50 Jahre EU: Einer wird gewinnen
Entführungsfälle und Polizistenmorde
Entführungsfälle und Polizistenmorde
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Entführungsfälle: Eine wird gefunden – einer bleibt verschwunden und ein vierfacher Polizistenmord. Was dahintersteckt, weiß Seniorkorrespondent Siegfried Matlok in der Serie „50 Jahre EU“ zu berichten.
Irgendwo auf Seeland lebt heute eine ältere Frau mit dem Namen Tina, die als Baby wochenlang das ganze Königreich zittern ließ. Es war ein Kriminalfall, der das ganze Land in Atem hielt, als ein nur zweieinhalb Monate altes Kind entführt wurde.
Die 22-jährige Mutter, Hanne Wiegels, hatte das schlafende Kind im Kinderwagen am 12. Dezember 1965 mittags in der Kopenhagener Innenstadt vor Daells Varehus abgestellt, doch als sie kurz darauf zurückkehrte, waren Kinderwagen und Kind spurlos verschwunden.
Der Kinderwagen wurde wenig später in der Nähe des Warenhauses aufgefunden – aber leer. Ganz Dänemark suchte nach Spuren im Entführungsfall. 2.000 Polizeibeamte und 100 rund Kriminalbeamte ermittelten, und die Eltern appellierten in der Öffentlichkeit an den/die Täter. Sogar Staatsminister Jens Otto Krag nannte in seiner Neujahrsansprache den Fall Tina.
Der entscheidende Tipp kam von einem Werftarbeiter in Helsingør, der sich in einem Brief am 29. Dezember an die Polizei gewandt hatte, doch erst am 11. Januar klopfte die Polizei an die Tür einer Frau namens Conny, die ein Baby in ihren Armen hielt, aber anhand eines Muttermals stellte sich schnell heraus, dass es sich um die kleine Tina handelte.
Das Geständnis der Frau fiel prompt und erschütterte das Land: Conny war kurz vor ihrer Hochzeit mit Leif schwanger geworden, doch danach erlitt sie eine Fehlgeburt, die sie aus Angst um ihre Ehe verschwieg. Eines Tages kam Leif von der Arbeit nach Hause und fand Conny glücklich im Bett, mit einem Kleinkind in den Armen. Entlarvt wurde die falsche Mutter jedoch durch den befreundeten Werftarbeiter, der sich darüber wunderte, dass das Neugeborene schon so groß war und der deshalb Verdacht schöpfte.
Telegramm vom König
„Ich möchte Ihnen meine große Freude über die Rückkehr von Tina ausdrücken. Sie waren in den vergangenen vier Wochen stets in meinen Gedanken“, schrieb König Frederik IX. am 12. Januar 1966 in einem Telegramm an die glücklichen Eltern Hanne und Peter Wiegels.
Conny wurde wegen der Kindesentführung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, aber die Ehe mit Leif hielt dennoch, und das Ehepaar bekam später selbst eigene Kinder.
Tinas Vater wird ermordet – in Gramm
Um dem Interesse der Öffentlichkeit zu entgehen, zog das Ehepaar Wiegels mit Tina nach Fünen, aber das Familienglück währte nicht lange. Peter verlor seinen Job und fand neu Beschäftigung in der Teppichfabrik in Gramm.
Zehn Jahre nach der Entführung berichtete „Jyllands Posten“ über ein blutiges Eifersuchtsdrama in Gramm, als ein eifersüchtiger Ex-Ehemann den neuen Freund seiner damaligen Frau in deren Villa angriff. Die Frau konnte fliehen, doch der Freund wurde niedergestochen und starb.
Es war Tinas Vater, Peter Wiegels.
Nach 56 Jahren keine Spur von „Basse“
Während Tina ihre Entführung überlebte, gab es wenige Wochen später einen weiteren schockierenden Entführungsfall in Dänemark, der aber leider kein Happy End fand: Bis heute fehlt vom kleinen Jungen „Basse“ jede Spur.
