Zweiter Weltkrieg
Geflüchtete in Dänemark: Zeitzeugen bei Vortrag von John Jensen
Geflüchtete in Dänemark: Zeitzeugen bei Vortrag von John Jensen
Geflüchtete in Dänemark: Zeitzeugen bei Vortragsabend
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Museumsinspektor John Jensen sprach vor rund 80 Anwesenden über die Zeit vor und nach der Befreiung Dänemarks und die Erlebnisse deutscher Flüchtlinge. In der anschließenden Fragerunde zeigte sich, dass auch einige Zeitzeugen den Weg ins Bürgerhaus Harrislee gefunden hatten – zur Freude des Historikers.
Es war eine Begegnung ganz am Ende des Vortrags von John Jensen im Bürgerhaus Harrislee (Harreslev), die diesen Abend wertvoll machte – sowohl für die Zuhörenden als auch für den Inspektor der Vardemuseen, zu denen auch das Museum „Flugt“ in Oksbøl gehört. Jensen hatte seinen Beitrag über geflüchtete Deutsche in Dänemark im Zweiten Weltkrieg soeben beendet. In der anschließenden Fragerunde zeigte sich, dass sich noch Zeitzeugen unter den Zuhörenden befanden.
Einer von ihnen war Wolfgang Wenthin aus Harrislee. Er war vor Ende des Krieges aus Peenemünde auf Usedom vorerst gen Osten zwangsevakuiert worden, flüchtete vor der Roten Armee aber zunächst zurück in den Nachbarort Karlshagen.
Zeitzeuge berichtet von der Flucht
Als die Russen weiter vorrückten, trat der damals Neunjährige gemeinsam mit seiner Mutter und drei Geschwistern die Flucht an. Die Kriegsmarine brachte sie zunächst per Schiff nach Flensburg. Von dort nahm die Familie den Zug nach Tondern (Tønder), wo sie zunächst in einer Kaserne lebten. Als die Briten schließlich dort ankamen, mussten sie raus und wurden in einer Sporthalle einquartiert und kamen später ins Lager nach Oksbøl.
Jensen hatte zuvor über den Schulunterricht für Geflüchtete gesprochen. Wenthin erinnert sich noch, dass es zu Beginn noch keine Schule gab. „Wir hatten Unterricht auf einer Wiese, haben gesungen und Kopfrechnen gemacht. Es gab ja kein Papier“, berichtete der heute 88-Jährige. Als es dann Papier gab, waren es geviertelte Meldeblöcke der Wehrmacht. Auch die Bleistifte seien sehr kurz gewesen. Man habe sehr gut darauf aufpassen müssen, sonst gab es Ärger.
Vater kehrt aus Kriegsgefangenschaft zurück
Von 1945 bis 1948 lebte Wenthin als Geflüchteter in Dänemark. Dass die Däninnen und Dänen den Deutschen nicht wohlgesinnt waren, sei kein Wunder. Schließlich sei man ja überall eingefallen. Über das Zwischenlager Kolding, wo die Familie nur wenige Tage verbrachte, ging es dann nach Deutschland. Zunächst nach Pöppendorf bei Lübeck, wo sie erneut registriert wurden. „Als mein Vater dann aus der Kriegsgefangenschaft kam, kehrte er zurück in seinen Beruf als Zollbeamter. Das war in Harrislee an der Grenze.“
Der 88-Jährige war einer von rund 80 Anwesenden im Bürgerhaus, die Jensens Vortrag lauschten. Die frühere SSW-Landesministerin Anke Spoorendonk, die die jährliche Vortragsreihe gemeinsam mit Thomas Pantléon, Leiter der VHS Harrislee, organisiert, freute sich über so viel Zuspruch. „Das Thema scheint zu interessieren.“ Sie ist Sprecherin der deutsch-dänischen Arbeitsgruppe „Harrislee Bahnhof“. Diese wurde Mitte der 1990er-Jahre von einer Handvoll historisch Interessierter ins Leben gerufen.
Als mein Vater dann aus der Kriegsgefangenschaft kam, kehrte er zurück in seinen Beruf als Zollbeamter. Das war in Harrislee an der Grenze.
