Schleswig-Holstein

Minderheiten für einen Abend die Mehrheit im Kieler Landtag

Minderheiten für einen Abend die Mehrheit im Kieler Landtag

Minderheiten für einen Abend die Mehrheit im Kieler Landtag

Kiel
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Sang dänische Lieder im Plenarsaal: Jule Sösemann.
Sang dänische Lieder im Plenarsaal: Jule Sösemann Foto: SSW

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75 Jahre SSW: Dänisch, Deutsch und Friesisch beherrschten die Reden auf dem Podium im Kieler Landtag. Am Ende erklingt sogar ein dänischer Klassiker im Plenarsaal. Auch die Schleswigsche Partei war zum Jubiläum der Minderheitenpartei geladen. Rainer Naujeck betont die gute Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren.

Es war der Moment, als die 24-jährige Musikerin Jule Sösemann, selbst ein Kind der dänischen Minderheit, ihren letzten Song ankündigte und folgenden bemerkenswerten Satz sagte: „Ich muss es nutzen, dass ich einmal ein dänisches Lied in einem deutschen Parlament vortragen kann. Es gibt, glaube ich, nicht viele Minderheiten, die das können.“

Die Worte fielen am Schluss des Empfangs des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) am Mittwochabend im Kieler Landtag. Es war eine besondere Stimmung, in der die Minderheitenpartei ihr 75-jähriges Bestehen im Beisein vieler Politikerinnen und Politiker anderer Parteien feierte.

Wir sind die jüngsten 75-Jährigen, die es je gegeben hat.

Lars Harms

Zuvor hatte die frühere Ministerin Anke Spoorendonk über ihre Zeit als Abgeordnete und Regierungsmitglied gesprochen. Sösemann spielte direkt danach den Song „Frit Land“ der dänischen Band „Ulige Numre“ und sagte: „Als Anke Spoorendonk für den SSW in den Landtag einzog, war ich noch gar nicht geboren. Eine beeindruckende Politik.“

 

Lars Harms
Der Fraktionsvorsitzende Lars Harms Foto: SSW

Den Abend eröffnet hatte jedoch Lars Harms. Der Vorsitzende der SSW-Fraktion im Landtag ließ es sich nicht nehmen, durch den Abend zu moderieren und dabei ein paar humorvolle Spitzen zum Besten zu geben. So sei der SSW die einzig verbliebene Volkspartei. Zwar nicht bei den Stimmen, aber in der Breite, fügte er nach ein paar Lachern hinzu. „Wir sind die jüngsten 75-Jährigen, die es je gegeben hat“, sagte Harms. Denn die Partei habe sich über die Jahre immer weiter gewandelt, aber nie ihre Kernaufgabe vergessen: die Interessen der dänischen und friesischen Minderheit zu vertreten. 

Jule Sösemann
Die Musikerin Jule Sösemann begleitete den offiziellen Teil des Empfangs mit eigenen Songs in dänischer und englischer Sprache. Foto: SSW

Dass zahlreiche Mitglieder der Regierungsparteien und der Opposition anwesend seien, zeige, „wie gut wir als Demokraten miteinander auskommen“, betonte Harms. Er begrüßte neben Parlamentspräsidentin Kristina Herbst und Sozialministerin Aminata Touré auch die Anwesenden europäischer Minderheiten – etwa Lorena López de Lacalle, Präsidentin der European Free Alliance (EFA), die eigens aus dem Baskenland nach Kiel angereist war. 

Ich muss es nutzen, dass ich einmal ein dänisches Lied in einem deutschen Parlament vortragen kann. Es gibt, glaube ich, nicht viele Minderheiten, die das können.

Jule Sösemann

Landtagspräsidentin spricht Dänisch

Besonders wurde der Abend auch, als Parlamentspräsidentin Kristina Herbst zu einem Grußwort ans Rednerpult trat. Dabei gratulierte sie dem SSW zum Jubiläum auf Dänisch und Friesisch. Für ihre ersten Gehversuche erntete sie Applaus. „Ich habe es mit Babbel versucht und bin gescheitert“, sagte die CDU-Politikerin. Sie bezeichnete den SSW in ihrer Rede als „parlamentarischen Vollsortimentler“, der weit mehr als nur die Interessen der Minderheiten vertrete. Sie betonte zudem die Stärke des Parlamentarismus.

 

Landtagspräsidentin Kristina Herbst
Landtagspräsidentin Kristina Herbst Foto: SSW

Der Historiker Jørgen Kühl gab anschließend einen Einblick in die Historie des SSW.  Am Ende ließ er es sich nicht nehmen, dem Landtag mitzugeben, dass es noch reichlich Spielraum gebe, die Minderheit in Südschleswig sichtbarer zu machen – beispielsweise durch zwei- oder dreisprachige Beschilderungen. 

Wir haben uns nicht einschüchtern lassen.