Am 7. Februar 1966 hatte die Mutter den Kinderwagen mit dem schlafenden Baby vor dem Geschäft „Lise“ in der Kongensgade in Odense abgestellt, um Kinderzeug für den Jungen zu kaufen, doch bei ihrer Rückkehr war das Kind verschwunden. Der zweieinhalb Monate alte Junge hatte zwar den Namen „Basse“, war aber noch nicht getauft worden.
Nach 56 Jahren ist sein Schicksal weiterhin ungeklärt.
Vierfacher Polizistenmord und „Der Nordschleswiger“
Das schlimmste Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg ereignete sich am 18. September 1965 in Kopenhagen und erschütterte ganz Dänemark: nach der größten Verbrecherjagd in der Geschichte des Landes fasste die Polizei schon wenig später die Täter, die in der Nacht auf Amager vier Polizisten erschossen hatten. Es waren der 38-jährige Feinmechaniker Palle Sørensen und der 47-jährige Invalidenrentner Norman Lee Bune.
Sørensen gestand die Tat, er hatte innerhalb von sechs Minuten (!) vier junge Polizeibeamte erschossen, die in ihren Streifenwagen die beiden Ganoven mit Diebesgut verfolgt hatten. Komplize Bune war während der dramatischen Verfolgungsjagd aus dem Sørensen-Simca gesprungen und hatte auf der Flucht seine Waffe weggeworfen.
Ein aufsehenerregender Fall, der unerwartet auch auf meinem Schreibtisch im Pressehaus landete, denn ich war damals beim „Nordschleswiger“ junger Sportmitarbeiter und wurde gleichzeitig als Polizeireporter eingesetzt.
Der mysteriöse „Herr D.“
Ein damals 60-jähriger Apenrader – wir nannten ihn in der Zeitung nur „Herr D.“ – war bis 1953 mit der Frau von Sørensen-Komplize Bune verheiratet, die er 1928 unter dem Namen Lina Antje Deeken in Hamburg geheiratet und mit der er die gemeinsame Tochter Irmgard hatte. Wegen schweren Vergehens während der deutschen Besatzungszeit war „Herr D.“ zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden, die er bis 1952 im Staatsgefängnis Horsens verbüßte.
Danach ließ sich Lina scheiden und heiratete – nun mit Lia als Vorname – den Kriminellen Norman Lee Bune, den sie offenbar im Zuchthaus getroffen hatte, wo sie als Reinigungskraft arbeitete. Sørensen und Bune hatten sich im Gefängnis kennengelernt und begingen gemeinsam eine Serie von Einbrüchen – bis zum tragischen Ende auf Amager.
Der Apenrader wandte sich an uns, weil er um das Leben seiner ehemaligen Frau Lina besorgt war, die nach seiner Meinung zum kriminellen Milieu um Sørensen/Bune gehörte. „Herr D.“ war selbst in tödlicher Gefahr gewesen und in Horsens von einem unbekannten Täter niedergestochen und schwer verletzt worden.
Zur großen Verwunderung hatte Frau Lia Bune nicht einmal die Polizei alarmiert, als Palle Sørensen in ihrer Gegenwart auf der Flucht seinem Komplizen Bune seine vier Polizisten-Morde gestanden hatte – in ihrer Wohnung Sirgræsvej 118.
Mit „Herrn D.“ fuhr ich in meinem alten Mercedes – und einem etwas mulmigen Gefühl – nach Horsens, wo er sich bei Bekannten, auch im Zuchthaus, nach dem Schicksal seiner früheren Frau erkundigte, die er durch ihr Wissen in Gefahr sah. Der Chef der Kopenhagener Kriminalpolizei, Kriminalkommissar Knud Hornslet, zeigte sich dankbar für die Hinweise des „Nordschleswigers“ über mögliche Hintergründe von Frau Lia Bune.
Palle Sørensen wurde zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt und verbüßte 32 Jahre, sieben Monate und 15 Tage, bevor er als 71-Jähriger 1998 entlassen wurde. 2018 starb Sørensen 90-jährig im Kopenhagener Stadtteil Valby.
Das Schicksal der Familie Bune blieb unbekannt.