Spuren durch die Hauptstadt

Die andere Seite Kopenhagens

Die andere Seite Kopenhagens

Die andere Seite Kopenhagens

Kopenhagen
Zuletzt aktualisiert um:
24 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich der Führung durch Vesterbro angeschlossen. Foto: Walter Turnowsky

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Dieses Mal besuchen wir bei unserer Führung ein Kopenhagen, das die wenigsten kennen. Es ist das Kopenhagen der Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Dafür hat Walter Turnowsky sich mit einem kundigen Führer zusammengetan.

Wer sich durch Kopenhagen bewegt, kennt sie, die Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, ist jedoch häufig geneigt, in die andere Richtung zu schauen.

Eventuell kaufen wir ihnen ein Exemplar der Zeitung „Hus Forbi“ ab. Im Bus suchen wir uns jedoch nicht unbedingt den Platz neben einem Obdachlosen aus und einem psychisch Kranken, der sich lauthals mit für uns Unsichtbaren unterhält, gehen wir lieber aus dem Weg.

In dieser Welt kenne ich mich auch nicht besonders gut aus, und daher habe ich mich mit Jens „Rygvind“ zusammengetan, der sie nur allzu gut kennt.

Der 60-jährige Jens Rygvind hat Drogenmissbrauch und eine psychische Erkrankung überlebt. Foto: Walter Turnowsky

Im Rahmen des sozio-ökonomischen Betriebs Gadens Stemmer macht er Führungen durch sein Viertel, Vesterbro. Und an eben einer solchen Führung nehmen wir teil.

Treffpunkt ist Vesterbro Torv, Jens erscheint einige Minuten vor dem angekündigten Zeitpunkt. Schnell durchgezählt: Ja, alle 24 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind erschienen – obwohl das Wetter nicht so überzeugend aussieht.

„Kommt, wir gehen auf die andere Seite des Platzes und weg von der Straße, da ist es ruhiger“, meint Jens.

Hasch und psychische Krankheit

Bereits bei der Vorstellung schont Jens sich nicht. Er sei paranoid-schizophren, habe jahrzehntelang Hasch, an den Wochenenden auch Speed (Amphetamin), in großen Mengen zu sich genommen. Seinen „Nachnamen“ hat er aufgrund des Speeds bekommen.

Jens berichtet mit milder Stimme und schwarzem Humor. Foto: Walter Turnowsky

„Ich habe jedoch nie gefixt. Als Jugendlicher sah ich den Film ‚Christiane F.‘ und habe mit mir selbst vereinbart, dass ich nie die Nadel ansetze“.

Jens spricht mit eher sanfter Stimme, doch häufig zahlt sich aus, den leisen Stimmen besonders genau zuzuhören. Am Ende des Satzes kommt häufig etwas schwarzer Humor und ein Lacher – um die Stimmung ein wenig aufzulockern.

Hasch als Protest

Die Führung gestaltet sich zu einer Mischung aus Jens' Biografie, seinem nicht gerade geringen lokalhistorischen Wissen und Berichten über den Wandel des Viertels, den er in den gut 25 Jahren, in denen er hier lebt, miterlebt hat.

„Jeg er en baggårdskat, det er et hundeliv“, sangen die Kinder und Jugendlichen, die in den70ern Vesterbro Ungdomsgård besuchten. Foto: Walter Turnowsky

Unser erster Stopp, Vesterbro Ungdomsgård, liegt sogar schon länger hier, hat jedoch Um- und Zubauten erlebt. In den 70er Jahren hat der Song „Kattejammerrock“ den Freizeit- und Jugendklub bekannt gemacht. Selbstverständlich kann Jens die Zeile von der Hinterhofkatze, die ein Hundeleben führt, zitieren.

Er ist kein gebürtiger Kopenhagener, sondern in der seeländischen Kleinstadt Sorø aufgewachsen.

