Leitartikel

„(Grenz-)kontrollierte Offensive“

(Grenz-)kontrollierte Offensive

(Grenz-)kontrollierte Offensive

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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In der dänischen Europa-Politik fehlte seit der Volksabstimmung am 2. Oktober 1972 ein Wort: Herz! Nun will die dänische Regierung mit einem neuen europapolitischen Abkommen „von ganzem Herzen“ für eine starke EU eintreten und ist sogar zu Kompromissen bereit, die man lange nicht für möglich hielt. Der frühere Chefredakteur Siegfried Matlok analysiert die dänische „Zeitenwende“.

Als die dänische Regierung vor 15 Jahren ein europapolitisches Abkommen mit dem Folketing abschloss, da hing der europäische Himmel noch voller Geigen. Mit der Erweiterung von damals zwölf neuen Ländern stand Europa vor einer neuen EU, ja, mit der Erweiterung auf 27 Mitglieder war „das Hauptziel der dänischen Europapolitik seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 erreicht“, hieß es 2008 in der Präambel.

Inzwischen spielen die Geigen nicht mehr Dur-, sondern leider überwiegend Moll-Töne angesichts der geopolitischen Herausforderungen von Krieg und Klima, die die dänische Politik nun mit einem neuen europapolitischen Abkommen zu beantworten sucht. Und mit einer historischen Vereinbarung, die ein Wort enthält, das Dänemark seit dem Beitritt am 1. Januar 1973 hat vermissen lassen: „helhjertet“, von ganzem Herzen!

Schon von der reinen Quantität gibt es fundamentale Unterschiede zwischen 2008 und 2023: im Jahre 2008 waren insgesamt fünf Parteien am EU-Abkommen mit der VK-Regierung beteiligt, damals eine Minderheits-Regierung, während 2023 in Dänemark eine Mehrheits-Regierung (SVM-Koalition) besteht, die insgesamt acht Parteien für die neue EU-Linie gewinnen konnte. Dass sich die alten, sogenannten staatstragenden Parteien, also Sozialdemokratie, Venstre, Konservative, Radikale und SF, beiden Abkommen angeschlossen haben, zeigt auch Kontinuität und Wandel in diesen Parteien, für die die EWG/EG/EU wahrlich nicht von Anfang an „everybodys darling“ gewesen ist.

Die Hauptpunkte und Unterschiede zu 2008 sind folgende:

  1. „Die neue geopolitische Wirklichkeit erfordert ein dänisches Engagement von ganzem Herzen in der EU“, so steht es im neuen Text. Eine handlungsfähige EU mit einer kräftigen dänischen Stimme soll dazu beitragen, die EU robuster und widerstandsfähiger zu machen. Die EU sei Dänemarks wichtigste außenpolitische Plattform und habe als geopolitischer Akteur im Ukraine-Krieg resolut gehandelt, wobei Dänemark – auch mit Recht – stolz auf seinen ökonomischen und militärischen Beitrag hinweist, der ja durch den dänischen Beitritt zur europäischen Verteidigungs-Dimension noch bedeutender geworden ist. Ungeachtet der – wie ausdrücklich hervorgehoben wird – kollektiven Abschreckung allein durch die Nato (USA).
       
  2. Dänemark steht einer Erweiterung der EU mit einer Perspektive von mehr als 30 Mitgliedern offen gegenüber, insbesondere betreffend Ukraine und Westbalkan. Dieses geopolitische Instrument darf aber, – so Kopenhagen –, den Zusammenhalt in der EU nicht gefährden, und deshalb legt die dänische Regierung großen Wert darauf, dass die Kopenhagener Kriterien aus dem Jahre 1993, deren Erfüllung Voraussetzung für eine Mitgliedschaft sind, strikt eingehalten werden, wie es in den 90-er Jahren bei der Aufnahme der baltischen Länder und Polens der Fall war. Der Hinweis ist sehr wichtig, aber dann muss die EU auch für die Implementierung der Kriterien sorgen, also zum Beispiel auch den Minderheitenschutz in diesen Ländern demokratisch absichern.
     
