Vor 100 und vor 50 Jahren

Knivsbergfest, Königinbesuch und vergessene Kinder

Knivsbergfest, Königinbesuch und vergessene Kinder

Knivsbergfest, Königinbesuch und vergessene Kinder

Jürgen Ostwald
Jürgen Ostwald Freier Mitarbeiter
Nordschleswig
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Die Jachten und Prunkboote des deutschen Kaiserhauses, der Könige und Herzöge wurden nach Kriegsende einer neuen Verwertung zugeführt. So auch die Luxusjacht des Herzogs von Oldenburg. Foto: Wikipedia

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Was hat im Mai vor 100 und vor 50 Jahren für Schlagzeilen gesorgt? Jürgen Ostwald hat im Archiv die Zeitungen durchforstet und aufgelistet, was die Menschen 1922 und 1972 bewegt hat.

Foto: DN

1. Mai 1922

Die sozialistische Maifeier

Sonderburg. Die sozialistische Maifeier führte hier in manchen Betrieben zur Arbeitsruhe; auch am Hafen wurde nicht gearbeitet. Morgens gingen die Feiernden zum Stempeln ins Gewerkschaftshaus, wo sie sich mit roten Papiernelken schmückten. Um 9 ½   Uhr begann im „Zentralhotel“ eine Versammlung, in der Ansprachen gehalten wurden vom Redakteur H. P. Sörensen aus Kopenhagen und vom Bürgermeister Jacobsen-Sonderburg. Nach der Versammlung erfolgte ein Umzug mit Musik und Fahnen durch die Hauptstrassen nach dem Gewerkschaftshaus.

Der Bericht zeigt uns, dass unsere Sonderburger Zeitung ein Abendblatt war, denn unser Redakteur, wahrscheinlich Emil Kühler, nahm offenbar an den Veranstaltungen teil. Dass er nicht ausführlicher berichtete, lag an seiner Gegnerschaft zur Sozialdemokratie. Denn am 26. März 1922 war der Sozialdemokrat Johan Jacobsen zum Bürgermeister in Sonderburg gewählt worden. Er war damit der erste sozialdemokratische Bürgermeister in Nordschleswig. Über den bemerkenswerten Vorgang lese man die kürzlich erschienene ausführliche Schilderung von Frode Sørensen: Ein Bürgermeister zwischen Dänisch und Deutsch. Der Sozialdemokrat Johan Jacobsen aus Sonderburg (1863-1937) und sein Wirken in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (in den Grenzfriedensheften 2021/2022). Der aus Kopenhagen angereiste Redner, H. P. Sørensen (1886-1962), war damals Journalist u. a. bei Klokken 5, einem in der dänischen Hauptstadt in den 1920er Jahren erschienenen sozialdemokratischen Abendblatt, und später Bürgermeister von Kopenhagen.

 

Mittwoch, 3. Mai 1922

Die frühere Luxusjacht des Großherzogs von Oldenburg, „Lensahn“, ist als Doppelschraubendampfer umgebaut worden und tritt am 6. Mai ab Bremen eine Reise nach Portugal, Spanien, Nordafrika und Italien an.

Die 1901 in Kiel gebaute „Lensahn“, nach einem Dorf in Ostholstein benannt (Eutin war Residenz des Herzogs), wurde während des Ersten Weltkriegs als Lazarettschiff genutzt und nach dem Krieg nach Schweden, dann in die USA verkauft und 1934 vor der Küste Floridas versenkt. 2007 gelang es Sporttauchern, das Wrack zu identifizieren. Filmaufnahmen des Schiffswracks sind heute leicht bei YouTube zu finden.

 

Montag, 8.Mai 1922

Eine Beleidigungsklage des Kaisers

Vor einiger Zeit erschien im Verlag der Aktion ein Buch „Libussa“ von Carl Sternheim. Dieser hat in seinem Buche des Kaisers Leibross Libussa „klopfen“ lassen und gibt in der Satire eine Schilderung der politischen Verhältnisse in Petersburg, London und Paris. Der Kaiser, der sich durch die Form und den Inhalt der Satire verletzt fühlt, hat gegen Sternheim und den Herausgeber der Aktion die Beleidigungsklage angestrengt.

