Voices – Minderheiten weltweit

„Faschist oder Russe – Russlanddeutsche zwischen den Stühlen“

Faschist oder Russe – Russlanddeutsche zwischen den Stühlen

Faschist oder Russe – Russlanddeutsche zwischen den Stühlen

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Berlin
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In seiner Kolumne „Voices“ macht Jan Diedrichsen auf die verzwickte Situation der Russlanddeutschen aufmerksam und warnt davor, sich zu Pauschalisierungen und Vorurteilen hinreißen zu lassen.

In der öffentlichen Wahrnehmung werden Russlanddeutsche oft mit Vorurteilen und Klischees überfrachtet: Sie seien Verbündete Putins, Anhänger der AfD oder gar russische Spione. Doch diese Fremdzuschreibungen sind weit von der Realität entfernt. Die Russlanddeutschen sind eine heterogene Gruppe, keine monolithische Einheit.

Fakt ist jedoch, dass Russlanddeutsche – ob in Deutschland oder in Russland – immer Gefahr laufen, zwischen den Stühlen zu sitzen. In Deutschland als „Russen“ abgestempelt. In Russland gerne als „Faschisten“ beschimpft. Das ist eine Lebenswirklichkeit, die den Russlanddeutschen nicht ganz fremd sein mag. Doch seit dem verbrecherischen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat sie eine neue Dimension erreicht. 

Einfache Zuschreibungen machen einiges vielleicht für einen Moment leichter verständlich, aber wir werden den Russlanddeutschen damit nicht gerecht.

Jan Diedrichsen

Aktuell sorgt die Verhaftung von zwei Männern wegen des Verdachts der Spionage für Russland für Aufsehen. Sie wurden als „deutsch-russische Staatsbürger“ oder „Deutsch-Russen“ bezeichnet – eine unklare Bezeichnung, die wohl auf Russlanddeutsche abzielt. Solche pauschalen Zuschreibungen sind jedoch irreführend und verfestigen Stereotype.

Ein zentrales Klischee im aktuellen Diskurs ist die gerne vorgebrachte Behauptung, dass Russlanddeutsche im großen Stil die AfD wählen würden. Tatsächlich gibt es keine Belege dafür, dass Russlanddeutsche der AfD näher stehen als der Rest der Bevölkerung. Selbst wenn dies der Fall wäre, dürfte dies nicht zur Stigmatisierung einer ganzen Gruppe führen. Es gibt einen Generationenkonflikt zwischen den älteren, noch in der Sowjetzeit sozialisierten Russlanddeutschen und der jüngeren, in Deutschland aufgewachsenen Generation. 

Es ist wichtig zu erkennen, dass die Millionen Russlanddeutschen eine vielfältige Gruppe sind, nicht nur rechtsnationalistische, gar faschistische Kriegsbefürworter. Dennoch tragen russische Propaganda und Fake News dazu bei, Spannungen zu schüren und die deutsche Gesellschaft zu spalten.

Gefangen zwischen Deutschland und Russland

Interessanterweise ist es schwierig, Informationen über die Situation der deutschen Minderheit in Russland zu erhalten. Die Internetseiten der Minderheit sind frei von politischen Inhalten, vermutlich aufgrund der Repressionen durch das russische Regime. So sind die Russlanddeutsche einmal mehr Opfer der kriegerischen Weltgeschichte, gefangen zwischen Deutschland und Russland. Es ist an der Zeit, diese Komplexität anzuerkennen und Vorurteile abzubauen.

Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges ist die Lage der Russlanddeutschen besonders prekär. Die Frage, wie es der russlanddeutschen Minderheit seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine ergangen ist, lässt sich nur schwer beantworten, da die Informationen darüber spärlich sind. Die Bundesregierung berichtet von einer gewissen Einschränkung der Meinungsfreiheit und wirtschaftlicher Unsicherheit, von systematischer Repression ist jedoch nichts bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Russlanddeutschen wie andere Minderheiten in Russland unter Druck stehen, sich dem staatlichen Narrativ anzupassen. Die russische Regierung forderte die Nationalitäten, Minderheiten und indigenen Völker auf, den Krieg offiziell als „militärische Spezialoperation“ zu unterstützen. Wie sich die deutsche Minderheit positioniert hat, ist aus den zugänglichen Informationen nicht ersichtlich.