  3. Für Dänemark handelt es sich bei Erweiterung und Reform um ein Paarlaufen. Hier geht es um die Funktionsfähigkeit des EU-Systems. Dänemark ist im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik bereit zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit statt des bisherigen Prinzips der Einstimmigkeit. Mit der angebotenen Formulierung eines „konstruktiven Verzichts“ ist an die sogenannte Pasarelle-Klausel, gedacht, wonach ein Gremium, das eigentlich einstimmig entscheiden müsste, diese Entscheidung stattdessen durch Mehrheitsbeschluss treffen kann. Nach dänischer Auffassung soll dies aber einschränkend, nicht grundsätzlich für den gesamten Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, gelten.
     
  4. Dahinter steckt die Absicht, die Gefahr einer innenpolitischen Bombe zu vermeiden, die dann auch Konsequenzen für die gesamte EU haben könnte. Im Abkommen von 2023 wird betont, dass der 2009 in Kraft getretene und noch immer gültige Vertrag von Lissabon nicht aufgehoben werden muss und Dänemark auch keine Notwendigkeit zu Vertragsänderungen sieht. Mit anderen Worten: Die dänische Tradition von Volksabstimmungen seit 1972 bei der Abgabe wichtiger Souveränitätsrechte soll/darf den Erweiterungs- und Reformprozess nicht stören, und so kommt die dänische Politik auch an einer Diskussion um das einst so vitale Veto-Recht herum. Parteien, die diesem Abkommen nicht beigetreten sind, also z. B. Einheitsliste und Dänemark-Demokraten kritisieren just ihre Befürchtung, Dänemark werde so künftig auf das nach ihrer Ansicht historische Veto-Recht verzichten. Der Satz aus dem Jahre 2008, jedes Mitgliedsland könne frei die EU verlassen, ist nicht mehr zu finden – Brexit lässt grüßen! Außenminister Lars Løkke, der 2008 noch im Venstre-Kabinett von Anders Fogh selbst für das damalige Abkommen mit-verantwortlich zeichnete, hält moderat dagegen, mit der neuen außen- und sicherheitspolitischen Formel vom „pragmatischen Idealismus“.
     
  5. Dass die Europa-Politik der acht Parteien auch innenpolitische Elemente trägt, ist an zwei Punkten besonders abzulesen: Dänemark wünscht im Klima-Kampf seine grüne Führungsrolle in Europa beizubehalten, und zweitens ist der dänischen Regierung auch die illegale Migrationspolitik von größter Bedeutung, wie der Hinweis auf die Kontrolle mit Asyl-Einreisenden und auf den Schutz der Außengrenzen deutlich macht. Und hier folgt eine Passage, die besonders für das deutsch-dänische Grenzland weitere Folgen haben wird. Wörtlich heißt es im Abkommen 2023 unter Punkt 42: „Es ist ... wichtig, dass die Mitgliedsländer weiterhin die Möglichkeit haben, vorübergehend eine Grenzkontrolle an ihren Binnengrenzen innerhalb der EU-Regeln einzuführen, wenn es die Verhältnisse erfordern.“ 
     
  6. Dass Dänemark 43 Punkte als eigene europäische Prioritäten setzt und einen so umfassenden Katalog für den künftigen EU-Fahrplan einbringt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich die dänische Regierung bereits auf eine der vielleicht wichtigsten außenpolitischen Aufgaben der letzten Jahrzehnte vorbereitet: im zweiten Halbjahr 2025 wird Dänemark den EU-Vorsitz übernehmen, und dabei verhehlt die dänische Regierung schon jetzt nicht ihren frommen Wunsch, mehr Personal in die EU-Institutionen zu entsenden. Ob da bereits jemand in der heutigen Regierung an einen Kommissar-Posten denkt?

Ein europäisches Zwischen-Fazit? In der Fußballer-Sprache hat der berühmte deutsche Trainer Otto Rehagel einst den Begriff erfunden: Kontrollierte Offensive. In der Sprache der dänischen EU-Politik 2023 müsste es eher heißen: (Grenz-)kontrollierte Offensive!

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