Wolfgang Wenthin
Spoorendonk: Erinnerung wachhalten
„Der kleine Grenzbahnhof war Teil des Terrorsystems der Nazis. Über Harrislee wurden Gefangene aus dem Fröslev-Lager deportiert. Diese Gruppe soll die Erinnerung daran wachhalten“, so die 75-Jährige. Immer am 27. Januar gedenken Schülerinnen und Schüler der Duborg-Skole und der Zentralschule Harrislee am Mahnmal in Pattburg (Padborg) der Opfer des Nationalsozialismus. Die Vortragsreihe selbst findet immer um den 15. September mit wechselnden Themen statt. Das Datum markiert die 1. Deportation von Geflüchteten in deutsche Konzentrationslager – allen voran Neuengamme. 1.600 Gefangene wurden in der Zeit bis zum Kriegsende über die Bahnstation deportiert.
Zum Thema Flucht sagte Spoorendonk in ihrer kleinen Eröffnungsrede, dass man Flucht auch immer im historischen Kontext sehen müsse. Man dürfe angesichts der aktuellen Bilder aus Lampedusa als Gesellschaft nicht abstumpfen. Bezogen auf die rund 240.000 Geflüchteten in Dänemark gen Ende des Zweiten Weltkriegs, sprach sie von einem dunklen Kapitel in der dänischen Geschichte.
Forschungsprojekt zur Entnazifizierung in Dänemark
Als Jensen das Wort ergreift, gibt er zunächst einen kurzen Einblick in seinen Werdegang und die Arbeit im Fluchtmuseum, das Königin Margrethe erst im vergangenen Jahr eröffnet hatte. Das Thema Flucht sei nur eine von vielen Aufgaben, die er seit 2005 betreue, sagt er. „Das ist eine Reise gewesen. Noch immer gibt es viel zu erzählen.“ Ein Beispiel sei der Unterricht in den Flüchtlingslagern. In einem kommenden Projekt will er herausfinden, wie die Demokratisierung und Entnazifizierung der deutschen Flüchtlinge in Dänemark vonstattenging. „99 Prozent der Däninnen und Dänen wissen gar nicht, dass das gemacht wurde“, so Jensen.
In Oksbøl selbst soll die Ausstellung erweitert werden, da das Thema Flucht den größten Teil des Museums einnehme. Mehr Informationen über das Lager selbst und weitere Lager in Dänemark sollen ab 2024 in einem Nebengebäude zu finden sein.
Schon Weihnachten 1946 war die Lage deutlich entspannter.
John Jensen
Geschichte der Flüchtlinge in Dänemark
Nur mit wenig Hab und Gut kamen die ersten Flüchtlinge im Januar 1944 an. Am 4. Februar gab es einen Befehl Hitlers, Flüchtlinge auch in Dänemark unterzubringen. Der erste große Schwung erreichte Apenrade (Aabenraa) am 12. Februar.
„Die meisten Geflüchteten waren Frauen, Kinder und Alte. Die Männer waren größtenteils an der Front“, so Jensen. Die meisten von ihnen kamen aus Ostpreußen, Danzig-Westpommern und Pommern, viele Geflüchtete kamen aus Königsberg, Danzig, Pillau oder Hela.
Spannungen in der Gesellschaft
Die Anwesenheit der Geflüchteten führte zu Spannungen in der dänischen Gesellschaft. Sie waren nicht willkommen, sagt Jensen. Dies zeigten Flugblätter aus der Zeit und Artikel in illegalen Tageszeitungen. Man müsse hier jedoch unterstreichen, dass diese Schriften oftmals von radikalisierten Teilen der Bevölkerung stammten und keineswegs alle Däninnen und Dänen das so sahen, so Jensen. Dennoch zeige ein Drohbrief an Johannes Kjærbøl, damals Leiter der Flüchtlingsverwaltung in Dänemark, wie ablehnend einige gegenüber den Deutschen waren. Grund für das Schreiben, das mit Hakenkreuzen und Drohungen verziert war: Kjærbøl wollte eine halbe Krone für jeden Flüchtling an Weihnachten 1945 spenden. „Schon Weihnachten 1946 war die Lage deutlich entspannter“, sagt Jensen.
Flüchtlinge wurden schnell in Lagern konzentriert
Die Flüchtlinge, die zunächst dezentraler untergebracht warden, wurden fortan in Lagern konzentriert. Im Mai 1945 gab es etwa 1.100 Lager für etwas mehr als 240.000 Geflüchtete, darunter Schulen, Sporthallen oder Versammlungshäuser. Im Oktober 1945 lebten nur noch 200.000 Personen in 465 Lagern. 1948 waren es noch rund 45.000 Menschen in sechs Lagern. Oksbøl blieb bis zum Ende bestehen.
