Leitartikel

„Eine Reise in die Vergangenheit“

Eine Reise in die Vergangenheit

Eine Reise in die Vergangenheit

Apenrade/Aabenraa
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Journalistin Kerrin Jens ist überrascht, was sie auf dem Dachboden in ihrem Elternhaus alles gefunden hat. In einem Leitartikel beschreibt sie, wie aktuell einige ihrer alten Schulsachen wieder sind und warum ein verstaubtes Brettspiel ein mulmiges Gefühl in ihr auslöst.

Niemand wird gern zu etwas gezwungen – vor allem nicht zum Aufräumen. Doch als meine Eltern damit drohten, all meine Kartons auf dem Dachboden ungesehen wegzuwerfen, musste ich handeln. Der Sonntagvormittag entpuppte sich als Reise in die Vergangenheit. Neben unzähligen Plüschtieren, Puppen und Puzzeln kamen auch alte Schulhefte ans Tageslicht. Die meisten Dinge, die ich einmal gelernt hatte, mussten direkt aus meinem Kopf auf den Dachboden gewandert sein. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass ich damals Funktionsgleichungen gelöst, Sophokles’ Antigone analysiert und die physikalischen Eigenschaften von Fetten und Tensiden kannte.

Doch als mir ein Biologieheft mit den Unterschieden zwischen DNA und mRNA in die Hände fiel, wünschte ich, ich hätte damals in der Schule besser aufgepasst, dann hätte ich mir viele Impfstoff-Fragen selbst beantworten können. Passend dazu fand ich ein Deutschheft aus der Grundschule mit einem Kreuzworträtsel für „Querdenker“. Dabei handelte es sich um eine vereinfachte Version, bei der die Schülerinnen und Schüler nur die horizontalen Lücken füllen. Lachen musste ich bei dem Wort, das mittlerweile in einem völlig anderen Kontext gebraucht wird, trotzdem.

Als Nächstes öffnete ich einen verstaubten Karton mit Geschichtsheften, und ich entdeckte eine Folie mit einer Landkarte, mithilfe derer ich in einem Referat meinen Mitschülerinnen und Mitschülern auf dem Overheadprojektor die Grenzziehung von 1920 versuchte zu erklären. Dass ich später mal in Nordschleswig arbeiten würde, hatte ich damals nicht ahnen können, genauso wenig wie die Tatsache, dass auch der Kalte Krieg für mich noch mal eine große Rolle spielen würde.

In einer anderen Ecke des Dachbodens warteten Brettspiele darauf, wieder gespielt zu werden – unter anderem „Risiko“. Auf dem Spielfeld ist eine Weltkarte abgedruckt, und jede Spielerin und jeder Spieler bekommt Länder zugewiesen, die mit bunten Spielsteinen gekennzeichnet werden. Nachdem jeder seine Auftragskarte erhält, auf der Aufträge stehen wie „Besiege die Rote Armee oder erobere Europa und einen Kontinent deiner Wahl“, wird reihum um die Länder gewürfelt. Meistens endet das Spiel in einem Streit, weil sich zwei Parteien gegen eine andere verbünden – Spaß hat es trotzdem immer gemacht.

Fünfzehn Jahre später ist mir der Spaß beim Anblick auf die Weltkarte allerdings vergangen. Plötzlich sind es echte Armeen, die ihre Truppen in Europa zusammenziehen, um sich gegen einen Angriff aus dem Osten zu wehren. Russland zieht nicht in Form von bunten Steinchen in die Ukraine, sondern mit Panzern, Raketen und Bodentruppen. Wie das Brettspiel verläuft und wer am Ende gewinnt, wussten wir damals am Küchentisch nicht, und auch heute ist der Ausgang ungewiss. Es kann allerdings nicht schaden, sich an einem Sonntag auf den Dachboden zurückzuziehen und ein Geschichtsbuch zur Hand zu nehmen.

 

Mehr lesen

VOICES - MINDERHEITEN WELTWEIT

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
„Georgiens Dilemma: Zwischen Demokratie und Autoritarismus“

Leserbeitrag

Meinung
Eric Vesterlund
„Mindeord over Claus Andersen“