Leitartikel

„Klimawandel: Ist in 100 Jahren alles egal?“

Klimawandel: Ist in 100 Jahren alles egal?

Klimawandel: Ist in 100 Jahren alles egal?

Apenrade/Aabenraa
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Besorgniserregende Studien dürfen kein Grund sein, jetzt in Schockstarre zu verfallen. Für Klima-Fatalismus und Nichtstun ist keine Zeit mehr. Der Kampf gegen den Klimawandel fängt im eigenen Haushalt an, schreibt Journalist Gerrit Hencke in seinem Leitartikel.

In diesen Wochen ist es nicht leicht, am Thema Klimawandel vorbeizukommen. Eine neue Studie der Universität Utrecht zieht ihre Kreise. Sie zeichnet ein düsteres Szenario für die nördliche Hemisphäre – und somit auch für uns in Dänemark. Es geht um einen der Kipppunkte des Weltklimas, der laut den Forschenden schon bald erreicht sein könnte.

Auf dem Weg zum Kipppunkt

Eine der zentralen atlantischen Umwälzbewegungen, die Atlantic Meridional Overturning Circulation, kurz Amoc, droht zu erlahmen. Sie ist Teil des Golfstroms und fördert, vereinfacht gesagt, warmes Wasser aus den Tropen in den Norden und sorgt so für das milde Klima in Nordeuropa. Weil aber das Eis am Nordpol immer schneller abschmilzt, kommt das System aus dem Gleichgewicht. Das Team der Universität Utrecht geht davon aus, dass sich die Umwälzpumpe bereits auf dem Weg zum Kipppunkt befindet und in 100 Jahren vollständig zum Erliegen kommen könnte.

Temperatursturz in Dänemark

In unseren Breitengraden würde dies zu einem Temperatursturz von zwei bis drei Grad pro Jahrzehnt führen – der Beginn einer neuen Eiszeit. In der Studie heißt es, dass es keine realistischen Anpassungsmaßnahmen gibt, mit solchen Temperaturveränderungen umzugehen. Eine umstrittene dänische Studie ging im vergangenen Jahr sogar schon von einem früheren Eintreten des Kipppunktes zwischen 2025 und 2095 aus. 

Gestritten wird derzeit um die Wahrscheinlichkeit, ob und wann ein solches Szenario eintritt. Doch statt darüber zu diskutieren, wann etwas passiert, bräuchte es endlich Maßnahmen, den weltweiten Klimawandel so aufzuhalten, dass dieser gar nicht passiert oder zumindest weniger schlimm wird.

Nicht die Augen verschließen

Ein Teil der Menschen leugnet den menschengemachten Klimawandel trotz solcher erdrückenden wissenschaftlichen Erkenntnisse. Es sei doch alles nur Wetter, heißt es dann oft. Auch in meinem Bekanntenkreis. Doch kann man vor dem, was wir auch hier in Nordschleswig in den vergangenen Jahren erleben, wirklich die Augen verschließen?

Lange Zeit dachte ich, der Klimawandel ist etwas, das merken vielleicht meine Kinder irgendwann. Doch die Auswirkungen sind schon für meine Generation deutlich spürbar. Seit den 1970er-Jahren wird in den Nachrichten immer wieder vor dem Klimawandel gewarnt. Es ist etwas, mit dem ich aufgewachsen bin. Ich erinnere mich an Nachrichtensendungen, die schon in den 1990er- und 2000er-Jahren von drohenden Szenarien berichteten.

Wetterextreme und anhaltende Wetterlagen

Heute sage ich, es ist unbestreitbar, dass die Wetterextreme zugenommen haben. Die Dauer von anhaltenden Wetterlagen wird immer deutlicher spürbar. Lange Perioden mit Regen und lange Zeiten mit Dürre wechseln sich auch hier im Norden rege ab. Das können wir in diesem Winter beobachten, wo es zu warm und zu nass war, das konnten wir im vergangenen Frühjahr beobachten, als es für Wochen kaum Niederschlag gab. Hitzewellen, Dürreperioden und intensive Regenfälle sind die Folge. Der Grund: Nachlassende Westwinde in der Atmosphäre können Wettersystem nicht mehr so stark vorantreiben.

Aktuell findet sich Staunässe fast auf jedem Acker in Nordschleswig. Straßen sind teilweise gesperrt, weil sie überflutet sind. Das hat Folgen für die Landwirtschaft – die Aussaat und das Düngen verzögern sich, bereits ausgesäte Pflanzen ertrinken.