„Ich hatte keine Ahnung, wo man in Sorø Hasch kaufen konnte, und so fuhr ich als 13-Jähriger nach Kopenhagen, um auf Christiania den Stoff zu bekommen.“

Vorurteile

Für ihn und seine Freunde war es in den 70er Jahren zunächst ein Protest. Ein Protest gegen die Elterngeneration, Autoritäten und gegen den Vietnamkrieg. Die langen Haare und das Hasch sollten diesen Protest markieren.

„Ich komme aus keinem schlechten Elternhaus. Es ist ein Vorurteil, dass man nur drogenabhängig oder psychisch krank wird, wenn man eine schlechte Kindheit gehabt hat.“

Über die Jahre nahm der Haschkonsum jedoch zu, und nachdem er nach Kopenhagen gezogen war, saß er irgendwann täglich auf Christiania und rauchte. Der heute 60-Jährige will jedoch gleich zu Anfang mit einem weiteren Vorurteil aufräumen.

„Ich habe zehn Jahre lang als Lehrer gearbeitet. Auch wenn man psychisch krank ist und Drogen konsumiert, kann man lange gute Perioden haben und zur Gesellschaft beitragen.“

Neben seiner eigenen Geschichte berichtet Jens auch Historisches – unter anderem über die ehemalige Schießbahn. Foto: Walter Turnowsky

Nach kurzer Zeit geht es vom Vesterbro Ungdomsgård weiter. Der Lärm eines Presslufthammers nervt, und so findet Jens im Skydebanehave einen ruhigeren Platz.

„Kommt ruhig näher, dann könnt ihr mich besser hören. Ich bin nicht gefährlich, nur paranoid-schizophren“, meint er mit dem für ihn typischen Lacher.

Die Stimmen im Kopf

Als er 17 Jahre alt wurde, begann die Krankheit, sich zu zeigen, doch Jens wusste nicht, was mit ihm los war.

„Man sprach damals kaum darüber. Ich wusste nicht, dass es psychische Krankheiten oder psychische Krankenhäuser gibt.“

Nach einem Umzug der Eltern näher zur Hauptstadt, wurde er in die psychiatrische Abteilung Nordvang in Glostrup eingewiesen.

„Dort hörte ich zum ersten Mal Stimmen. Ich glaube ich hörte 20 bis 30 unterschiedliche Stimmen, die meine Gedanken auf sehr unangenehme Weise kommentierten.“

Die Psychiater verschrieben ein Medikament nach dem anderen, bis Jens eine Medizinvergiftung entwickelte. Die Medikamente wurden in einem anderen Krankenhaus abgesetzt und durch ein anderes ersetzt.

„Das hatte allerdings die Nebenwirkung, dass es Unruhe im Körper auslöst. Meine Füße zuckten, und es sah so aus, als ob ich dauernd nach irgendwohin unterwegs war.“

Jens kennt Vesterbro und den Wandel, den das Viertel erlebt hat. Foto: Walter Turnowsky

Er kam in eine Jugendpension und anschließend in eine „jugendalternative Behandlungsstätte“.

„Die war so alternativ, dass die sogenannten Erwachsenen mit uns Hasch rauchten. Sie sagten mir, ich dürfte meinem Sozialberater nichts davon erzählen.“

Die Zeit als Lehrer

Er bat darum, bei Kopenhagen in ein Kollegium ziehen zu können und begann die Ausbildung als Lehrer. Jens betrieb viel Sport und lief 1986 den Kopenhagener Marathon.

„In dieser Zeit habe ich nur selten Dogen genommen, denn wenn man Sport auf diesem Niveau treibt, geht das nicht.“

Es folgten die zehn Jahre, in denen Jens unterrichtete, unter anderem in Flensburg (Flensborg).

In den 90ern standen am Otto Krabbes Plads noch die Haschdealer. Foto: Walter Turnowsky

Auf Vesterbro

Er führt uns auf den Otto Krabbes Plads. Der Platz entstand als im Rahmen der Sanierung von Vesterbro hier Häuser weggerissen wurden. Heute ist es ein grüner Park. Als er Mitte der 90er Jahre gestaltet wurde, war der Platz jedoch eher vom Kiesbelag geprägt, der bei Wind durch die Gegend gewirbelt wurde. Zu der Zeit zog Jens nach Vesterbro.

