Sexuelle Belästigung

Viele Frauen erstarren bei einem Übergriff

Viele Frauen erstarren bei einem Übergriff

Viele Frauen erstarren bei einem Übergriff

Kopenhagen
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Janne Østergaard Hagelquist erläutert, dass bei Gefahr das uralte Reptilienhirn die Steuerung übernimmt. Foto: Center for Mentalisering

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Manche Frauen wehren sich, wenn sie sexueller Belästigung ausgesetzt werden, andere verfallen in eine Schock-Starre. Warum das so ist, erläutert die Psychologin Janne Østergaard Hagelquist.

Warum hat sie sich nicht gewehrt? Ich hätte ihn sicher abgewiesen. Solche Fragen und Bemerkungen werden regelmäßig an Frauen herangetragen, wenn sie von einem Übergriff oder einer Belästigung berichten.

Doch bei dieser Sicht der Dinge übersieht man, dass nicht unbedingt der bewusste Teil des Gehirns entscheidet, wenn man einer solchen Situation ausgesetzt ist. Wenn es eine Bedrohung ausmacht, schaltet das Gehirn nämlich auf einen uralten Automatismus um.

„Etwas vereinfacht kann man sagen, dass der primitivste Teil unseres Gehirns, das Reptilienhirn, die Steuerung übernimmt, wenn Gefahr droht. Dieses ist auf drei mögliche Reaktionen programmiert: Flucht, Kampf oder Starre“, erklärt die Psychologin Janne Østergaard Hagelquist, die sich unter anderem mit Fällen von sexueller Gewalt auseinandersetzt.

Überlebensstrategie

Dabei könne man von sich vorher nicht wissen, welche Strategie man bei einer konkreten Bedrohung wählen würde.

„Für welchen Überlebensmechanismus das Gehirn sich entscheidet, hängt auch von den individuellen Erfahrungen und von frühen Erlebnissen ab.“

Wenn weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen, dann bleibt nur die Starre.

Janne Østergaard Hagelquist, Psychologin

Die Beschreibung eines Erstarrens taucht immer wieder in Berichten über sexuelle Belästigung auf. Als Ex-Oberbürgermeister Frank Jensen der damals 23-jährigen Marie Gudme die Hand unter das Kleid schob, blieb sie regungslos sitzen. Andere führten sie aus der Gefahrenzone.

 

Auch die Frau aus der Minderheit, mit der „Der Nordschleswiger“ gesprochen hat, beschreibt ein kurzzeitiges Erstarren, als sie in einer Damentoilette in die Enge getrieben wurde.

„Evolutionär betrachtet, haben Frauen sich in überhohem Maß die Starre-Strategie angeeignet. Einst war dies die vernünftigste Reaktion zum Beispiel auf eine Vergewaltigung, weil man dadurch am glimpflichsten davonkommen konnte“, erklärt die Psychologin und weist darauf hin, dass es ja keine Polizei oder andere Instanzen gegeben hat, die hätten helfen können.

„Wenn weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen, dann bleibt nur die Starre.“

Machtverhältnis spielt eine Rolle

Østergaard Hagelquist betont, dass es bei Weitem nicht bei allen Fällen von sexueller Belästigung zu diesem Erstarren kommt. Auch wird nicht jede Belästigung als Bedrohung wahrgenommen.

Ein weiterer Faktor kann dabei eine Rolle spielen: „Besteht ein Machtverhältnis zwischen dem Täter und dem Opfer, kann das eher zu einer Starre-Reaktion führen.“

Die Erfahrung der Psychologin zeigt, dass diese Reaktion eine der Ursachen dafür sein kann, dass Frauen auch im Nachhinein nicht von einem Übergriff erzählen.

„Viele Frauen berichten, dass sie sich während der Starre-Reaktion selbst nicht erkennen konnten. Häufig ist das danach mit einem Schamgefühl verbunden. ‚Warum habe ich nicht reagiert?‘ fragen viele sich. Dann ist es im Nachhinein das Einfachste zu versuchen, die Sache zu vergessen und im Leben weiterzukommen. Das ist eine der Ursachen, weshalb es vielen schwerfällt, in der Zeit danach von einer Belästigung zu berichten.“

Teufelskreis des Schweigens

Wenn dann auch genau die Fragen, warum man sich nicht gewehrt, nichts früher erzählt habe, an Frauen, die von Belästigungen berichten, gerichtet werden, dann verstärkt das die Scham.

„Dann haben wir wirklich einen Teufelskreis“, so Østergaard Hagelquist.

Eine Situation, wie sie sich in den vergangenen Wochen entwickelt hat, kann einen solchen Teufelskreis des Schweigens durchbrechen. Denn im Zusammenhalt liegt die Stärke.

„Eine Starre-Reaktion kann Langzeitfolgen haben. Die Heilung besteht darin, dass man die Gemeinschaft sucht. Wenn man gemeinsam mit anderen, die Ähnliches erlebt haben, auftritt, dann können Weitere die Kraft finden, sich zu öffnen.“

Die Psychologin macht darauf aufmerksam, dass man genau diesen Mechanismus auch beim Fall des amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein beobachten konnte.

Das Video unterhalb des Artikels erklärt, wie das Gehirn auf eine Bedrohung reagiert:

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