Der ehemalige Kaiser war damals von Holland aus ein sehr prozessfreudiger Mann. Wie weit er sich beleidigt gefühlt haben mag, kann heute jedermann für sich selbst entscheiden. Das Buch Carl Sternheims, das durch die Klage erst recht bekannt wurde, ist im Internet beim Projekt Gutenberg leicht zu erreichen.

 

Donnerstag, 11. Mai 1922

Von den Halligen

In den Pfingsttagen findet hier eine Gautagung der Adler und Falken, einer nationalen Jugendbewegung, statt. Aus dem reichhaltigen Programm ist erwähnenswert, dass die Schriftsteller Wilhelm Lobsien, Rudolf Kienau und Ferdinand Zacchi aus eigenen Werken vorlesen werden. Auf Oland wird Pastor Rotermund einen Vortrag halten über „Geschichte der Hallig Oland“. Außerdem wechseln Volkstänze, musikalische und turnerische Darbietungen miteinander ab.

Die „Adler und Falken“ waren eine Organisation, die sich aus den Aufsplitterungen der Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hatte. Sie gehörte den zahlreichen völkischen Gruppierungen an. Unter diesen stand sie am weitesten rechts. Wir bringen die Nachricht, weil es zahlreiche Verbindungen der „Adler und Falken“ nach Nordschleswig gab. Der damals viel gelesene Wilhelm Lobsien, damals in Kiel wohnend, war bekanntlich selber gebürtiger Nordschleswiger und nutzte seine Verbindungen in den Norden.

Sophus Michaelis und Kollege bitten den italienischen Dichter Gabriele D’Amnnunzio um Herausgabe einer großen Villa am Gardasee. Die Karikatur erschien in der Kopenhagener „BT“ am 11. Mai 1922. Foto: Königliche Bibliothek, Kopenhagen

Donnerstag, 16. Mai 1922

D’Annunzio als Räuber dänischen Besitzes

Der dänische Schriftstellerverband richtete an D’Annunzio ein Schreiben, worin er, indem an die uralte Kulturfreundschaft zwischen Dänemark und Italien und an seine Ehre als Dichter und Mensch appelliert wird, aufgefordert wird, die von ihm beschlagnahmte und bewohnte Villa Henry Thodes, an die Witwe des letzteren, Frau Bertha Thode, eine geborene Dänin, auszuliefern.  Eine Karikaturzeichnung in Kopenhagener Blättern deutet darauf hin, dass man sich von diesem Schritt nicht allzu viel verspricht.

Henry Thode, ein um 1900 sehr populärer und zugleich umstrittener deutscher Kunsthistoriker, Professor in Heidelberg, Wagner-Verehrer und Hans-Thoma-Adept, Autor viel gelesener Bücher (Franz von Assisi, Michelangelo) und glänzender Stilist hatte 1914 nach der Trennung von seiner ersten Frau (Tochter des Dirigenten Hans von Bülow) Hertha Tegner (1884-1949) geheiratet, eine dänische Hofviolinistin. Ihr Vater war der Bruder des bekannten Zeichners Hans Tegner (1853-1932). Beide bezogen die große Villa Thodes in Cargnacco in Gardone Riviera am Westufer des Gardasees. 1915 wurde die Villa samt sehr umfangreicher Bibliothek, mit allen Kunstwerken und Manuskripten vom italienischen Staat beschlagnahmt. Jahrelang versuchte das Ehepaar, die Villa zurückzuerhalten. Thode starb 1918 in Kopenhagen. Seine Frau setzte die Prozesse zur Restitution ergebnislos fort. Der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio hatte die Villa nach seinen Husarenstücken um die Internationalisierung der Hafenstadt Fiume (heute Rijeka) bereits kurzerhand vereinnahmt und baute in den kommenden Jahren die Villa nach eigenem Geschmack um. Mussolini hatte seine Freude daran. Heute ist das Haus in Teilen ein Museum. Um die Restitution an Hertha Thode-Tegner kümmerte sich besonders der dänische Schriftsteller-Verband, besonders der Vorsitzende Sophus Michaelis (vgl. Karikatur). Diese Bemühungen fanden in der dänischen Presse ein ungeahntes Echo. In der deutschen Presse wurde die Sache auch erörtert, aber dort hatte man andere Sorgen. Noch 1925 veröffentlichte Karin Michaelis – sie war bekanntlich mit Sophus  bis 1911 verheiratet – eine Schrift über den D’Annunzio-Skandal.