Und auch nach der Sturmflut im Oktober sind noch überall die Schäden sichtbar. Nun ist das ein einzelnes Wetterereignis gewesen, doch führende Küstenforscherinnen und -forscher, etwa Christian Winter von der Universität Kiel, warnen bereits, dass solche Sturmfluten in Zukunft heftiger werden. Studien aus Deutschland, etwa vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH), zeigen, dass auch die Wetterlagen sich häufen werden, bei denen Sturmfluten auftreten. Das ist die Realität in unseren Breiten. 

Jeden Monat neue Wetterrekorde

Gleichzeitig werden immer neue Wetterrekorde gemeldet. Die Monate von November 2022 bis Oktober 2023 waren die heißesten seit 125.000 Jahren. Die globale Durchschnittstemperatur lag 1,3 Grad über dem vorindustriellen Niveau, die vergangenen neun Jahre waren die weltweit wärmsten. Neben dem Klimawandel sorgt auch das Phänomen El Niño seit 2023 immer wieder für Klimarekorde. Und zuletzt erfuhren wir auch, dass der Januar erneut zu warm und zu nass war. Der achte Monat in Folge mit einem Temperaturrekord. Der Februar 2024 wird wohl der neunte Monat. 

Zu viele Interessen

Unser Klima verändert sich also schneller als angenommen. 90 Prozent der Klimaforscherinnen und -forscher sind sich einig, dass der Mensch den gegenwärtigen Klimawandel verursacht. Dennoch fehlt es weltweit an wirtschaftlichem und politischem Willen, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zu viele Interessen sorgen für Konflikte, zu viele Lobbys verhindern entschiedenes Handeln. 

In der Politik selbst sind die Haltungen unterschiedlich – am Ende geht es um Stimmen der Wählerinnen und Wähler sowie um Macht. Es sind taktische Spielereien auf Kosten aller Menschen. Das kostet Zeit.

Ein weiteres Problem ist die Profitmaximierung der Wirtschaft. Deren Umbau ist ein zentraler Baustein für mehr Klimaschutz. Doch solange auf Kosten der Natur Gewinne erzielt werden können, wird sich nichts ändern. Wo Retouren direkt im Müll landen oder bei der Herstellung von Kleidung chemische Abwässer ungehindert ins Grundwasser versickern, braucht es Grenzen und Konsequenzen. Das entscheidet allerdings auch jede und jeder von uns durch das eigene Konsumverhalten mit.

Hohe Folgekosten bei Nichthandeln

Ja, es wird teuer, und es wird Überzeugungskraft brauchen, die Folgen des Klimawandels einzudämmen. Es gilt jedoch als sicher, dass die Rechnungen bei Nichthandeln noch größer ausfallen werden, weil sie Menschenleben und Eigentum kosten. Allein die Waldbrände in Kalifornien im Jahr 2018 sorgten für einen ökonomischen Schaden von 148 Milliarden US-Dollar. Die Beseitigung der Sturmflutschäden in Nord- und Südschleswig werden ebenfalls hohe Millionenbeträge kosten.

Mehr Bewusstsein schaffen

Uns als Gemeinschaft muss bewusst werden, dass es so nicht weitergehen kann. Es ist eine Veränderung unseres Lebensstils nötig – und ja, das wird unbequem. Wenn aber alle so weiter machen, wie bisher, dann fällt uns der Himmel sprichwörtlich auf den Kopf. Wir sind es den nachfolgenden Generationen schuldig, jetzt zu handeln.

Und ja, ich höre auch immer wieder den Satz: Wir können eh nichts mehr ändern. Doch, können wir. Jeder und jede Einzelne kann etwas beitragen. Klimaschutz beginnt im eigenen Haushalt. Er beginnt mit einfachen Dingen. 

Indem wir beispielsweise nicht jede Kurzstrecke mit dem Auto fahren, sondern Bus oder Fahrrad nehmen. Indem wir unseren Waren- und Fleischkonsum zurückfahren. Indem wir Einwegprodukte vermeiden und Lebensmittel nicht verschwenden. Indem wir Gebrauchtes kaufen und auf nachhaltige Produkte achten. Indem wir nicht viermal pro Jahr mit dem Flugzeug in den Süden fliegen. Indem wir simple Routinen einhalten, wie beim Zähneputzen das Wasser nicht laufen zu lassen oder das Licht auszumachen, wenn wir einen Raum verlassen. Die Liste lässt sich lange weiterführen. 

Am Ende macht es nämlich einen gewaltigen Unterschied, ob wir bis 2100 in einer vier Grad oder nur zwei Grad Celsius wärmeren Welt leben. Daher muss klar sein: Für Klima-Fatalismus und Nichtstun ist keine Zeit mehr. Sonst wird es in Zukunft erst wirklich unbequem.

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