50 Jahre EU: Einer wird gewinnen

Wahlboykott der Minderheit mit „Urne“ und mit Hintertür

Wahlboykott der Minderheit mit „Urne“ und mit Hintertür

Wahlboykott der Minderheit mit „Urne“ und mit Hintertür

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Staatsminister Jens Otto Krag und der Hauptvorsitzende des BDN, Harro Marquardsen auf dem Sonderburger Flugplatz. Foto: Der Nordschleswiger

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Staatsminister Krag spielte mit Kindern im Deutschen Kindergarten Apenrade und der heftige Streit um die Sperrklausel. Was dahintersteckt, weiß Seniorkorrespondent Siegfried Matlok im zehnten Teil der Serie „50 Jahre EU“ zu berichten.

Nach dem Ausscheiden der Schleswigschen Partei aus dem Folketing stürzte die deutsche Minderheit 1964 politisch in ein tiefes Loch: Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ meldete, die Wahlniederlage habe alle empfindlich getroffen und manchen Blutdruck bis zur Alarmstufe I steigen lassen. 

Besonders enttäuscht zeigte sich die Minderheit von der Kopenhagener Reaktion, die Sperrklausel nicht zugunsten der deutschen Minderheit aufheben zu wollen. Hätte man in Nordschleswig dieselbe Befreiung von der Sperrklausel, wie sie für die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein durchgeführt wurde, dann wäre Harro Marquardsen seit 1964 Mitglied des Folketings, ergab eine Wahlanalyse. 

Die Schleswigsche Partei hätte nämlich mit ihren 9.274 Stimmen ohne Sperrklausel das 18. Zusatzmandat geholt, doch nun musste die deutsche Volksgruppe nach neuen Wegen, Auswegen aus der in Kopenhagen festgefahrenen Situation finden.

Der sozialdemokratische Staatsminister Jens Otto Krag hatte auch gegenüber dem Folketing gleich nach der Wahl deutlich ein Entgegenkommen signalisiert. Im Januar 1965 erteilten die Delegierten des Bundes den drei gescheiterten Folketingskandidaten mit Harro Marquardsen an der Spitze ein Verhandlungsmandat mit vier Punkten in einer Entschließung.

 Im März – nachdem der Vorbereitungs-Ausschuss schon vier Sitzungen in Kopenhagen abgehalten hatte – sprachen sich 215 von 222 Delegierten für den Vorschlag von Regierung und Folketingsparteien aus, offiziell einen Kontaktausschuss für die deutsche Minderheit zu bilden, aber auch die Annahme des Kontaktausschusses durch die Delegierten erfolgte mit dem Vorbehalt einer befriedigenden Lösung in der Wahlgesetzfrage. 

Krag und sechs Minister

Mit Spannung wurde nun am 19. Mai 1965 die erste Sitzung des Kopenhagener Kontaktausschusses erwartet, die unter der Leitung von Jens Otto Krag und der Teilnahme von nicht weniger als sechs Ministern (!) im Staatsministerium stattfand.  Marquardsen hoffte auf Lösungen –  vor allem bei den noch nach 1945 offenen Pensionsfragen  – und machte zugleich die dänischen Politiker darauf aufmerksam, „dass man den Ausschuss im Landesteil in einigen Kreisen mit einer gewissen Skepsis betrachtet“. Zu den Skeptikern und Kritikern gehörte nach innen und aber auch nach außen auch der bisherige Folketingsabgeordnete Hans Schmidt-Oxbüll, der den Kontaktausschuss als „Beerdigungsausschuss“ bezeichnete – ein dankbares Geschenk für den Karikaturisten von „Æ Rummelpot“ mit Krag, Schmidt-Oxbüll und mit einer Urne für den Beerdigungs-Ausschuss der Minderheit. 