 

Sonnabend, 18. Mai 1922

Rechts fahren!

Die Fälle von Zusammenstößen zwischen Fuhrwerken, Kraftwagen und Radlern nehmen nicht ab. Eine Tatsache ist aber auch, dass die allermeisten dieser Zusammenstöße dadurch hervorgerufen werden, dass der eine Teil es nicht für nötig gehalten hat, sich nach der Polizeivorschrift zu richten, dass auf der rechten Seite der Fahrstraße zu fahren ist. Wenn bei einem Zusammenstoß ein Schaden entsteht, wird jedenfalls immer derjenige die Verantwortung tragen, der sich nicht nach dieser Vorschrift gerichtet hat. Wenn  nun jemand sich durchaus nicht daran gewöhnen kann, rechts zu fahren, dann muss er nach Österreich oder sonst einem Land auswandern, in dem das Linksfahren Vorschrift ist. Hierzulande ist es jedenfalls im eigenen und allgemeinen Interesse nötig, dass man sich auf Wegen und Straßen in der Fahrbahn auf der rechten Seite hält.

Die Meldung lässt erahnen, dass der motorisierte Straßenverkehr, der damals seit bald drei Jahrzehnten allmählich zunahm, auch in Kleinstädten der Regulierung bedurfte.  Österreich als Auswanderungsland vorzuschlagen hat seinen Grund darin, dass dort noch lange Jahre hindurch Linksverkehr herrschte.

 

Freitag, 26. Mai 1922

Knivsbergfest am 25. Juni

Um das Zusammenfallen des Nordmarkfestes mit dem Knivsbergfest zu verhindern, wird das Deutsche Volksfest auf dem Knivsberg am 25. Juni veranstaltet.

Festfolge:

1. Feldgottesdienst, gehalten von Pastor Schmidt.

2. Volkstümliche Übungen, Sport und Spiele.

3. Chorgesang von den vereinigten Jugendchören.

4. Aufführung der Rütliszene aus Wilhelm Tell (Haderslebener Jugendbund).

5. Volkstänze.

6. Volks- und Kinderbelustigung (Kasperle, Verlosung).

7 Preisverleihung.

Als Spiele sind in erster Linie Schlagball, Faustball und Tamburin willkommen; es können aber auch andere Spiele wie Fußball zur Vorführung gelangen, wenn entsprechende Gegner vorhanden sind. Wünsche in Bezug aus den Gegner sind bei der Anmeldung möglichst mitzuteilen; ebenso sind Schieds- und Linienrichter namhaft zu machen. Gespielt wird nach den neuesten Regeln des technischen Ausschusses.

Das Knivsberg-Fest von 1922 war das erste, das seit Kriegsende stattfinden wird, nunmehr ohne Bismarckstatue vor dem Turm. Der Spiele-Plan setzte für Erwachsene und Knaben die Übungen 100-Meter-Lauf, Weitsprung und Schlagballweitwurf fest. Bemerkenswert ist, dass Mädchen nicht für die Spiele vorgesehen waren, obwohl sie in den entstehenden Jugendgruppen der Städte und auf dem Land ein zunehmend aktiver Teil waren! Zukünftig werden sie allerdings nach einigen Auseinandersetzungen mit eigenen (nur weiblichen) Gruppen teilnehmen können. Diese Zurückdrängung lag ganz auf der Linie des allmählich die Volksgruppe führenden Pastors Johannes Schmidt-Wodder und auch an dem allmählichen Verstummen liberalerer Stimmen im Laufe der 1920er Jahre. Schmidt-Wodders Gesellschaftsbild ließ ein politisches Mitwirken von Frauen nicht zu. Seine eigene Ehefrau Johanna (1876-1965), die für ihn selbst und sein politisches Leben eine bedeutende Rolle spielte, war öffentlich nie präsent. Ja, sie erfüllte nicht einmal das Idealbild einer Pfarrfrau. (Schmidt-Wodder hatte nur kurze Zeit eine Pfarrgemeinde.) Sie kümmerte sich ausschließlich um die vier eigenen und die beiden Pflege-Kinder. Damit entsprach sie nach seinem Verständnis ganz den völkischen nationalromantischen  Vorstellungen, denen er anhing. Es darf  beispielhaft daran erinnert werden, dass die NSDAP bereits 1921 beschlossen hatte, keine Frau in die Parteiführung aufsteigen zu lassen. Auch in Nordschleswig wurden die zunächst bestehende Mitarbeit und der Einfluss von Frauen Zug um Zug zurückgedrängt. Krankenpflege, Diakonie, Volksschuldienst usw. wurden als  ihre Tätigkeitsfelder geduldet und gewährt. Anna Wernich, die Schwester des späteren Volksgruppen-Vorsitzenden etwa, die sich damals sehr in der Jugend-Arbeit engagierte, verstummte zusehends und verbitterte.

