Krieg in der Ukraine

„Papa, wie willst du die Kartoffeln kochen, wenn der Strom abgeschaltet ist?“

„Papa, wie willst du die Kartoffeln kochen, wenn der Strom abgeschaltet ist?“

„Papa, wie willst du ohne Strom Kartoffeln kochen?“

Apenrade/Aabenraa
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Menschen stehen vor einem zerstörten Gebäude nach Bombenangriffen auf die ostukrainische Stadt Tschuguiv am 24. Februar 2022. Foto: Aris Messinis/AFP/Ritzau Scanpix

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Der Krieg in der Ukraine trifft viele Menschen in Nordschleswig und Dänemark ganz direkt. Wie erleben sie die Invasion? Wir haben mit zwei Frauen gesprochen. Über Familie im Kriegsgebiet und darüber, wie Menschen aus der Ukraine, aus Weißrussland und Russland hier bei uns jetzt einander begegnen.

Als wir am Donnerstagnachmittag bei Tatiana Ponomarova in dem Dorf Kollemorten bei Give anrufen, ist sie noch ganz erschüttert von dem, was seit den frühen Morgenstunden Fakt ist: Russland hat ihr Heimatland überfallen.

Es ist Krieg in der Ukraine. Es ist Krieg in Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, in der ihr Vater, ihr Sohn, die Schwiegertochter und das Enkelkind leben. 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Über Telefon und WhatsApp hält Tatiana Ponomarova Kontakt. „Ich habe doch noch 15 Kilo Kartoffeln“, habe ihr Vater ihr versichert. Sie solle sich nicht sorgen.

„Papa, wie willst du die Kartoffeln kochen, wenn der Strom abgeschaltet ist?“, so Ponomarovas verzweifelte Frage aus dem fernen Dänemark.

Ich habe gerade gestern Geld geschickt, damit sie sich Pässe besorgen und herkommen können.

Tatiana Ponomarova

Gas und Strom sind abgestellt in Charkiw. Viele der Menschen in der Millionenstadt sitzen jetzt abends im Dunkeln und in der Kälte.

2007 ist Ponomorova nach Dänemark gekommen, hat 13 Jahre lang in Sonderburg (Sønderborg) gelebt und arbeitet heute in einer Baufirma bei Give – und als Yoga-Lehrerin. „Ich habe gerade gestern Geld geschickt, damit sie sich Pässe besorgen und herkommen können“, sagt sie über ihre Familie. Im Hintergrund laufen die Nachrichten. Natürlich nicht die russischen.

Schwarzer Rauch steigt am 24. Februar 2022 von einem Militärflughafen in Tschugujew bei Charkiw auf. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Donnerstag eine Militäroperation in der Ukraine angekündigt. Kurz darauf waren im ganzen Land Explosionen zu hören, und der russische Außenminister warnte vor einer „Invasion im großen Stil“. Foto: Aris Messinis/AFP/Ritzau Scanpix

„Alles ist Propaganda. Ihm wird einfach alles geglaubt“

„Putin lügt viel“, sagt sie. „Alles ist Propaganda. Ihm wird einfach alles geglaubt. Dass er behauptet, es habe in der Ukraine einen Genozid an der russischen Bevölkerung gegeben, ist der Gipfel“, meint sie.

Mehr als hundert Nationalitäten würden in Charkiw friedlich zusammenleben, ihre Kinder spielten zusammen. Dass die Russinnen und Russen in der Ukraine Schutz bräuchten, davon könne keine Rede sein.

Übrigens fühlten sich auch gar nicht wenige Russischstämmige heute ganz ukrainisch, die Ukraine sei ihr gefühltes Vaterland, sagt Ponomarova.

Am Vortag des russischen Angriffs auf die Ukraine marschieren in Moskau Menschen mit Porträts jenes Mannes durch die Straßen, der für den Tod von Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern verantwortlich war: Josef Stalin. Der 23. Februar ist „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ und ein gesetzlicher Feiertag in Russland. Foto: Sergei Ilnitsky/EPA/Ritzau Scanpix

Putins Genozid-Behauptung ein Hohn für die Menschen in der Ukraine

Dass Putin da das Wort Genozid überhaupt in den Mund zu nehmen wage, sei angesichts der Geschichte ungeheuerlich.

