holstein große Erfolge gefeiert. Die Partei wird offenbar als bodenständige und bürgernahe Alternative wahrgenommen und muss jetzt zeigen, ob sie in Zeiten sinkender Wahlbeteiligung und einer mehr denn je gespaltenen Gesellschaft den Zusammenhalt fördern kann, meint Journalist Gerrit Hencke.

Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) hat die Kommunalwahl in Flensburg für sich entschieden, ist in der Ratsversammlung künftig mit elf Mandaten vertreten und stellt sogar die Stadtpräsidentin oder den Stadtpräsidenten. 24,8 Prozent sind selbst in der SSW-Hochburg ein Erfolg. Die dänische Minderheitenpartei konnte aber auch in Nordfriesland (14,7 Prozent) und im Kreis Rendsburg-Eckernförde (9) ihr Ergebnis verdoppeln und sogar im fernen Kiel mit 8,2 Prozent ihren Stimmenanteil fast verdreifachen. Während auch die Grünen punkten konnten, ließen die anderen etablierten Parteien Federn. 

Der Seidler-Effekt?

Die Partei, die nur im Norden Schleswig-Holsteins angetreten ist, profitiert womöglich nicht nur von kommunalpolitischen Positionierungen, sondern auch von Stefan Seidler. Der Bundestagsabgeordnete des SSW engagiert sich seit seiner Wahl im Oktober 2021 unter anderem für die Stärkung des Grenzlandes und der Minderheiten in Schleswig-Holstein – sei es die Forderung nach der Abschaffung der Grenzkontrollen oder die nach einem besseren ÖPNV und einem stärkeren grenzüberschreitenden Bahnverkehr. 

Der Seidler-Effekt dürfte nicht zu vernachlässigen sein, denn der Politiker aus Flensburg gibt sich stets bürgernah. So tut es auch der SSW-Landesverband, der im Wahlkampf damit punkten wollte, das Leben der Bürgerinnen und Bürger vor Ort wieder bezahlbarer zu machen – bei Grundsteuern, Kitabeiträgen, Eintrittspreisen oder Gebühren. Wie viel Einfluss die Partei wirklich nehmen kann, um diese hochgesteckten Ziele zu erreichen, wird sich erst zeigen. Dennoch gaben viele Wählerinnen und Wähler, auch aus der Mehrheitsbevölkerung, dem SSW ihr Vertrauen. 

Wobei – viele Wählerinnen und Wähler? Da war doch was. Die unterirdische Wahlbeteiligung nämlich.

Schockierend geringe Wahlbeteiligung

Am Beispiel Flensburg zeigt sich ein Problem, das die Demokratie schon länger gefährdet. An der Förde haben nur 35,8 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt abgestimmt. Im Wahlkreis 3 im Flensburger Norden gaben bei bestem Frühsommerwetter nur 14,3 Prozent der Menschen ihre Stimme ab. 85,7 Prozent sind den kurzen Weg an die Wahlurne nicht gegangen.

Nur 165 Menschen stimmten im „Wahllokal Waldschule 1“ ab, 1.710 wären berechtigt gewesen. Das sind traurige 9,6 Prozent. Der SSW holte hier 35,2 Prozent, weil 58 Wählerinnen und Wähler für ihn stimmten. Im Wahllokal Kita Neustadt gewannen die Grünen mit 30,4 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 19,2 Prozent. In anderen Wahlbezirken sah es nur bedingt besser aus.

Kommunalpolitik bestimmt den eigenen Tagesablauf

Das Ganze passiert bei einer Wahl, die wichtiger ist als jede Landtags- oder Bundestagswahl. Mit ihrer Stimme entscheiden die Wählerinnen und Wähler, was direkt bei ihnen vor Ort politisch, wirtschaftlich und kulturell passiert. In Flensburg geht es etwa um die zukünftige Entwicklung der Innenstadt, um Mobilität und Verkehrswende, um Umweltvorhaben, den Hafen-Ost, den Klinik-Neubau und, und, und.

Flensburgs Oberbürgermeister Fabian Geyer brachte es im kürzlich veröffentlichten Interview mit dem „Nordschleswiger“ auf den Punkt: „Was bedeutet es eigentlich, an der Kommunalpolitik teilzuhaben? Was wählt man da eigentlich? Man wählt seinen Tagesablauf, der im Grunde zu 90 Prozent von der Kommunalpolitik und der Verwaltung bestimmt wird. Ob der Bus pünktlich oder das Wasser beim Duschen warm ist.“ 

Schaut man in die sozialen Medien, so wird über viele Vorhaben und deren Umsetzung in Flensburg heiß diskutiert und viel geschimpft. Warum geben die Menschen, die unzufrieden sind, dann nicht ihre Stimme ab? Die Politikverdrossenheit ist kein rein deutsches Phänomen, aber seit Jahren auffällig.

