Schleswig-Holstein

Innenstädte sterben aus: „Die Hälfte der Fußgängerzonen wird verschwinden“

Innenstädte sterben aus: „Die Hälfte der Fußgängerzonen wird verschwinden“

„Die Hälfte der Fußgängerzonen wird verschwinden“

Joachim Göres
Schleswig-Holstein
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Die Kieler Innenstadt hat in der Fußgängerzone - Holstenstraße - mit Besucherschwund und Leerständen zu kämpfen. Foto: M. Staudt

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Vor 70 Jahren wurden in Deutschland die ersten Straßen exklusiv für Passanten eingerichtet –heute suchen die Städte nach Konzepten, damit sie überleben.

Breite Rasenflächen mit bunten Blumenbeeten und Bäumen, links und rechts davon je ein Weg für Fußgänger vorbei an Schaufenstern kleiner Läden und Restaurants – so sieht sie aus, die Treppenstraße in Kassel. 1953 wurde sie als erste Fußgängerzone in Deutschland eröffnet.

Treppenstraße in Kassel – eine der ersten sicheren Zonen für Passanten

Damals wurde die 300 Meter lange Verbindung vom Hauptbahnhof zum zentralen Friedrichsplatz exklusiv für Fußgänger angelegt, um Menschen zum Einkaufen in die Innenstadt zu locken – die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle war in den 50er Jahren gemessen an der geringen Zahl der Autos so hoch, dass die Schöpfer der autogerechten Nachkriegsstädte sichere Zonen für Passanten schaffen wollten. Kassel wurde damit Vorbild für Fußgängerzonen im ganzen Land.

Und heute? Zahlreiche leerstehende Geschäfte findet man sowohl in der Treppenstraße als auch in den angrenzenden Fußgängerstraßen Kassels. „Die Treppenstraße leidet. Stufen sind schief, der Pflegeaufwand ist hoch. Wir müssten einige Millionen für die Sanierung investieren. Das größte Problem ist, dass sie durch die Treppenstufen nicht barrierefrei ist. Da suchen wir noch nach einer Lösung“, sagt Christof Nolda, Kasseler Stadtbaurat. Er sprach kürzlich Veranstaltung „70 Jahre Fußgängerzonen in Deutschland“ der Bundesstiftung Baukultur in Kassel, auf der es vor allem um die Zukunftsperspektiven angesichts boomenden Internethandels und der Krise der Innenstädte ging.

Geschäftsleute überlegen sich Konzepte für die Innenstadt der Zukunft

Kaufhäuser, Banken und Postgebäude verschwinden zunehmend, die Zentren drohen ihre Funktion zu verlieren. Nolda bleibt dennoch Optimist:

In der Kasseler Fußgängerzone befinden sich heute Räume der Universität, ein Schülerforschungszentrum, soziale Einrichtungen, das Jugendamt.

„Seit Corona haben sich die Flächen für die Außengastronomie verdoppelt“, freut sich Nolda, dass die Fußgängerzone sich zum Treffpunkt entwickelt. Dabei müssen sich Passanten die zentrale Einkaufsstraße Obere Königsstraße mit der Straßenbahn teilen. „So sorgen wir dafür, dass die Einwohner aus allen Richtungen in die City kommen“, sagt Nolda. Dazu sollen auch die Investitionen in schönere Bänke, neue Bodenbeläge, ordentliche Lampen, moderne Mülleimer und mehr Bepflanzung beitragen.

Stadt Kiel investiert in die Fußgängerzone

Ebenfalls seit den 50er Jahren ist mitten in Kiel die 650 Meter lange Holstenstraße für den Pkw-Verkehr gesperrt. Täglich zählt man hier 22.000 Passanten, die Verkaufsfläche beträgt mehr als 100.000 Quadratmeter, die Leerstandsquote liegt bei acht Prozent. In der Holstenstraße modernisiert man die Infrastruktur und schafft mehr Bänke, Bäume und Wasserspiele. Das Ziel wie in Kassel: Die Aufenthaltsqualität zu steigern.

„Wir investieren 40 Millionen Euro in die Fußgängerzone und haben dadurch private Investitionen von Geschäftsleuten in Höhe von 400 Millionen ausgelöst“, sagt die Kieler Baustadträtin Doris Grondke. Sie ist überzeugt, dass die gesichtslosen Fußgängerzonen mit ihren überall gleichen Filialisten sich hin zu inhabergeführten Geschäften verändern werden, um eine Zukunft zu haben. Für sie ist zudem klar, dass der Handel alleine für eine attraktive Fußgängerzone nicht ausreicht.