Anke Spoorendonk

Die 1990er als Zeitenwende

Die Rede von Anke Spoorendonk leitete Lars Harms mit dem Blick auf die Uhr und den Worten ein, Anke habe in den vielen Jahren als Parlamentarierin nie die Redezeit überzogen. Tatsächlich machte sie das auch nicht. Sie sprach anschließend von einer Zeitenwende, als sie 1996 in den Landtag einzog und für Mitarbeitende auf Wunsch erst mal Computer anschaffte, um Manuskripte zu redigieren – statt Schreibmaschine und Tip-Ex-Flaschen. 

Sie erzählte, wie ihr anfangs gesagt wurde, sie sei das Ende des SSW. Ihre Kritiker lagen falsch. Spoorendonk resümierte anschließend turbulente Jahre. Sie berichtete von den verbalen Übergriffen und Morddrohungen, die sie, ihre Kolleginnen und Kollegen sowie die Familien erhielten, weil sie 2005 eine Minderheitsregierung aus Grünen und SPD tolerieren wollten. Wie die Solidarität in der Minderheit in dieser Zeit half, nicht aufzugeben. „Wir haben uns nicht einschüchtern lassen“, sagte die 76-Jährige. Das Scheitern von Heide Simonis bezeichnete sie als persönliche Tragödie.

Anke Spoorendonk
Anke Spoorendonk Foto: SSW

Erfolge und Herausforderungen

Sie erwähnte Erfolge, wie das Informationsfreiheitsgesetz oder die Kampagne gegen CCS (CO2-Speicherung), aber auch Rückschläge, wie den Tod ihrer Fraktionskollegin Silke Hinrichsen oder das Zurückfahren der Gleichstellung der dänischen Bildungseinrichtungen. „Unsere Kinder sind auch 100 Prozent wert“, lautete der wütende Protest-Slogan der Minderheit damals. Die Kürzungen wurden abgewendet – auch dank Spoorendonk.

Obwohl sich die Partei weiterentwickelt und mit der Zeit gegangen sei, habe sie nie ihre Grundwerte aufgegeben, so Spoorendonk.

Grenzübergreifende Zusammenarbeit

Rainer Naujeck, der als Vorsitzender der Schleswigschen Partei (SP) geladen war, sagte dem „Nordschleswiger“: „Wenn eine Partei ein Dreivierteljahrhundert da ist, dann spricht das schon für Kontinuität.“ Der SSW habe mit seinem Einsatz für das Grenzland und die Angelegenheiten der dänischen Minderheit eine erfolgreiche Politik gemacht. „Ich bin 40 Jahre in der Partei und freue mich, dass wir bei aktuellen Themen gemeinsam arbeiten und somit mehr Aufmerksamkeit erreichen“, so Naujeck.

Plenarsaal
Zahlreiche Gäste aus Politik, von Verbänden und Minderheiten waren in den Plenarsaal des Landtags gekommen. Foto: Gerrit Hencke

Ein Vorbild für die SP

„Der SSW hat immer Minderheiten- und Regionalpolitik gemacht und dies besonders berücksichtigt. Das ist auch ein gutes Vorbild für die Schleswigsche Partei“, sagte Gösta Toft, Vizepräsident der FUEN (Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten), im Anschluss an den Abend zum „Nordschleswiger“.

Auch die SP habe in den 1990er-Jahren ihr regionalpolitisches Profil geschärft. „Mit Anke Spoorendonk gab es 1996 so etwas wie eine Zeitenwende beim SSW. Die Partei hat sich anschließend deutlich modernisiert und auch eine andere Haltung zur europäischen Zusammenarbeit eingenommen. Das hat Türen geöffnet.“

„Dass die Partei im Landtag Gesamtverantwortung übernimmt und Regional- und Landespolitik macht, hat sicher zum Erfolg beigetragen.“ Toft bewunderte den Mut des SSW, in die Regierung zu gehen und sich für den Bundestag aufzustellen, obwohl der Erfolg nicht gesichert sei. 

Für die SP am Grenzübergang dabei: Gösta Toft und Randi Damstedt
Gösta Toft bei einer gemeinsamen Aktion des SSW mit der SP gegen die Grenzkontrollen. Foto: Gerrit Hencke

Singen zum Abschluss

Besonders beeindruckt war Gösta Toft von der Rede Spoorendonks. „Sie hat mit sehr viel Herzblut gesprochen und die Höhen und Tiefen ihrer Zeit als Abgeordnete und Ministerin sehr überzeugend dargestellt.“

Am Ende des Abends fasste Lars Harms den angesprochenen Mut des SSW zusammen: „Wir haben alle möglichen Herausforderungen vor uns, denen wir uns auch gerne stellen. Wir haben Bock auf Politik! Wir haben Bock auf Veränderungen! Und wir haben Bock auf Zusammenarbeit mit Ihnen und mit euch allen!“

Zusammenarbeit bedeutete an diesem Abend, dass zum Abschluss des offiziellen Teils gemeinsam gesungen wurde. Dänische Tradition eben. Und so erklang „Svantes lykkelige dag“ im Plenarsaal. Das Lied von Benny Andersen aus dem Jahr 1972 endete mit den Zeilen: „Das Leben ist nicht die schlechteste Sache der Welt, und gleich wird der Kaffee fertig sein.“ Danach ging es zum Büfett. 

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