In den frühen 1930er Jahren, besonders 1933, war es, als Stalin geschätzte neun Millionen Menschen in der Sowjetunion vorsätzlich verhungern ließ, während zugleich Getreide ins Ausland exportiert wurde.

In der Ukraine allein kostete „Holodomor“ mindestens 3,5 Millionen Menschen das Leben.

Dem vorangegangen waren millionenfache Deportationen von als Klassenfeinden eingestuften Landwirten und drakonische Strafen für Erntemisserfolge sowie der Raub von dem wenigen, was gegen diese und weitere maßlose Widerstände noch produziert werden konnte.

Dieser grausame und zynische Umgang mit Menschenleben seitens Moskaus wird heute von vielen Ländern als Völkermord eingestuft.

Dass Putin also ausgerechnet in der Ukraine von Völkermord an russischen Mitbürgern spricht, ohne auch nur irgendeinen Anhaltspunkt für diese Behauptung zu nennen, erschüttert nicht nur Tatiana Ponomarova.

Ira Bogovic (Archivfoto) arbeitet in der Deutschen Zentralbücherei in Apenrade – und ist entsetzt über Putins Angriffskrieg. Foto: Nele Dauelsberg

„Putin schreibt die Geschichte um“

„Putin schreibt die Geschichte um. Die Ukrainer werden lächerlich gemacht, man erzählt sich Witze über sie. Und das wabert durch die ganze russische Geschichte“, weiß auch Ira Bogovic zu berichten.

Die studierte Bibliothekarin arbeitet an der Deutschen Zentralbücherei in Apenrade, hat einen belarussischen Mann und eine belarussische Mutter und ist in Nordschleswig mit vielen Menschen vernetzt, die aus Nationen stammen, die einst Teil der Sowjetunion waren.

Mauern in den Köpfen: Wenn Freundschaften an Politik zerbrechen

Schon seit der russischen Besetzung der Krim 2014 „gibt es eine Spaltung in der russischsprachigen Community. Das spaltet Familien, Freunde und Bekannte“, erzählt sie.

„Da gibt es keine Grauzone. 2014 haben wir einige Freundschaften verloren. Und diese Spaltung wird es nun wieder geben“, ist sie sich sicher.

Die in der DDR aufgewachsene Bogovic hat, lange vor ihrer Bibliothekarinnen-Ausbildung, einen Magister in Betriebswirtschaftslehre und Osteuropastudien gemacht, für den sie einst auch in der Ukraine studierte.

Wo man auch in Europa reinstochert, ist da russisches Geld.

Ira Bogovic

 

Mit ihrer ukrainischen Freundin, mit der sie sich damals in Dnipro (damals noch Dnipropetrowsk) eine Wohnung teilte, hat sie gerade erst gesprochen. Auch darüber, wie aussichtslos die Lage scheint, weil Russland so übermächtig ist.

„Und das russische Geld sitzt in London, Berlin und anderen Hauptstädten. Mit denen will es sich niemand verscherzen. Wo man auch in Europa reinstochert, ist da russisches Geld“, sagt sie.

Und sie ärgert sich über die vielen „Russlandversteher“, wie sie Menschen nennt, die versuchen, Putins Politik zu rechtfertigen.

Über deren „Whataboutism“ kann sie sich aufregen: „Die sagen dann, die Amerikaner haben ja auch dieses oder jenes getan. Aber die haben doch jetzt nicht  die Ukraine angegriffen!“

Friedensdemonstration in Moskau am Donnerstag Foto: Gavriil Grigorov/TASS/Ritzau Scanpix

„Die Ukrainer sind unsere Brüder“

Auch Tatiana Ponomarova ärgert sich darüber, wie zurückhaltend die Unterstützung für die Ukraine lange war. Dabei gebe es selbst in Russland Unverständnis über Putins Angriff.

„Eine Verwandte aus Sankt Petersburg hat angerufen. Sie hat erzählt, dass auch viele Russinnen und Russen weinen“, sagt sie. In Moskau und Petersburg seien Menschen auf die Straße gegangen, hätten gerufen „die Ukrainer sind unsere Brüder“, seien dann aber umgehend auseinandergetrieben worden.

„Ich hoffe sehr, dass die Menschen in Russland begreifen, dass das alles verkehrt ist, wenn sie sich fragen, weshalb ihre Söhne in der Ukraine einmarschieren. Dass sie begreifen, dass Putin wegmuss“, sagt Ponomarova.