Zeichnung aus Æ Rummelpot Foto: Æ Rummelpot

Minderheit künftig von Unterschriften befreit

Die Premiere des Kontaktausschusses brachte jedoch einen nicht unwichtigen Erfolg, der noch heute Bestand hat: Die Partei der deutschen Minderheit wurde von der Notwendigkeit der Sammlung von Unterschriften als Voraussetzung für die künftige Teilnahme an Folketingswahlen befreit. Die Frage der Sperrklausel sollte später geklärt werden, aber sie wurde auch grenzüberschreitend wieder ein Thema, denn im Frühjahr 1965 teilte der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) mit, nicht an der Bundestagswahl teilzunehmen. Die dänische Minderheit forderte für sich in Bonn einen Kontaktausschuss von der Bundesregierung, der ihr unter dem Vorsitz des Bundesinnenministers eingeräumt wurde – auch mit Blick nach Dänemark.   

Nachdem sich im Juni bei einer weiteren Sitzung in Kopenhagen eine Teillösung in der Pensionsfrage angebahnt hatte, geschah am 19. September etwas Historisches.

Harro Marquardsen empfängt Staatsminister

Der im Juni für drei Jahre wiedergewählte BdN-Vorsitzende Harro Marquardsen konnte auf dem Sonderburger Flugplatz Staatsminister Jens Otto Krag begrüßen. „Es war das erste Mal seit der Abtretung, dass der dänische Staatsminister der Volksgruppe in Nordschleswig einen Besuch abstattete“, so ein stolzer Marquardsen über seinen hohen Gast.

An der Sitzung in Tingleff (Tinglev) nahmen nicht weniger als fünf Minister teil, unter den Vertretern der Parteien unter anderem Poul Schlüter für die Konservativen. Die Ausschuss-Mitglieder besichtigten mehrere Einrichtungen der Volksgruppe, sahen die Baumaßnahmen der neuen Deutschen Hauptbücherei in Apenrade, und im Deutschen Kindergarten Apenrade spielte Krag sogar persönlich mit mehreren Kindern. Auf Fragen des Staatsministers antworteten sie – auf „Sønderjysk“.

Das Eis war zwar atmosphärisch gebrochen, aber die Kuh war noch nicht vom Eis: Die Sperrklausel war für die Minderheit ein fast unüberwindbares Hindernis auf dem Wege auch zu einer politischen Integration auf Landesebene, und die Tatsache, dass sowohl die schleswig-holsteinische Landesregierung als auch der neue SSW-Vorsitzende Karl Otto Meyer die Forderung nach Aufhebung grundsätzlich unterstützen, erhöhte den Druck auf Kopenhagen.  

„Jyllands Posten“ deutete im November überraschend sogar eine mögliche Beseitigung der Sperrklausel gegen die deutsche Minderheit an, doch auf der Sitzung gab es kein dänisches Einlenken. Die Regierung hatte bei einer geplanten Reform des Wahlgesetzes auch keine Pläne in dieser Richtung. Kurz vor der parlamentarischen Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes trat der Hauptvorstand des BdN zusammen, um am 7. Dezember die Mitglieder des Kontaktausschusses aufzufordern, erneut bei Staatsminister Krag in der Sperrklausel-Frage in Kopenhagen vorstellig zu werden.

Fünf vor Zwölf

In einem Leitartikel unter der Überschrift „Fünf vor Zwölf“ stellte Chefredakteur Jes Schmidt fest: „Wir deutschen Nordschleswiger sind weder Querulanten noch Krakeeler – auch nicht in der Frage der Reform des Wahlgesetzes.“  

Die Entscheidung im Folketing war klar: 153 Abgeordnete lehnten einen Antrag des liberalen Abgeordneten Niels Westerby ab, die Sperrklausel auch für die deutsche Minderheit zu streichen. Immerhin wurde vom Folketing die Befreiung der deutschen Minderheit von der Unterschriften-Sammlung – damals rund 15.000 –  beschlossen.