So liegt an der Holstenstraße auch ein Konzerthaus, das für 28 Millionen Euro saniert wurde. Das Schloss am Ende der Holstenstraße wurde von der Stadt gekauft und soll neu entwickelt werden. Nicht weit entfernt davon hat die Stadt das Forum für Baukultur in einem historischen Gebäude etabliert – hier wird regelmäßig über die Zukunft der Stadt diskutiert.

Holstenfleet soll die Aufenthaltsqualität in der Kieler Innenstadt steigern

„Es wichtig, mit den Bewohnern im Gespräch zu bleiben. Es ist ein gesellschaftlicher Konsens zur Rettung der Innenstädte nötig“, sagt Grondke. Sie setzt auch auf das verstärkte Wohnen in der Holstenstraße, unter anderem durch das Anlegen von Innenhöfen.

Bereits 2020 wurde in der Nachbarschaft der Holstenfleet fertiggestellt – wo vor nicht langer Zeit noch eine sechsspurige Straße verlief, erstreckt sich jetzt eine 170 Meter lange Wasserfläche, an der man flanieren, sitzen oder spielen kann und die auch nach Geschäftsschluss als beliebter Treffpunkt genutzt wird. Hier gab es einst einen Kanal, der aber 1904 zugeschüttet wurde. Durch die Verbannung der Autos und das neu geschaffene künstliche Gewässer wird in den heißen Sommermonaten an dieser Stelle auch die Temperatur abgesenkt und das Mikroklima verbessert.

„Der Klimawandel und seine Folgen mit vermehrtem Starkregen und Hitzeplätzen muss beim Stadtumbau immer mitgedacht werden, zum Beispiel bei der Auswahl klimaresilienter Bäume oder der Aufhebung versiegelter Flächen“, sagt Grondke. Ein besonderes Problem ist für sie der Umgang mit dem Shopping-Center in der Holstenstraße, das alleine eine Verkaufsfläche von fast 40.000 Quadratmeter umfasst.

Innenstädte sterben aus: Ein selbstgemachtes Problem?

Aus Sicht von Barbara Ettinger-Brinkmann, ehemals Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, ein selbst gemachtes Problem vieler Städte:

Die Zeitschrift „Geo“ hat vor einigen Jahren die zehn schönsten deutschen Fußgängerzonen ausgewählt. Eine subjektive Auswahl, doch wer sich die Liste anschaut, erkennt als Gemeinsamkeit die Bedeutung der historischen Kulisse: Mittelalterliche Atmosphäre, barocke Bürgerhäuser, gotische Fassaden oder bunte Fachwerkhäuser ziehen jedes Jahr Massen von Menschen nach Heidelberg (Hauptstraße), Bonn (Friedrichstraße), Lüneburg (Am Sande), Aachen (Spitzgasse), Tübingen (Holzmarkt), Marburg (Wettergasse), Bamberg (Grüner Markt), Erfurt (Anger), Potsdam (Brandenburger Straße) und Konstanz (Niederburg).

Da können weder Kiel noch Kassel mithalten – beide Innenstädte wurden im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört. Doch gerade deshalb wird auch hier viel Wert auf die Präsentation und den Zustand der nicht ganz so alten Gebäude und Plätze gelegt.

Was wird als schön empfunden? Bei einer repräsentativen Befragung zum Thema Baukultur und Umbau von mehr als 1200 Personen ab 14 Jahre wurden 2021 vor allem drei Punkte genannt, die wichtig sind, um den eigenen Wohnort zu verschönern: Die Sanierung maroder Gebäude, gefolgt von der Reduzierung des Leerstands von Ladenflächen sowie der vielfältigeren Nutzung des Ortszentrums durch eine Mischung von Wohnen, Kultur und Handel.

Als wichtigste Infrastruktur-Angebote in der Innenstadt wurden - in dieser Reihenfolge - Bibliotheken, Wohnungen, Schulen und weitere Bildungsangebote sowie Kindergärten angegeben. Doch dieser gewünschte Wandel der rund 3000 Fußgängerzonen in Deutschland ist vielerorts noch in den Startlöchern.

So blickt Wolfgang Christ, Architekt und Geschäftsführer des Urban Index Instituts aus Heidelberg, auch mit gemischten Gefühlen in die Zukunft: „Es gibt Städte wie Baden-Baden, die viel tun und so Menschen von weit weg zum Bummeln anlocken. Und es gibt hässliche Fußgängerzonen, in denen nichts passiert. Es wird eine Abstimmung mit den Füßen geben, die Hälfte der Fußgängerzonen wird verschwinden.“

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Kommentar

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