Wahlbeteiligung in Dänemark deutlich höher

Schauen wir nach Dänemark, so ist die Wahlbeteiligung hier viel höher. Bei der Kommunalwahl im Jahr 2021 gaben etwa in der Kommune Apenrade 66,54 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Kommune Sonderburg waren es 69,07 und in Tondern sogar 69,81 Prozent – fast doppelt so viel wie in Flensburg. Immerhin: In den schleswig-holsteinischen Kreisen lag die Wahlbeteiligung höher, beispielsweise in Nordfriesland bei 53 Prozent, im Kreis Schleswig-Flensburg bei 54 Prozent.

Vergleicht man das Gefälle von der Bundestags- bis zur Kommunalwahl, wird allzu deutlich, wie wenig Interesse an der direkten Bestimmung der Politikerinnen und Politiker vor Ort vorhanden ist. Am vergangenen Sonntag gaben insgesamt weniger als die Hälfte der Menschen in Schleswig-Holstein (49,5 Prozent) ihre Stimme ab, um Volksvertreterinnen und -vertreter in die Kommunalparlamente zu wählen. Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr lag die Wahlbeteiligung bei 60,3 Prozent, bei der Bundestagswahl 2022 waren es 76,6 Prozent. 

Zum Vergleich: Bei der Folketingswahl 2022 gaben in Dänemark 84,2 Prozent der Menschen ihre Stimme ab. Und blickt man auf die in Dänemark politisch weniger bedeutsame Regionsratswahl (Regionsrådsvalg), lag die Beteiligung 2021 in allen Regionen mit 64 bis 69 Prozent sogar über der der Landtagswahl in Schleswig-Holstein. 

Entfremdung von der Politik

„Die Demokratie, wie ich sie verstehe, muss den Schwächsten die gleichen Chancen zusichern wie dem Stärksten“, sagte einst Mahatma Gandhi. Hier könnte der springende Punkt für die Politikverdrossenheit der Deutschen und den Erfolg des SSW liegen.

2016 zeigte eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, dass die Befragten überwiegend ein sehr negatives Bild von Politikerinnen und Politikern haben. Diese seien unehrlich und nicht authentisch. Im Alltag der Nichtwählerinnen und -wähler spiele Politik demnach kaum eine Rolle, da sie als abgehoben und entfremdet wahrgenommen wird.

Da ist ein Bundeskanzler, der den Literpreis für Benzin nicht kennt. Oder ein Bundesverkehrsminister, der ohne persönliche Konsequenzen zu fürchten, Milliarden Euro Steuergelder für eine Pkw-Maut in den Sand setzen kann, während andere nicht wissen, wovon die nächste Stromrechnung bezahlt werden soll. Oder die Vorteilsnahme einiger Politiker in der Maskenaffäre: Das alles lässt viele Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren. „Die da oben machen eh was sie wollen und stopfen sich nur die eigenen Taschen voll“ ist ein Spruch, der sich immer wieder in verschiedenen Formulierungen finden lässt.

Wer nicht wählt, der glaubt laut der erwähnten Studie generell nicht daran, dass Politik ihr Leben positiv beeinflussen kann. Dabei ist in Problemvierteln mit hohem Arbeitslosen- und Migrationsanteil der Anteil der Nichtwählerinnen und -wähler besonders hoch – wie etwa im Flensburger Norden. Die Wahlbeteiligung sinkt vor allem entlang der Linien Einkommen und Bildung. Weil die Kluft zwischen Arm und Reich wächst und auch die Mittelschicht an den Rändern bröselt, fühlen sich viele Menschen von der Politik vergessen und abgehängt. Politische Gleichheit, auf der die Ideale der Demokratie aufbauen, ist für viele nicht mehr spürbar. Die Ungleichheit wächst, was zu Spannungen und Polarisierungen in der Gesellschaft führt. Das ist ein Problem, was sich auch in der Wahlbeteiligung widerspiegelt.

Mehr Bildung und soziale Gleichheit

Wie man in den skandinavischen Ländern sieht, trägt der Wohlfahrtsstaat offenbar zu einem Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Mit hohen Beschäftigungsraten, hoher Jobmobilität, hohem Lohn- und niedrigem Armutsniveau. Staat und Politik haben dadurch einen anderen Stellenwert, und die Wahlbeteiligung fällt höher aus.

Der fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft in Deutschland müsste also durch mehr Chancengerechtigkeit begegnet werden. Durch bessere Integration in den Arbeitsmarkt, mehr Investitionen in Bildung, Kinderbetreuung und Gesundheitsvorsorge.

So lässt sich vielleicht auch der Erfolg des SSW erklären, der offenbar als bodenständig und bürgernah wahrgenommen wird, Politik skandinavisch gestalten und sich am Wohlfahrtsstaat orientieren will, um den Menschen soziale Sicherheit zu geben. Dort, wo die Partei angetreten ist, war sie womöglich eine Alternative zu den großen Parteien und eine Alternative zu Gruppierungen an den politischen Rändern. Eine Form der Protestwahl, nach der der SSW jetzt zeigen muss, ob er das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger auch langfristig gewinnen kann.

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