„In der Ecke dort drüben standen die Haschdealer“, berichtet er und zeigt quer über den Platz.

Über die Jahre entwickelte Jens eine Abhängigkeit, die bedeutete, dass er täglich zwei bis drei Joints rauchte.

„Man sagt, dass Hasch eine soziale Droge ist, aber das ist doch Schwachsinn. Die sogenannten Freunde kommen ja nur, um zu schmarotzen, wenn man Hasch hat. Und wenn man anhängig ist, möchte man ja alles für sich behalten. Als ich aufhörte, Hasch zu rauchen, wurde es in meiner Wohnung ganz schön still.“

Und so drehte sich sein Leben immer mehr um die Droge.

„Ich war nicht direkt vom Hasch abhängig, sondern von dem Belohnungshormon Dopamin, den der Stoff auslöst.“

Zu diesem Zeitpunkt war Jens wohl noch nicht bewusst, dass das Hormon Teil seines Weges aus der Abhängigkeit werden sollte.

Der Regen nimmt zu. Foto: Walter Turnowsky

Er führt uns zur Istedgade, die mit am deutlichsten den Wandel Vesterbros vom Prostitutions- und Drogenviertel zur gefragten Wohngegend symbolisiert.

„Heute ist die größte Gefahr, dass man von einem Kinderwagen umgefahren wird.“

Wirtshaus als soziales Netz

Die einstigen Spelunken sind durch Cafés und Weinbars ersetzt worden. Jens zeigt uns jedoch noch eines der wenigen verbliebenen „braunen“ Wirtshäuser.

„Jeder Stammgast hinterlegt hier seine Telefonnummer, Adresse und einen Wohnungsschlüssel. Erscheint der- oder diejenige nicht, ruft die Bedienung an. Wenn nicht abgehoben wird, wird ein anderer Gast losgeschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Man möchte schließlich nicht wochenlang alleine mit seinem Hund tot in der Wohnung liegen.“

In diesem Wirtshaus hinterlegt jeder Gast Telefonnummer, Adresse und Schlüssel. Foto: Walter Turnowsky

Jens hört mit Hasch auf

Jens Rygvind hat den Statistiken bereits ein Schnippchen geschlagen. Er berichtet, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei Menschen mit seiner Diagnose 55 Jahre beträgt. Vom Behandlungssystem lange nicht berücksichtigt, gehen psychische Erkrankung und Drogenmissbrauch häufig Hand in Hand.

„Ich habe mit 48 Jahren von einem Tag auf den anderen mit dem Hasch aufgehört. Irgendwann muss man schließlich erwachsen werden, bei mir hat es eben ein bisschen länger gedauert“, lacht er ein weiteres Mal.

Sport und Bewegung

Heute geht er täglich seine 10.000 Schritte, macht Yoga und trainiert seinen Rücken.

„Ich halte Bewegung für die beste Medizin“, meint er und weist darauf hin, dass auch harte sportliche Leistungen eine Ausschüttung des Dopamins verursachen und damit die Belohnung im Gehirn auslösen können.

Zum Yoga und zu anderen Aktivitäten radelt er täglich zur Institution für sozial Benachteiligte, Kofoeds Skole.

„Diese festen Punkte im Tagesablauf sind ebenfalls entscheidend für mich.“

Auf dem Weg zurück zum Vesterbro Torv Foto: Walter Turnowsky

Der Regen nimmt zu, Jens kürzt die Tour ein wenig ab, und wir kehren zum Ausgangspunkt zurück. Nach ein paar Fragen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern erzählt er noch ein paar Witze über Jüten und Kopenhagener, bevor er sich verabschiedet.

„Nach all den ernsten Themen möchte ich zum Schluss die Stimmung ein wenig aufheitern. Dabei ist es kein Zufall, dass ich Witze wähle, bei denen es um Vorurteile geht“, berichtet er bei einem anschließenden Bier dem „Nordschleswiger“.

Gadens Stemmer

Mehr lesen