Voices – Minderheiten-Welt

„Zwei Jahre Angriffskrieg: Oppositionelle und Minderheiten zahlen in Russland den höchsten Preis“

Zwei Jahre Angriffskrieg: Oppositionelle und Minderheiten zahlen in Russland den

Russland: Oppositionelle und Minderheiten zahlen hohen Preis

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kiel/Berlin
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Proteste in Russland gegen den Krieg führen ausnahmslos ins Gefängnis oder gar ins Grab, schreibt Jan Diedrichsen in seiner Kolumne. Nun trifft es den Menschenrechtler Oleg Orlow, der sich für Minderheiten in Russland einsetzt, die in diesem Krieg einen besonders hohen Preis zahlen. Er muss in Haft, weil er die russischen Streitkräfte „diskreditiert“ haben soll.

Seit Wladimir Putin vor zwei Jahren den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gegeben hat, sind rund 31.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten bei der Verteidigung des Landes ums Leben gekommen, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche erstmals berichtete. Die russischen Streitkräfte erlitten laut Selenskyj 500.000 Verluste, davon 180.000 getötete Soldaten. 

Gefängnis oder Grab

Nichts deutet darauf hin, dass dieser brutale Angriffskrieg durch Verhandlungen beendet werden könnte. Proteste gegen den Krieg führen ausnahmslos ins Gefängnis oder gar ins Grab, wie die Ermordung des Oppositionellen Alexej Nawalny in der sibirischen Strafkolonie erneut auf grausame Weise gezeigt hat.

Dennoch gibt es Menschen, vor deren Mut wir uns allein schon verneigen können: Der 70-jährige Oleg Orlow von der Menschenrechtsorganisation Memorial (Friedensnobelpreisträger 2023) wurde in einem Prozess in Moskau zu zweieinhalb Jahren Arbeitslager verurteilt. Oleg Orlow erhielt 2011 den Victor-Gollancz-Preis der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) für seinen Einsatz für Nationalitäten und Minderheiten in Russland. 

Menschenrechtler zitiert Kafka

Sein Vergehen: Er soll die russischen Streitkräfte „diskreditiert“ haben. Genaue Beweise wurden nicht vorgelegt. Während des Prozesses las der Menschenrechtler demonstrativ in Franz Kafkas 'Der Prozess' und sagte in seinem Schlusswort: 

„Wie soll man das politische System nennen, in dem das alles geschieht? Es gibt keine Freiheit der Wissenschaft, der Kunst, des Privatlebens. Willkür wird als Einhaltung pseudolegaler Verfahren getarnt. Selbst gegen den toten Nawalny führen die Behörden Krieg. Kafkas Held hat nie erfahren, was man ihm vorwirft. Mir wurde der Vorwurf formell mitgeteilt, es ist unmöglich, ihn zu verstehen. Aber die Gegenwart und die Zukunft gehören uns, und das ist der Schlüssel zu unserem Sieg.“

Anschließend wurde Orlow in Handschellen in ein Arbeitslager gebracht. 

Die Minderheiten und Nationalitäten Russlands, für die sich Oleg Orlow und Memorial seit Jahrzehnten einsetzen, zahlen einen besonders hohen Preis. Obwohl ethnische Russen in absoluten Zahlen die Mehrheit der Todesopfer stellen, sind die nicht-slawischen Minderheiten und indigenen Völker Russlands unter den Opfern im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung des Landes stark überrepräsentiert, wie eine aktuelle Studie zeigt. 

Völker werden verschwinden

„Am schlimmsten ist die Situation [...] unter den kleinen indigenen Völkern des Nordens, die [per Gesetz] vom Militärdienst befreit werden sollten“, sagte die in den USA lebende burjatische Wissenschaftlerin Maria Vyushkova der im Exil erscheinenden Moscow Times. „Das ist eine schreckliche Tragödie, über die niemand spricht. [...] In einer Generation werden diese Völker einfach verschwunden sein.“

Russische Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für indigene Völker und Minderheiten einsetzen, warnen seit langem davor, dass der Kreml die nicht-russische Bevölkerung des Landes als Kanonenfutter für seinen verbrecherischen Eroberungskrieg missbraucht. Die von Vyushkova vorgelegten Daten zeigen, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet haben. Die übermäßigen Verluste seien das Ergebnis einer Kombination von Faktoren wie der überproportionalen Mobilisierung ethnischer Minderheiten, regionaler Ungleichheiten, struktureller Diskriminierung und der Bemühungen des Kremls, die Unzufriedenheit der politisch aktiven russischen Mehrheit des Landes zu minimieren.

Der Staat frisst seine ungeliebten Kinder

Die jungen Männer in Moskau und St. Petersburg werden verschont – das Sterben findet in den Provinzen und unter den Minderheiten und indigenen Völkern statt. Der Staat frisst seine ungeliebten Kinder.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Mehr lesen
Gabriel N. Toggenburg

Minderheiten in Europa

„Das Minority Safepack ist kein Stück Butter mit kurzem Verfallsdatum“

Triest/Trieste/Trst Während Frankreichs korsische Bevölkerung Autonomie erhält, kämpfen LGTBIQ-Gemeinschaften in Ungarn gegen diskriminierende Gesetze. Der EU-Jurist Gabriel Toggenburg erklärt im Gespräch mit Bojan Brezigar von der slowenischen Tageszeitung „Primorski Dnevnik“ aus Triest (Italien), wie Initiativen wie „Minority Safepack“ und EU-Rechtsprechungen für ein gerechteres Europa sorgen könnten.

VOICES - MINDERHEITEN WELTWEIT

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
„30 Jahre nach dem Genozid: Ruanda als europäisches ,Asylzentrum'?“

Leserbrief

Stephan Kleinschmidt
„Sonderburg als kinderfreundliche Stadt und Kommune“

Kommentar

Marlies Wiedenhaupt
Marlies Wiedenhaupt Hauptredaktion
„Schön verschreiben 13.0“