Doch Hoffnung habe sie kaum. Ja, es gebe Lichtblicke. Eine Nachbarin ich Charkiw zum Beispiel, die Russin ist und erzählt, dass alle in ihrer russischen Familie Putin nicht ausstehen können und auf Seiten der Ukraine stünden. Sie würden die staatlichen Medien umgehen, sich über die sozialen Medien austauschen, schickten einander Nachrichten dazu, „was wirklich passiert“.

Ich habe Angst, dass, bevor es zu einem Wandel kommt, viele Menschen getötet werden.

Tatiana Ponomarova

Sie hofft, dass Menschen wie der oppositionelle Alexei Nawalny mehr Gehör gegen die staatliche Propaganda finden können.

„Aber ich habe Angst, dass, bevor es zu einem Wandel kommt, viele Menschen getötet werden. Mitten in Europa im 21. Jahrhundert. Anstatt gemeinsam in eine neue Zukunft aufzubrechen“, sagt sie.

Und denkt an ihre Familie in der Ukraine. Die sollen am besten raus aus der Stadt, zu Verwandten aufs Land, wo vielleicht keine Bomben fallen werden.

Und dann am liebsten nach Dänemark.

Wie hier in Kiew waren am Donnerstag überall in der Ukraine Menschen in Bewegung. Die Straßen aus den Städten heraus waren verstopft. Der Flugverkehr wurde eingestellt. Foto: Valentyn Ogirenko/Reuters/Ritzau Scanpix

Dahin, wo auch Ira Bogovic seit einigen Jahren lebt und die Nachrichten aus der Ukraine aufmerksam verfolgt.

Nicht zuletzt seit den regimekritischen Protesten in Belarus 2020 gebe es bei ihr und vielen Belarusssinnen und Belarussen ein enges Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen in der Ukraine.

„Wir haben Hochachtung vor den Ukrainern, die sich behaupten und darauf bedacht sind, ihre Sprache und ihre Traditionen zu pflegen“, sagt sie.

„In der Ukraine herrscht doch schon seit 2014 Krieg“

Und das trotz der ständigen Bedrohung aus Moskau. „In der Ukraine herrscht doch schon seit 2014 Krieg“, sagt sie. „Bei der Flüchtlingswelle damals sind auch viele Ukrainer gekommen, die sich super integriert haben, auch in Deutschland. Darüber wurde nur kaum berichtet. Die galten als Vorzeige-Integrierte“, so Bogovic.

Doch dann wurden sie zuletzt trotzdem wieder in die Ukraine zurückgeschickt – was sie nicht nachvollziehen kann. Viele dieser Menschen seien ein zweites Mal mitten aus dem Leben, mitten aus vielversprechenden Karrieren, Freundeskreisen und familiären Beziehungen oder mitten aus dem Studium gerissen worden.

In ein Land, das jetzt von Putins Truppen  angegriffen wird. „Wir haben Angst, Mitgefühl, Hoffnungs- und Machtlosigkeit, alles auf einmal“, sagt Bogovic.

Putin ein „Psychopath“ oder „Lord Voldemort“

„Jetzt hat er schon wieder gewonnen“, sagt sie über Putin, den Tatiana Ponomarova unumwunden einen „Psychopathen“ nennt. „Mit solchen Menschen kann man nicht reden und argumentieren. Die kann man nicht mehr erreichen. Er muss weg“, sagt sie.

Und auch Ira Bogovic hat kein gutes Wort für den Machthaber in Moskau übrig. „Wir nennen ihn Voldemort, den dunklen Lord von Moskau“, sagt die Bibliothekarin. „Weil er irgendwie immer wieder aufpoppt.“

Anders als in den Büchern ist in der Wirklichkeit jedoch kein Harry Potter in Sicht. Die Ukraine scheint ihrem Schicksal überlassen.

Deshalb hofft Tatiana Ponomarova auf die Menschen in Russland.

„Die Opposition ist klein. Aber es werden mehr“, sagt sie, wie um sich selbst Mut zu machen.

Im Hintergrund laufen die Nachrichten.

Die Russen haben das Atomkraftwerk Tschernobyl besetzt.

In den russischen Großstädten werden Demonstrantinnen und Demonstranten festgenommen, die rufen „Nein zum Krieg!“.

 

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