Als eine paradoxe Situation beschrieb „Der Nordschleswiger“ die neue/alte Lage: Südlich der Grenze sitzt der SSW-Abgeordnete Bahnsen im Landesparlament, weil die Sperrklausel für die dänische Minderheit aufgehoben worden ist, nördlich der Grenze ist die deutsche Minderheit nicht im Parlament vertreten, weil die Sperrklausel auf sie angewendet worden ist.

Mit anderen Worten: Die deutsche Minderheit sah für sich parlamentarisch keine faire Chance, und vor diesem Hintergrund stellte sich die Sperrklausel-Frage plötzlich erneut, als Staatsminister Krag im November unerwartet Neuwahlen ausschrieb – zwei Jahre nach der vorherigen Folketingswahl. 

Protest-Minderheit ohne faire Chance

Während in Apenrade das neue Pressehaus an der Schiffbrücke eingeweiht wurde, diskutierte der Deutsche Tag in Tondern über die Frage, ob die Volksgruppe an der Folketingswahl teilnehmen solle. Harro Marquardsen meinte, dass sich die Volksgruppe an Wahlen beteiligen müsse, auch „wenn wir ein totes Rennen laufen“. Nach seiner Ansicht sei „die Aufrechterhaltung der Sperrklausel eine Ungerechtigkeit“.

48 Stunden später entschied die Delegiertenversammlung in Tingleff: Aus Protest gegen die Aufrechterhaltung der Sperrklausel gegen die deutsche Volksgruppe wird die Schleswigsche Partei nicht an der Folketingswahl teilnehmen, der Kampf um eine eigene Vertretung im Folketing geht jedoch weiter:

„Das nordschleswigsche Deutschtum wird wieder an Folketingswahlen teilnehmen, wenn eine faire Chance Wahlchance gegeben ist“ In der Entschließung der Delegierten wurde die Protesthaltung aber mit der Aufforderung an die Mitglieder des Kontaktausschusses verbunden, „sich in Kopenhagen weiterhin energisch für die Wahlrechtsreform einzusetzen“.

Schämen am Grab des Vaters

144 stimmten gegen die Wahlbeteiligung – 130 für die Wahlteilnahme, und angesichts des knappen Ergebnisses bemühte sich der Hauptvorsitzende zu beschwichtigen, um eine drohende Spaltung in den eigenen Reihen zu vermeiden: „Es darf keine Verlierer und Gewinner geben. Wir bleiben eine einige Volksgruppe“, so Marquardsen.

Wie emotional die Debatte verlief, zeigte am Beispiel eines Sonderburger Delegierten: „Ich würde mich schämen, an das Grab meines Vaters zu treten, wenn ich am 22. November nicht Deutsch stimmen kann. Wir haben am Wahltag die Pflicht, vor uns selber zu bestehen. Lieber eine Niederlage als eine Kapitulation.“

Zeitung öffnet kleine Hintertür 

Die Zeitung stellte die wichtige Frage: Was macht der deutsche Nordschleswiger am Wahltag? Und sie lieferte folgende Antwort: Der Wähler bleibt morgen dem Wahllokal fern. Das werden diejenigen Wähler tun, die ihr Leben lang Deutsch gewählt haben und die nicht wissen, welcher dänischen Partei sie ihre Stimme geben sollten.  Wer sich parteipolitisch heimatlos fühlt, handelt ohne Zweifel richtig, indem er auf die Stimmabgabe verzichtet.  

Als Alternative bot die Zeitung aber an: Der Wähler kann den Stimmzettel auch blank abgeben. Und um möglichst keinen als zu nationalpolitisch zu verdächtigen, öffnete die Zeitung noch eine kleine Hintertür mit folgendem Hinweis: „Wer diese oder jene dänische Partei aus wirtschaftlichen oder steuerpolitischen Gründen unterstützen möchte, der gibt ihr morgen seine Stimme.  Er kann dieses guten Gewissens nach dem Tingleffer Beschluss genauso tun wie diejenigen, die zu Hause bleiben.“

