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Expertin Johanna Degen: Sexualkunde an Schulen ist mangelhaft

Expertin Johanna Degen: Sexualkunde an Schulen ist mangelhaft

Expertin Johanna Degen: Mangelhafte Sexualkunde an Schulen

Erik Benger
Erik Benger
Flensburg
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Johanna Degen sieht den Sexualkundeunterricht an deutschen Schulen kritisch. Foto: Kath Konopka

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Der Sexualkundeunterricht an Schulen sollte reformiert werden, findet die Sozialpsychologin Dr. Johanna Degen. Im Interview erzählt sie, wie das passieren soll.

„Der Nordschleswiger“ hat am Deutschen Gymnasium für Nordschleswig nachgefragt, wie es um den Sexualkundeunterricht steht. Im Grenzland gibt es mit Johanna Degen an der Europa-Universität Flensburg (Flensborg) eine Expertin für dieses Thema. Die Sozialpsychologin gibt dazu im persönlichen Interview eine Einschätzung zur aktuellen Umsetzung des Sexualkundeunterrichts an Schulen in Deutschland.

Dr. Johanna Degen 

Johanna Degen ist Sozialpsychologin an der Universität Flensburg und hat eine Ausbildung als Paartherapeutin. Sie leitet zwei Projekte: ein Forschungsprojekt über Beziehungskonstellationen und (Online-)Dating sowie ein Projekt über die Qualifikation von Lehrkräften in der Sexual- und Beziehungserziehung (Teach LOVE).

Mit welcher Note würden Sie den Sexualkundeunterricht an Schulen in Deutschland bewerten? Und warum?

„Ich bin grundsätzlich erst mal gegen Lehrerbashing, ich möchte niemanden diskreditieren, die momentane Performance ist aber insgesamt mangelhaft. Der momentane Sexualkundeunterricht konzentriert sich aus einer Hilflosigkeit heraus auf biologische Faktoren, vielleicht noch auf Verhütung und Krankheitsprävention oder wird ganz vermieden. Aber das reicht einfach nicht, vor allem mit Hinblick auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen. Dies wird ihnen einfach nicht gerecht. Meines Erachtens sind aber nicht die Lehrkräfte schuld daran, sondern das Bildungssystem und dessen Umsetzung. Es fehlt diesbezüglich an Fort- und Weiterbildungen, und somit wird das Thema hauptsächlich dem Individuum überlassen.“

Der Sexualkundeunterricht an Schulen hat den Ruf, die Inhalte zu konservativ und heteronormativ zu vermitteln. Wie blicken Sie auf die Umsetzung an den Schulen?

„Bei der Umsetzung kommt es sehr auf die individuelle Lage an, vielen Lehrkräften ist das persönlich sehr wichtig. Wir hatten zum Beispiel mal einen Lehrer aus Husum, der selbst homosexuell ist und sich auch spät geoutet hat, dieser fand es wichtig, den Schüler:innen näherzubringen, dass auch in einer Kleinstadt Homosexualität gelebt wird oder gelebt werden kann. Er selbst hatte auch Diskriminierungserfahrung gemacht und fand es wichtig, das anzusprechen. Ich finde es unglaublich wichtig, dass Kinder und Jugendliche lernen, innerhalb der vorherrschenden Diskurse navigieren und Bedeutungen verstehen zu können. Das meiste im Unterricht verfügbare Material ist dafür leider zu alt oder interessengesteuert – zum Beispiel von Kondomherstellern, da müsste auf jeden Fall etwas Neues her.“ 

Heteronormativität 

„Als gesellschaftliches Ordnungsprinzip, das Geschlecht und Sexualität normiert, beschreibt Heteronormativität ein binäres Geschlechtersystem, das ausschließlich zwei Geschlechter akzeptiert.“ 

Quelle:
Universität zu Köln 

Welche Themen sollten im Sexualkundeunterricht behandelt werden?

„Sexualkundeunterricht beschäftigt sich oft nur mit so etwas wie Fortpflanzung. Gerade Themen wie Medienkompetenz, Pornografiekompetenz und Begreifen von Sexualität, also das, was die Jugendlichen wirklich interessiert, werden nicht behandelt. Der Grund ist, dass sich die Lehrkräfte teils nicht damit auseinandergesetzt haben oder verunsichert sind und nicht wissen, was sie zum Beispiel zu Interkulturalität oder LGBTQA+ sagen sollen. Ein bekanntes Meme aus den Medien greift das auf: Die Lehrkraft sagt zu den Schüler:innen: ‚Wir werden jetzt sexuelle Bildung behandeln.‘ Die Schüler:innen antworten: ‚Was wollen Sie wissen?'

Gerade die aufklärende Person sollte mehr wissen als die Schüler:innen, einfach nur vorn zu stehen und zu zeigen, was ein Kondom ist, damit gewinnen wir heutzutage keinen Pokal mehr. Die Kinder und Jugendlichen haben eher Fragen zu Themen wie Werte, Identitäten, Stigmata, Kulturen etc.“

Meme 

Ein interessantes oder witziges Bild, Video oder Ähnliches, das in sozialen Netzwerken schnell und weit verbreitet wird.

