Kommentar

„Paragraf 114j – das Gesetz im dänischen Strafrecht, das am Ziel vorbeigeht“

Paragraf 114j – das Gesetz im dänischen Strafrecht, das am Ziel vorbeigeht

Paragraf 114j – ein Gesetz geht am Ziel vorbei

Apenrade/Aabenraa
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Wenn die dänische Regierung Menschenrechte aufs Spiel setzt, um ein Gefühl der Sicherheit zu erzeugen, dann sollten wir wachsam sein. Dabei sollte jeder Fall, auch wenn er nur Einzelne betrifft, wichtig sein, erklärt „Nordschleswiger“-Mitarbeiterin Hannah Dobiaschowski anhand eines Urteils des EGMR.

Am 18. Oktober machte eine kleine „Ritzau-Meldung“ in den dänischen Medien die Runde: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kam zu dem Urteil, dass Dänemark rechtmäßig gehandelt hat, als es den Nordschleswiger Tommy Mørck zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt hat. Grund für die Verurteilung war der unerlaubte Aufenthalt in der al-Raqqa Region in Syrien. 

Alle Medien haben die Meldung in fast identischem Wortlaut wiedergegeben. Während des Verfahrens am EGMR und nach dem Urteil hat kein Medium bei zuständigen Behörden, Politikerinnen und Politikern oder Folketingskandidatinnen und -kandidaten um eine Stellungnahme gebeten. Lediglich „JydskeVestkysten“ hat sich die Mühe gemacht, beim Betroffenen und seinem Anwalt persönlich nachzufragen.

Diese Vorgehensweise der Medien war vorhersehbar, gab es doch auch in der Vergangenheit ein eher geringes Interesse am Fall Tommy Mørck. Oder zumindest an dem zentralen Problem hinter der ganzen Causa.

Offensichtlich ist: Es gibt ein Gesetz, Mørck hat es übertreten und wurde dafür bestraft. So soll es sein.

„Die Gerichte haben alles richtig gemacht“, sagt Mørck gegenüber dem „Nordschleswiger“. „Sie haben das gemacht, wofür sie da sind, und natürlich musste ich verurteilt werden.“ Vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hatte er sich allerdings mehr erhofft. „Die haben nur darauf geschaut, ob mein Prozess in Dänemark ordentlich geführt wurde, und das wurde er ja. Der Prozess ist aber nicht das Problem, sondern das Gesetz ist das Problem.“ Es schränke das Recht auf Bewegungsfreiheit ein, was zu den Menschenrechten gehört, so Mørck.

Rückschau: Was war passiert? 

Tommy Mørck geht im Herbst 2016 nach Syrien und schließt sich der kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG an, um gegen den IS zu kämpfen. Im selben Jahr hat Dänemark ein Problem. Vermehrt kommt es vor, dass dänische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nach Syrien gehen, um sich dem IS anzuschließen. Das möchte Dänemark aus nachvollziehbaren Gründen nicht. Weil es aber schlicht kaum zu beweisen ist, was Menschen so treiben, wenn sie nach Syrien gehen, verbietet Dänemark einfach die Einreise und den Aufenthalt in bestimmten Gebieten in Syrien. Paragraf 114j im Strafgesetzbuch ist geboren und tritt kurz nach Mørcks Abreise in Kraft.

Doch warum ist dieses Gesetz so problematisch? Weil es die Falschen erwischt. Aus der Begründung für das Gesetz geht hervor, dass es ausdrücklich verabschiedet wurde, um die Teilnahme an terroristischen Organisationen oder Handlungen in Konfliktzonen besser bestrafen zu können. Für eine Strafe ist der Nachweis über den Aufenthalt in diesen ausgewiesenen Konfliktzonen schon ausreichend.

