Südschleswig

Arnis nach der Sturmflut: „Wir wissen nicht, wo wir Weihnachten feiern“

Arnis nach der Sturmflut: „Wir wissen nicht, wo wir Weihnachten feiern“

Arnis: „Wir wissen nicht, wo wir Weihnachten feiern“

Rebecca Nordmann/shz.de
Arnis
Zuletzt aktualisiert um:
Der Ofen ist zurzeit die einzige Wärmequelle im Haus von Ralf Timm im Arnisser Lindenweg. Weil das Wasser auch sein Feuerholz weggeschwemmt hat, verheizt er inzwischen sein ohnehin zerstörtes Stäbchenparkett. Foto: Rebecca Nordmann/shz.de

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Die kleinste Stadt Deutschlands, Arnis, trägt heftige Schäden nach dem Jahrhundert-Hochwasser davon. Vor allem die Menschen im Lindenweg stehen in ihren zerstörten Häusern und wissen nicht, ob sie überhaupt noch zu retten sind. Zu Besuch in einer Stadt, in der nichts mehr ist, wie es war.

„Gummistiefel sind in Arnis aktuell immer noch die geeignetsten Schuhe.“ Diese Nachricht ploppt auf dem Handy am Morgen des verabredeten Besuchs auf. Ein Hinweis, der zwei Wochen nach dem Jahrhundert-Hochwasser inzwischen überflüssig ist. Außer in Arnis.

In Arnis hat der Deich, der sogenannte Alte Damm, der Sturmflut nicht standgehalten. Auf einer Länge von etwa 50 Metern ist er in der Nacht gebrochen, 30.000 Sandsäcke haben nicht ausgereicht, um ihn und all das, was er vor dem Wasser schützen sollte, zu sichern. Und auch zwei Wochen später ist das Wasser aus Arnis noch nicht wieder völlig verschwunden. Immer noch gibt es üppige Bereiche, die nicht betreten werden können, Bereiche, in denen irgendwann auch keine Gummistiefel mehr helfen.

Unübersehbare Folgen der Flut in Arnis

Wann Ralf Timm zuletzt andere Schuhe als Gummistiefel getragen hat, ist vermutlich genauso lange her. Er steht vor seinem rot verklinkerten Haus im Lindenweg. Die kleine Straße, die parallel zum Alten Damm verläuft, hat die volle Wucht des Wassers zu spüren bekommen. Und die Folgen sind nicht zu übersehen.

„Innen drin ist alles Schrott.“ Ralf Timm spricht ruhige, aber deutliche Worte, als er sein Haus durch die Tür betritt, die sich nur noch mit Macht schließen und öffnen lässt. Durch das Wasser, dem sie lange ausgesetzt war, hat sie sich verzogen.

Nackte Böden, kahle Wände

Im Innern sieht es aus wie in einem Rohbau. Nackte Böden, kahle Wände, in einem kleinen Raum steht jemand auf der Leiter und kratzt Farb- und Tapetenreste ab, Steckdosen und Lichtschalter hängen ohne großen Halt in ihren vorgesehenen Öffnungen. Im Wohnzimmer bollert der Ofen, die einzige Wärmequelle im gesamten Haus.

„Wir verheizen jetzt das Parkett“, sagt Timm, fährt mit der Schaufel in einen Haufen aus lauter Holzstäbchen, die mal sein Fußboden waren, und kippt die Ladung ins Feuer. Die sechs Kubikmeter echtes Feuerholz, die in seinem Garten gestapelt waren, schwimmen irgendwo in der Schlei. „Ich komme mir ein bisschen vor wie Lukas, der Lokomotivführer“, sagt der Arnisser, als er die Ofen-Tür wieder schließt. Er lächelt. Mitten in seinem ramponierten Zuhause.

Normalität nicht in Sichtweite

Dass er erschöpft ist, sagt er nicht. Es ist ihm anzusehen nach Tagen, in denen sich das Leben in seiner Heimatstadt so sehr verändert hat. Und noch ist so etwas wie Normalität nicht in Sichtweite. „Man funktioniert“, sagt Ralf Timm. „Es sind Automatismen, die ablaufen.“ Aufräumen, sauber machen, Müll entsorgen. „Abends sitzen wir alle zusammen, trinken einen Wein, einfach mal abschalten“, sagt er. „Und manchmal weinen wir auch zusammen.“

Und dann gibt es da solche Momente, in denen plötzlich jemand vor der Tür steht und helfen will. Jemand, den man nicht um Hilfe bitten muss, jemand, der einfach da ist und anpackt. Jemand, der neues Feuerholz vorbeibringt, weil er weiß, dass es im Hause Timm keines mehr gibt. Ralf Timm blickt in seinen bollernden Ofen. „Wie kann man das wieder gutmachen?“

Arnisser Gemeinschaft in der Nacht der Sturmflut

Wenn er an die Nacht der Sturmflut denkt und an das, was danach geschah, fällt ihm immer wieder die Arnisser Gemeinschaft ein – angefangen beim Bürgermeister-Trio aus Jens Matthiesen, Michelle Diekmann und Gertje Rubin („Jeder hat seine Kompetenzen ausgespielt.“) über das Führungsteam der Freiwilligen Feuerwehr („Da passte alles perfekt.“) bis zum Stadtarbeiter Sebastian Buchholz („Er ist der Weltbeste.“).