 

Sonnabend, 27. Mai 1922

Königsbesuch in Tondern

Bei seinem Besuch drückte der dänische König den Wunsch aus, die deutsche Bürgerschule zu besuchen und wohnte dem Unterricht in einigen Klassen bei. Er stellte selbst einige Fragen an die Schüler, wobei er sich wie auch im Gespräch mit den Lehrern stets der deutschen Sprache bediente. Die frische Art der deutschen Jungen gefiel dem König. Die deutsche Bürgerschule in Tondern hat nun wie schon oft vor hohen dänischen Beamten auch vor dem deutschen König Proben ihrer guten Leistungen gegeben. Später setzte der König seine Fahrt über Dahler, Hoyer, Troiburg und Lügumkloster nach Apenrade fort.

Der wohlwollende Besuch des dänischen Königs wurde in den deutschen Kreisen Nordschleswigs zwar bemerkt, aber doch mit einer gewissen Zurückhaltung, wenn nicht gar Beklemmung registriert. Die hochoffizielle Einbindung der deutschen Schulen war bei den Grenzrevisionisten in der deutschen Minderheit nicht gerade willkommen. „Sie wissen, dass ich und meine Partei eine andere Grenze wollen“, hatte Johannes Schmidt-Wodder gerade wenige Tage zuvor im Folketing in einer längeren Rede gesagt.

 
Foto: DN

Dienstag, 2. Mai 1972

Die „Emma Jebsen“ lief auf Nobiskrug-Werft vom Stapel

Das zweite Schiff vom Typ „Rendsburg“, das die Rendsburger Werft Nobiskrug für die Apenrader Rhederi M. Jebsen gebaut hat, wurde Sonnabend von Frau Gisela Andersen auf den Namen „Emma Jebsen“ getauft und lief unter dem ohrenbetäubenden Krachen eines chinesischen Feuerwerks, dem Geheul vieler Sirenen und Typhone, zu den Klängen des Schleswig-Holstein-Liedes und unter Hochrufen vom Stapel. Die MS „Emma Jebsen“ wird, wie ihr im September vorigen Jahres abgeliefertes Schwesterschiff „Heinrich Jessen“, im Ostasien-Verkehr eingesetzt. Sie soll am 19. Juli abgeliefert werden und wie alle Schiffe der Jebsen-Flotte auf ihrer Jungfernfahrt den Apenrader Hafen anlaufen.

Gisela Andersen, die Schwester des damaligen deutschen Bundestagspräsidenten und späteren Verteidigungsministers Kai-Uwe von Hassel, der ebenfalls bei der Schiffstaufe zugegen war, hatte verwandtschaftliche Beziehungen zur Apenrader Familie Jebsen.

Als Apenrade noch Heimathafen von Hochseeschiffen war: Die „Emma Jebsen“ lief im Mai 1972 vom Stapel. Eine Postkarte zeigt sie in voller Fahrt. Foto: Privatbesitz

Mittwoch, 3. Mai 1972

Das weltbekannte Tivoli in Kopenhagen wurde Montag zur Eröffnung der Saison von  69.300 zahlenden Gästen besucht.