In Deutschland sind die Russlanddeutschen häufig mit Vorurteilen und Misstrauen konfrontiert, in Russland mit ganz anderen Bedrohungspotenzialen. Wie sieht es mit der Zwangsrekrutierung aus, von der in Russland vor allem Angehörige indigener Völker betroffen sind? Gibt es Fälle, in denen Angehörige von der Minderheit an die Front gezwungen wurden? Wir wissen es heute nicht – irgendwann wird es ein Thema für die Geschichtsschreibung sein.

Die Geschichte der Russlanddeutschen ist geprägt von Migration, Anpassung und Identitätskonflikten. Wir sollten sie nicht in Schubladen zu stecken versuchen und Vorurteile pflegen. Einfache Zuschreibungen machen einiges vielleicht für einen Moment leichter verständlich, aber wir werden den Russlanddeutschen damit nicht gerecht.

 

Hintergrund

Als „Russlanddeutsche“ gelten heute je nach Berechnung zwischen zweieinhalb und fünf Millionen Menschen – wenn man so will, die wohl größte Minderheit in Deutschland. 

Der Begriff Russlanddeutsche entstand im 20. Jahrhundert und bezeichnet die Nachfahren von Siedlerinnen und Siedlern aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa, die sich ab dem 18. Jahrhundert im russischen Reich angesiedelt haben.

Unter der Herrschaft von Katharina der Großen wurden sie in die entlegenen Gebiete des Russischen Reiches gerufen. Man versprach ihnen Land, Steuerfreiheit, Kredite und Selbstverwaltung. So entstanden deutsche Kolonien in Russland, die sich von der Wolga über die Krim und den Kaukasus bis in die Steppe hinter dem Ural erstreckten. Diese Gemeinden entwickelten eine eigene Infrastruktur mit Schulen, Betrieben und Selbstverwaltung.

Ihre Privilegien wurden jedoch 1871 aufgehoben, was zu einer zunehmenden Diskriminierung und Repression der Russlanddeutschen führte. Insbesondere während des Ersten Weltkriegs wurden sie der Kollaboration mit Deutschland verdächtigt, was zu Deportationen, Zwangsarbeit und sogar Erschießungen durch die russischen Behörden führte.

Die Rolle der Russlanddeutschen im Zweiten Weltkrieg war vielschichtig und von den politischen Umständen geprägt. Viele Russlanddeutsche wurden von den sowjetischen Behörden der Kollaboration mit Deutschland – zum Teil zurecht – verdächtigt, was zu Repressionen und Verfolgungen führte. Einige wurden zwangsweise in die deutsche Armee eingezogen, andere in Lagern interniert oder zur Zwangsarbeit verpflichtet. Auf der anderen Seite gab es Russlanddeutsche, die loyal zur Sowjetunion standen und aktiv gegen den deutschen Einmarsch kämpften. Insgesamt war ihre Kriegserfahrung von Leid, Zwang und politischer Unterdrückung geprägt.

Nach Kriegsende wurden die meisten Russlanddeutschen aufgrund ihrer sowjetischen Staatsbürgerschaft in „Sondersiedlungen“ im Norden und Osten des russischen Reiches interniert und mussten unter Stalin als „Volksfeinde“ arbeiten. Ihre deutsche Sprache wurde den meisten von ihnen genommen, erst in den 1990er-Jahren wurden einige von ihnen rehabilitiert.

Es ist dieses „Kriegsfolgenschicksal“, das vor allem nach dem Zerfall der Sowjetunion die „Rückkehr“ dieser Russlanddeutschen in die historische Heimat zum Thema der deutschen Politik machte.

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Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

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