Die demonstrative Entscheidung war nicht nur in den eigenen Reihen umstritten. „Berlingske Tidende“ zeigte völliges Unverständnis für den Protest der deutschen Nordschleswiger, und die „Kieler Nachrichten“ schrieben: „Das Fernbleiben von der Wahl kann jetzt durchaus als ein Zeichen der Schwäche ausgelegt werden, so als habe die Volksgruppe kein Vertrauen mehr in die eigene Kraft.“

Auch der frühere Folketingsabgeordnete der Schleswigschen Partei, Hans Schmidt-Oxbüll, meldete sich kritisch zu Wort – in „Flensborg Avis“. Er wertete die Entscheidung „als totalen Schiffbruch für die Volksgruppe“. Es sei eine Niederlage für die Leitung der Minderheit, und die Folgen würden nicht ausbleiben, meinte Oxbüll.

Nur 14 Stimmen Mehrheit gaben bei den Delegierten den Ausschlag, aber wie verhielt sich der deutsche Nordschleswiger am Wahltag trotz des von der Volksgruppe mehrheitlich ausgerufenen Boykotts?

Volksgruppen-Wählerschaft mehrheitlich für Krag  

Ein junger Mitarbeiter im Deutschen Generalsekretariat, Hermann Heil, errechnete in einer Untersuchung, dass rund 5.800 deutsche Nordschleswigerinnen und Nordschleswiger bei der Folketingswahl ihre Stimme abgegeben haben.

Laut Heil mit folgendem Ergebnis: Etwa 3.500 wählten sozialdemokratisch, 1.800 Konservative Volkspartei, 160 Venstre, und 340 wählten die Unabhängigen. Nach seinen Berechnungen hatten 3.400 deutsche Wählerinnen und Wähler ihre Stimme nicht abgegeben, einige Hunderte hatten jedoch blank gestimmt.

Auf den Ausgang der Wahl dürfte der Beschluss kaum einen Einfluss haben. 

„Auf dänischer Seite sollte man sich davor hüten, den Tingleffer Beschluss als eine politische Kapitulation auszulegen. Der Kern der Volksgruppe ist nicht bereit, eine Flucht aus der Geschichte anzutreten“, lautete ein Kommentar in der eigenen Zeitung, die nur zwischen den Zeilen zu erkennen gab, dass die Delegierten mit ihrer Entscheidung dem Kurs der „Führung“ nicht gefolgt waren. 

Krag bedauert Nichtteilnahme der Volksgruppe

Staatsminister Jens Otto Krag bedauerte gegenüber dem „Nordschleswiger“, „dass die deutsche Volksgruppe der Wahl fernbleiben will“. 

Bis zu 75 Prozent der deutsch-nordschleswigschen Wählerschaft setzten also am 22. November ihr Kreuz auf der Liste einer dänischen Partei. Davon profitierten vor allem Krags Sozialdemokraten, die erfolgreich mit der Einführung der Quellsteuer geworben hatten.

Nach der Wahl 1966 wurde ein Spruch des wiedergewählten Staatsministers Jens Otto Krag legendär: „Ich habe einen Standpunkt, bis ich einen neuen vertrete.“

Diesen politischen Lehrsatz übernahm die deutsche Minderheit schon zwei Jahre später – bei der nächsten Folketingswahl 1968.

Als Stadtrat ist Stephan Kleinschmidt Teil des Verwaltungsvorstands im Flensburger Rathaus. Dieser ist so etwas wie die Stadtregierung Flensburgs. Ihm gehören neben Kleinschmidt der Oberbürgermeister Fabian Geyer, Bürgermeister Henning Brüggemann als sein Stellvertreter und Dezernentin Karen Welz-Nettlau an.

Während der Oberbürgermeister direkt von den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt gewählt wird und Dezernentin Welz-Nettlau eine Laufbahn-Beamte auf Lebenszeit ist, werden der Bürgermeister und der Stadtrat für eine Amtszeit von sechs Jahren von der Ratsversammlung gewählt.

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