 

Freitag, 5. Mai 1972

… er nahm die Hürden ohne den Balken zu reißen … Bibliothekar Fr. Christensen wird Sonntag 90 Jahre alt

Als Alsinger Kind wurde Fr. Christensen 1882 in Brandsbüll geboren. (…) Nicht nur unter drei Kaisern hat er gelebt und hat sie weit überlebt, sondern nach ihnen sind Größen mancher Art und Geltung auf ferner wie auf heimatlicher Bühne  vorübergezogen und haben seine Teilnahme gefordert. Er hat sich ihnen und dem Zeitgeschehen, das sich zwischen Heiterkeit, Begeisterung und Grauen, zwischen dramatischer Spannung und tiefster Tragik abspielt, nicht versagt.

Frederik Christensen ist einer der bedeutendsten Vertreter der Schmidt-Wodder-Generation in Nordschleswig. Leider ist seine Bedeutung als Lehrer, Bibliothekar und Jugendpfleger immer noch nicht angemessen gewürdigt. Die Feier zum 90. Geburtstag wurde Christensen damals in der deutschen Zentralbücherei in Apenrade ausgerichtet. Die Festrede hielt Hans Schmidt-Gorsblock unter dem Motto „In tiefster Seele treu“. Mit den oben zitierten Zeilen begann der Laudator Hans Schmidt-Gorsblock seinen Zeitungsbeitrag.

 

Dienstag, 9. Mai 1972

Die 15. Auslandskulturtage Dortmund vom 24. bis 31. Mai sind Dänemark gewidmet. Die Schirmherrschaft haben der dänische Ministerpräsident Jens Otto Krag und Bundeskanzler Willy Brandt übernommen.

Die Dortmunder Auslandskulturtage wurden 1957 gegründet und 1992 unter dem neuen Titel „Internationale Kulturtage der Stadt Dortmund“ fortgesetzt. Als erstes Partnerland trat 1957 Schweden auf, das 1965 abermals ausgewählt wurde. Dänemark war bereits 1963 Gast, dann 1972 und wieder 1998. Ausstellungen von Statens Museum oder dem damaligen Kunstgewerbemuseum, Aufführungen verschiedener Theater usw. machten das Land bekannt. 1967 galt Norwegen die Aufmerksamkeit, 1985 Finnland. – Jens Otto Krag und Willy Brandt, die einander schon vorher kannten, werden in Dänemark bereits am 13. Mai aufeinandertreffen, wie unten berichtet wird.

 

Mittwoch, 10. Mai 1972

Ein Schiff ohne Menschen geisterte übers Meer

Der „Fliegende Holländer“ bekam vor 100 Jahren einen weiblichen Doppelgänger namens „Marie Celeste“. Der Zweimastsegler brach am 2. November 1872 mit elf Menschen und einer Ladung Rohalkohol an Bord von seinem Heimathafen New York nach Genua auf und kam niemals an. Aber er war nicht untergegangen. Am 5. Dezember 1872 wurde die „Marie Celeste“ östlich der Azoren von einem anderen Segler entdeckt, wie sie mit gerefften Segeln steuerlos auf Westkurs lief. Die Brigantine war seetüchtig und völlig intakt – bis auf die Besatzung: Keine Menschenseele wurde an Bord angetroffen.

Die sonderbare Seegeschichte ging natürlich damals durch alle Zeitungsblätter der Welt, auch in Nordschleswig. Noch Jahrzehnte war das Ereignis ein Medienthema. Arthur Conan Doyle, der Vater des Sherlock Holmes, verarbeitete das Geschehnis in einer Erzählung. Zahlreiche Bücher sind über das Geisterschiff veröffentlicht worden, noch mehr Filme und Fernsehfolgen entstanden. Besonders in Schleswig-Holstein fand das Unglück ein Echo: Drei der sieben Besatzungsmitglieder stammten von Föhr bzw. Amrum (der Zweite Offizier übrigens von Ærø). Das letzte Buch über das Ereignis und die Folgen stammt von dem Hamburger Autor und Schiffshistoriker Eigel Wiese, „Das Geisterschiff. Die Geschichte der Mary Celeste“, und erschien 2001. Unsere Bibliotheken in Apenrade usw. besorgen den Titel für Interessierte in zwei bis drei Tagen!

 

Sonnabend, 13. Mai 1972

Willkommen Willy Brandt, Velkommen, Jens Otto Krag!