Aber was ist, wenn man, wie in Mørcks Fall, gar nicht an einer terroristischen Handlung teilgenommen hat? Nun, für diesen Fall hat das Justizministerium eingeräumt, dass eine Erlaubnis erteilt werden kann, sofern ein anerkennungswürdiger Zweck vorliegt. Der Anschluss an die YPG wäre allerdings kein solcher Grund gewesen – das ist im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nachzulesen.

Im April 2017 kehrt Tommy Mørck zurück nach Dänemark und wird aufgrund des Paragrafen 114j angeklagt. Es folgen Gerichtsverhandlungen durch alle Instanzen, Mørck verliert jedes Mal. Die Strafe: sechs Monate Haft ohne Bewährung.

Lediglich zwei der sieben Richterinnen und Richter am Höchstgericht befinden, dass die Strafe nur drei Monate auf Bewährung betragen sollte. Das Gesetz ziele nämlich nicht darauf ab, die Teilnahme an einem bewaffneten Konflikt zu bestrafen, sondern terroristische Handlungen zu belangen. Dass dieses Gesetz so breit formuliert ist, sei nur aus Gründen der Beweisführung notwendig.

Juristischer Beifang

Dänemark nimmt also in Kauf, dass durch dieses Gesetz Menschen verurteilt werden, die eigentlich mit dem Gesetz gar nicht gemeint sind. So akzeptiert es eine Art juristischen Beifang. 

Besonders interessant ist an dieser Stelle, dass die Polizei die Befugnis hat zu bestimmen, welche Zonen auf der Verbotsliste landen. Es ist also ein rein bürokratischer Akt einer Behörde.

Mørcks wichtigste Frage hat der EGMR nicht geklärt: Ist es in Ordnung, ein Gesetz so zu formulieren, dass es Menschen betrifft, auf die man gar nicht abzielen wollte?

„Es zeigt, dass diese Systeme nicht funktionieren“, findet Mørck. „Es gibt keine Instanz, die die Sinnhaftigkeit von Gesetzen überprüft und korrigiert.“

Verloren in allen Instanzen

Tommy Mørck hat nun auch in der letzten Instanz verloren. Zurück bleiben ein bitterer Beigeschmack und die Erkenntnis, dass dem Staat, den Medien und auch der Öffentlichkeit dieser Fall schlicht egal ist. 

Ebenso die weitreichenden Folgen für Mørck persönlich. Da dieser Paragraf ein sogenannter Terror-Paragraf ist, verschärft das auch seine Haftbedingungen. Er bekommt keinen Ausgang und nicht die Möglichkeit auf vorzeitige Haftentlassung. 

Am Ziel vorbei

Dabei hatte er mit terroristischen Organisationen oder Handlungen nie etwas zu tun.

Bemerkenswert ist übrigens, dass es Dänemark bisher nie gelungen ist, auch nur einen Menschen aufgrund von Paragraf 114j zu verurteilen, der sich dem IS angeschlossen hat. Dafür aber außer Mørck noch einen weiteren Mann, ebenfalls aus Nordschleswig, der gegen den IS gekämpft hat.

Wenn uns das nicht empört, sollte es uns zumindest zu denken geben. Und wir sollten uns fragen: Wie hoch ist unsere Bereitschaft, für unsere Sicherheit unsere Rechte aufzugeben?

Oder noch konkreter, und wenn wir den Blick auf die Grenze vor unserer Haustür richten: Wie hoch ist die Bereitschaft, unsere Freiheitsrechte aufzugeben, um ein Gefühl der Sicherheit zu haben?

Denn sind unsere Rechte erst mal weg, ist es unfassbar schwer, sie wiederzubekommen. 

Hannah Dobiaschowski ist Dramaturgin und Regisseurin. Sie verfolgt den Fall Mørck seit 2018 und schrieb einen Monolog über seine Reise nach Syrien, der in dänischer Sprache als Hörbuch produziert wurde. Mørck und Dobiaschowski sind in der Vergangenheit mit Lesungen und Diskussionsrunden gemeinsam aufgetreten.

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