Große Hilfsbereitschaft in der kleinen Stadt

Tatsächlich ist die Hilfsbereitschaft in der kleinen Stadt groß. Und ausgesprochen kreativ. In der „Lütt Arnis Butik“ hat Inhaberin Andrea Bögel mal eben einen Sturmflut-Hoodie entworfen. In Grau oder Dunkelblau mit Wellenmotiv, dem Schriftzug „Arnis“ und dem Datum, das hier keiner vergessen wird (20/10/2023) ist er für knapp 80 Euro zu haben. „Der gesamte Erlös“, sagt Andrea Bögel, „geht an die Betroffenen“.

Eine Urlauberin aus Bremen hört die Worte der Arnisserin – und möchte unbedingt einen Hoodie mitnehmen. Seit Jahren verbringt sie ihren Urlaub in der kleinen Stadt, diese Unterstützung will sie gerne leisten. Und Andrea Bögel? Verspricht, ihr ein Exemplar hinterher zu schicken – momentan nämlich sind sämtliche Hoodies ausverkauft.

Haus im Arnisser Lindenweg erst 2019 gekauft

Im Lindenweg steht derweil Kerstin Rosinke in ihrem leeren Wohnzimmer. Die Leiterin der Kappelner Stadtbücherei lebt in Arnis, 2019 haben sie und ihr Mann das Haus im Lindenweg gekauft und viel Zeit und Geld hineingesteckt. Jetzt erinnert einzig die Dunstabzugshaube an der Wand daran, dass da mal eine Küche war. Die untere Hälfte der Wände ist freigeschlagen, keine Fliesen mehr, keine Dämmwolle, geblieben ist das rohe Ständerwerk. Zerstörtes Mobiliar, sämtliches Material, Werkzeug, alles, was im Keller gelagert war, steht jetzt aufgetürmt am Straßenrand. „Wir haben kein Zuhause mehr“, sagt Kerstin Rosinke.

70 Zentimeter hoch habe das Wasser noch im Erdgeschoss gestanden, da war der Keller schon vollgelaufen. An der Terrassentür ist die Wasserkante immer noch auszumachen. „Wir versuchen uns jetzt in Schadensbegrenzung“, sagt Rosinke, und das entpuppt sich als schwieriger als gedacht. Bestimmt zehn Heizungsbauer habe sie heute angerufen, keiner habe Zeit. „Dabei suchen wir nur jemanden, der uns die Heizkörper abbaut“, sagt sie.

Wie es weitergeht? Noch ist unklar, ob ihr Haus zu halten ist, das müssen Gutachter und Statiker entscheiden. Auch Ralf Timm steht vor Ungewissheit. „Boden, Küche, Fenster, Heizung – alles muss neu“, sagt er. „Aber ist es schlau, das genauso wieder zu machen wie vorher?“ Müssten nicht vielleicht doch ganz andere Wege gegangen werden?

Hochwasser-Ausschuss für Arnis

Damit soll sich jetzt ein Arnisser Hochwasser-Ausschuss beschäftigen. Sandra Hiller, ebenfalls in Arnis zuhause, von den Wassergewalten aber, weil ihr Haus ein Stück weiter höher steht, fast verschont geblieben, benennt als erste Aufgabe „einen klaren Kriterienkatalog zur Spendenvergabe“: Die Hilfe für Betroffene müsse sichergestellt werden, schnell und unbürokratisch. Spenden, die eingehen, sollten nach bestimmten Aspekten verteilt werden. Schritt 2 schließlich heiße Küstenschutz.

Der reparierte Deich kann so, wie er momentan aussieht, nicht bleiben. Mehr als eine Zwischenlösung kann das Stopfen mit Big Bags und Sandsäcken nicht sein. „Aber was danach kommt“, sagt Hiller, „ist noch unklar“.

So wie bei den Bewohnern im Lindenweg. Kerstin Rosinke verschwindet fast in ihrem Kapuzenpulli. „Wir wissen nicht, wo wir Weihnachten feiern“, sagt sie plötzlich – und findet sich in den Armen von Sandra Hiller wieder, die ihr ein „na, bei uns“ zuraunt. Zwischendurch ist die Büchereileiterin in Kappeln gewesen. Sie weiß, dass auch dort der komplette Hafen unter Wasser stand, vieles kaputt gegangen ist, viele Menschen leiden. „Und trotzdem sind Kappeln und Arnis gerade zwei ganz verschiedene Welten“, sagt sie. Gerade mal sechs Kilometer liegen zwischen ihnen.

Ralf Timm beschreibt Ähnliches. „Kappeln ist schon wieder weitgehend im normalen Trott angekommen“, sagt er. „Und wir stecken hier fest.“ Seit zwei Wochen in Gummistiefeln, seit zwei Wochen in zerstörten Heimen, seit zwei Wochen in einer Stadt, in der nichts mehr ist, wie es war.

Mehr lesen

Kulturkommentar

Meinung
Erik Becker
„Requiem für einen Fuchs“