Bundeskanzler Willy Brandt und Staatsminister Jens Otto Krag kommen heute Mittag nicht im Hubschrauber, sondern im Wagen zu ihrem gemeinsamen Besuch nach Apenrade, der um 14.30 Uhr mit einer 25 Minuten langen Visite bei der deutschen Minderheit in der Bücherei eingeleitet wird. Der Vorsitzende des Bundes deutscher Nordschleswiger, Harro Magnussen, wird die beiden Regierungschefs begrüßen. In ihrer Begleitung wird sich auch der dänische Außenminister K. B. Andersen befinden.

Bundeskanzler Willy Brandt und Staatsminister Jens Otto Krag sprechen sowohl am Nachmittag als auch am Abend in der „Sønderjyllandshalle“, wo sie sich auch den 550 Partei-Mitgliedern zur Diskussion stellen, und geben um 15 Uhr im Hotel „Hvide Hus“ eine gemeinsame Pressekonferenz. Um 18.30 Uhr begibt sich Brandt in ein TV-Kreuzverhör mit den Fernsehjournalisten Lasse Budtz und Bjørn Elmquist. Diese Sendung wird direkt im dänischen Fernsehen gezeigt.

Der spektakuläre und lange vorbereitete Besuch der beiden Politiker bei der deutschen Minderheit beschäftigte den „Nordschleswiger“ natürlich wiederholt und füllte die Spalten der kommenden Tage.

 

Mittwoch, 17. Mai 1972

Königin Margrethe unternahm gestern die erste Fahrt mit dem Königsschiff „Dannebrog“ seit ihrer Thronbesteigung im Januar. Zusammen mit Prinz Henrik fuhr die Königin von Kopenhagen nach Helsingør.

 

Freitag, 19. Mai 1972

Korczak erhält posthum Buchhandels-Friedenspreis

Der 1942 im Konzentrationslager Treblinka ermordete polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak erhält in diesem jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Das teilte der Börsenverein des deutschen Buchhandels gestern in Frankfurt nach einem Beschluss des Stiftungstrats für den Friedenspreis mit.

Janusz Korczak (1878-1942) hatte jahrzehntelang ein Waisenhaus für verwaiste und verwahrloste Arbeiterkinder in Warschau geleitet. Als er sich während der deutschen Besatzung 1942 im Warschauer Ghetto weigerte, seine 200 Kinder zu verlassen, die ins Vernichtungslager Treblinka verbracht und in den Tod geschickt werden sollten, wurde er seinerseits von der SS verhaftet und ermordet. – Die Bücher des Schriftstellers und Sozialpädagogen („Wenn ich wieder klein bin“, „Verteidigt die Kinder“, „Von Kindern und anderen Vorbildern“) waren in Deutschland in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts richtiggehend populär.

 

Mittwoch, 24. Mai 1972

Europas größte und komplizierteste Straßenkreuzungsanlage wird heute in Birmingham in England übergeben. Vierzehn Straßen werden durch diese Anlage miteinander verbunden, die im Volksmund bereits „Spaghetti-Kreuzung“ heißt. Offiziell heißt die „The Gravelly Hill Interchange“. Die Verkehrsanlage hat mehr als acht Millionen Pfund Sterling gekostet und verfügt über Fahrbahnen in fünf Stockwerken.

 

Dienstag, 30. Mai 1972

Neue Hoffnung für „vergessene“ Kinder

Das traurige Kapitel der vergessenen Kinder in Kinder- und Jugendheimen, für die eine Adoption durch fremde Eltern nicht möglich war, geht zu Ende. Gestern beschloss das Folketing einstimmig ein neues Adoptionsgesetz, das am 1. Oktober in Kraft tritt. Danach ist eine Adoption auch dann möglich, wenn die leiblichen Eltern oder ein Elternteil des Kindes ihre Zustimmung dazu zurückgezogen haben, falls die Rücknahme unter besonderer Berücksichtigung für das Wohlergehen des Kindes nicht ausreiched begründet ist. Im Übrigen wird eine Adoption in besonderen Fällen auch dann möglich, wenn eine Zustimmung der Eltern nicht zu erreichen ist. In solchen Fällen kann die Adoption von vorneherein genehmigt werden. Die Bestimmung soll besonders „vergessenen“ Kindern in Heimen zugute kommen.

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