LGBTQA* 

LGBTQA* steht für Lesbian (lesbisch), Gay (schwul), Bisexual (bisexuell), Transgender (transsexuell), Queer, Asexuell und mehr.

Der deutsche Sexualkundeunterricht ist für Johanna Degen ein Herzensthema. Foto: Nina Stein

Wie sollte mit Themen umgegangen werden, die zum Großteil in der Gesellschaft tabuisiert sind?

„Oft geht es gar nicht darum, dass die Themen in der Gesellschaft, stark tabuisiert sind. Sondern eher darum, dass sie politisch sehr aufgeladen daherkommen. Es kann nicht sein, dass eine Lehrkraft Angst haben muss, ihren Job zu verlieren, wenn sie das Thema transidentitäre Jugendliche anspricht. Außerdem sollten wir grundsätzlich anfangen, auf Aussagen von Eltern, zum Beispiel zur sogenannten Frühsexualisierung, wissenschaftlich fundiert zu antworten. Auch mit dem Aspekt, dass durch Aufklärung niemand homosexuell wird.“

Und wenn persönliche Fragen kommen?

„Es ist ein überholter Mythos zu denken, es gäbe ein professionelles oder privates Selbst. Jeder geht als ganze Person in das eine wie ins andere. Wichtig ist, dass die Lehrkraft mit dem Herzen dabei ist und kein Problem damit hat, alle Fragen zu beantworten. Für wen es sich gut anfühlt, kann auch mal persönlich antworten, Nähe wirkt sich insgesamt positiv auf Lernerfolge aus. Fehl am Platz ist es, dem so auszuweichen, indem keine Fragen gestellt werden dürfen oder gar, indem Fragen sanktioniert werden. Sexuelle Bildung sollte als lebenslanger Prozess gesehen werden, auch wenn es um das gegensätzliche Geschlecht geht. Oft lernen die Lehrkräfte in unseren Seminaren auch noch viel über sich. Ich meine, nur weil ich weiß, wie groß die weibliche Klitoris ist, heißt das noch lange nicht, dass ich weiß, wie weibliche Sexualität oder Geschlechtspolarität aussieht.“

Sie haben Pornografiekompetenz erwähnt, warum ist die wichtig?

„Pornos schauen im Schnitt Kinder ab elf Jahren. Dabei hat sich ziemlich viel getan. Früher wurden die ersten Pornos nach der ersten sexuellen Erfahrung geschaut, heute ist es umgekehrt. Die Kinder und Jugendlichen haben daher oft eine Vorstellung von Sex, die nicht der Wirklichkeit entspricht. So als wäre Sex eine Doku, und ich muss das nachspielen. Viele der dort gezeigten Praktiken machen wahrscheinlich ohnehin auch erst ab einem bestimmten Alter Spaß. Pornos zu verbieten, ist dabei aber nicht die Lösung. Eher sollte ein verantwortungsvoller Umgang mit Pornos gelehrt und mit Mythen aufgeräumt werden.“

Außerdem erwähnten Sie Interkulturalität, was meinen Sie damit? 

„Der kulturelle Aspekt sollte heute mitgedacht werden. Die Forschung zeigt, konservativ christliche Familien können genauso streng mit Sexualität umgehen wie konservativ muslimische, und es gibt auch open minded muslimische Familien, und darüber sollte mehr gesprochen werden. Konservatismus ist die Achse, auf der sich entscheidet, wie die Einstellung ist. Da müssen wir vor Stereotypen aufpassen.“

Sollten im Sexualkundeunterricht Geschlechter getrennt werden?

„Geschlechter sollten im Sexualkundeunterricht nicht getrennt werden, höchstens mal in einem Schutzraum, um Fragen zu stellen. Grundsätzlich finde ich es aber gut und auch zielführend, dass beide Geschlechter gemeinsam im Sexualkundeunterricht sind. Ich meine, für einen Jungen ist es doch auch interessant und fürs Leben relevant zu wissen, wie Menstruation funktioniert oder zum Beispiel für Mädchen, die lernen, dass Männer auch hormonell schwingen. Auch Aspekte wie die viel verhandelte toxische Männlichkeit könnten durch einen vernünftigen Sexualkundeunterricht minimiert werden, indem insbesondere ein positives Männerbild entworfen wird.“

Sollte Sexualkundeunterricht fächerübergreifend stattfinden?

„Das Verrückte ist, Sexualkunde sollte eigentlich längst fächerübergreifend und ganzheitlich unterrichtet werden. Und wissen Sie, wann dies von der Kultusministerkonferenz beschlossen wurde? … 1968, und seitdem ist sehr wenig in der Praxis angekommen, dabei kann das so gut in andere Fächer integriert werden, zum Beispiel in Deutsch mit Liebesromanen oder in das Fach Philosophie … Für mich ist es einfach wichtig, dass wir uns unserer Identität bewusst werden und nicht nur bezüglich Sexualität, sondern auch was Beziehungskompetenz angeht. Ich finde außerdem, dass auch Körperwahrnehmung viel mehr Platz im Schulalltag eingeräumt werden sollte, um sich selbst besser zu verstehen.“

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