„Die privat in Nordschleswig einquartierten Menschen durften nicht in der deutschen Minderheit bleiben. Sie kamen alle nach Oksbøl“, sagt Jensen. Erste Transporte über das Zwischenlager in Kolding gab es bereits ab November 1946.
Einblicke in das Leben im Lager Oksbøl
Jensen berichtete auch über das Leben im Lager Oksbøl, das die Geflüchteten zum größten Teil selbst verwalteten wie eine Stadt − mit Bürgermeister und Stadtrat. Über den Nahrungsmittelverbrauch und den Schwarzmarkt für Kaffee, Tabak oder Kakao.
Er berichtet über die Beschäftigung für Erwachsene – zum Beispiel das Besenmachen – sowie den Schulunterricht für die Jüngsten. Dass es am Anfang noch wenig Kapazitäten, bis 1947 aber rund 25 bis 30 Stunden Unterricht in der Woche gab. „Vorzugsweise in Deutsch und Mathematik. Dänisch-Unterricht war verboten.“ Erstens hätte es Dänischlehrer gebraucht, zweitens steckte dahinter auch Ideologie. „Man wollte nicht, dass die Deutschen Dänisch lernen, sonst, so die Befürchtung, würden sie noch hierbleiben“, so Jensen.
Und so haben die Geflüchteten auch weitestgehend abgeschottet von der dänischen Bevölkerung gelebt. Dennoch kam es zu vielen Fällen von Fraternisierung. „Das ist sehr oft passiert, obwohl es verboten war“, weiß der Historiker. Meist seien Dänen und deutsche Frauen zusammengekommen. Eine Heirat in Dänemark sei jedoch unmöglich gewesen, dafür musste das Paar nach Deutschland und anschließend zurückkehren.
Mythos Übersterblichkeit von Kindern
Und auch mit einem Mythos räumt der Museumsinspektor auf: der Übersterblichkeit von Kindern. Dazu habe er die Gräber auf dem Friedhof in Oksbøl gezählt und analysiert.
Die Übersterblichkeit bei Babys im Alter von 0 bis 3 Jahren und Kindern unter 14 sei vor allem in den Wintermonaten Anfang und Ende 1945 besonders hoch gewesen. In den Folgejahren habe es keine Auffälligkeiten mehr gegeben, so Jensen.
„Tatsächlich war es zu Beginn so, dass dänische Ärzte Flüchtlingen nicht helfen wollten. Das habe sich aber nach der Befreiung geändert.“ Danach seien die Geflüchteten gegen Typhus, Diphtherie und Tuberkulose geimpft worden. „Man wollte ja Epidemien eindämmen und auch die dänische Bevölkerung schützen.“
Neues Leben in Süddeutschland
Die meisten Geflüchteten aus Dänemark sind nach dem Krieg in die britische Besatzungszone (rund 100.000) gekommen. In der französischen Besatzungszone wurden Arbeiterinnen und Arbeiter gebraucht, weshalb rund 50.000 der 200.000 Menschen dorthin gegangen sind. Im amerikanischen und sowjetischen Sektor habe es hingegen einen Bevölkerungsüberschuss gegeben, weshalb weniger Geflüchtete dorthin gezogen sind. Auch in Deutschland waren die Geflüchteten aufgrund von Religion und Dialekt „fremd“. Keine einfache Zeit, resümiert Jensen.
Zeitzeugen wichtige Ergänzung
Weil es noch so viele Teile der Geschichte zu erforschen gibt und Zeitzeugen mittlerweile kaum noch zu finden sind, freut sich Jensen über den Austausch der Telefonnummern mit Wolfgang Wenthin. „Tatsächlich kommt es gar nicht so selten vor, dass wir Zeitzeugen treffen – vor allem im Museum“, sagt er auf Nachfrage. Natürlich werde das weniger, aber auch Nachfahren kommen und bringen zum Beispiel Zeichnungen, Briefe oder Tagebücher mit. „Da sind viele gute Informationen dabei“, so Jensen. „Wir stützen uns natürlich viel auf Archivmaterial, weil es genauer ist. Aber die Geschichten, die diese Menschen mitbringen, sind oftmals eine gute Ergänzung.“