Lange Nacht des Horrors

Unerkannte Rose

Unerkannte Rose

Unerkannte Rose

Anna Chiara Steffen
Apenrade/Aabenraa
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Ein Tatort voller Blut: erneut wird das Kommissariat von einem vermeintlichen Suizid erschüttert. Erneut handelt es sich um einen ehemaligen Mitschüler. Wieder mal wurde kein Abschiedsbrief hinterlassen. Alles nur ein Zufall? Oder eine Mordserie mit Motiv, das jeden treffen könnte? Wer ist der oder die Nächste?

Als er ankam, war alles voller Blut.                                                                                                 

Die Spurensicherung war schon vor Ort gewesen, doch man sah auf den ersten Blick, dass die Tatortreiniger es noch nicht für nötig gehalten hatten, ihre Arbeit zu erledigen. Die Wucht, die die Kugel hatte, als sie aus dem Lauf der Waffe kam, sorgte unter anderem dafür, dass der Schädel des Mannes an die hinter ihm liegende Wand stieß, bis er schließlich zu Boden sackte und eine riesige Blutlache hinterließ. So viel verriet zumindest der rote Fleck an der Wand, der ihn anstrahlte wie eine Sonne. Seufzend blickte er hinunter auf den Mann. Die letzten Monate war es so schön still gewesen in seiner Stadt und nun kam so was. Und dann traf es auch noch den Ebbighausen. Mit ihm war er damals zur Schule gegangen. Mittlerweile ist es dreißig Jahre her, doch er hätte nie gedacht, dass es einen seiner Schulkameraden treffen könnte.

Während er so in Gedanken versunken auf seinen toten Mitschüler hinunterblickte, kam der leitende Kommissar Tauber und stellte sich neben ihn: „Trauriges Ende, oder nicht? In seinem eigenen Wohnzimmer durch eine Kugel sterben und dann erst nach einer Woche entdeckt werden. Und das durch die Putzfrau! Ich meine, wie schrecklich ist das denn, dass man sich eine Woche bei keinem meldet und niemanden fällt es auf! Also so möchte ich später nicht sterben. Deprimierend.“

„Ja, ist ja alles schön und gut, wie Sie nicht sterben wollen“, unterbrach ihn der Oberkommissar Felsemeyer „aber kommen Sie nun mal zu den Fakten. Haben Sie schon Hinweise gefunden?“ 

„Nichts Außergewöhnliches“, berichtete der Kommissar, „es scheint alles auf einen normalen Suizid hinzudeuten. Jedoch konnte die Spurensicherung bis jetzt keinen Abschiedsbrief finden, was etwas gegen diese Theorie spräche. Jedoch konnten auch keine anderen Fingerabdrücke gesichert werden. Aber was meinen Sie denn dazu? Also dazu, dass es keinen Abschiedsbrief gibt, das ist -“

„Ach kommen Sie! Bevor Sie mich hier noch weiter zu schwafeln, nennen Sie mir lieber den Grund, warum Sie mich dazu gerufen haben? Also wirklich, mir scheint das hier ein ganz normaler Suizid, was hat der Oberkommissar damit zu tun?“, unterbrach ihn Felsemeyer, der langsam, aber sicher seine Geduld verlor. Warum bekam er schon wieder so inkompetente Neulinge, mit denen er sich herumschlagen musste? Nach siebenundzwanzig Jahren Polizeierfahrung bekam er als Oberkommissar immer noch die Frischlinge ab, die entweder keine Ahnung hatten oder kein Blut sehen konnten. Zweitens war es lästig.                                                                                                                           

„Nun ja, meine Stelle war der Ansicht, dass wir Sie ab diesem Opfer dazu schalten sollten. Es ist nicht das Erste. Mittlerweile sind es fünf Opfer, die alle Suizide begangen haben und bei keiner dieser Personen wurde ein Abschiedsbrief gefunden. Außer - “, er blickte den Oberkommissar unsicher an.                                                                   

„Ach kommen Sie“, der Oberkommissar blickte ihn mittlerweile genervt an: „Muss ich Sie nun auch darauf hinweisen, dass Sie sich nicht unterbrechen sollen? Nun sagen Sie einfach, was Sie sagen wollten. So schlimm kann es ja nicht sein.“

„Es handelt sich bei allen Opfern um ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen von Ihnen. Wir vermuten daher, dass es sich nicht um Selbstmorde handelt, sondern dass ein Täter dahintersteckt und dass es auch einer Ihrer ehemaligen Mitschüler sein könnte. Deshalb haben wir Sie dazugezogen. Meine Kollegen und ich sind der Annahme, dass Sie in diesem Fall der Beste sind, der ermitteln kann.“

Das Gesagte verschlug ihm die Sprache. Es waren alles Mitschüler von ihm? Wie konnte er das nicht mitbekommen haben? Ihm war bewusst, dass er in den letzten dreißig Jahren nach seinem Abitur wenig Kontakt zu seinen Mitschülern pflegte, da er sich unter anderem voll und ganz auf die polizeiliche Karriere konzentriert hatte, aber er hätte es doch wohl mitbekommen, wenn sich fünf seiner Mitschüler umgebracht hätten, oder nicht?                                       

„Sorgen Sie dafür, dass alle Unterlagen, die die Suizide betreffen, umgehend auf meinem Schreibtisch landen. Und geben Sie mir auch alle relevanten Telefonnummern von Angehörigen und Institutionen, in denen die Menschen gearbeitet haben. Ich möchte, dass morgen alles auf meinem Schreibtisch liegt, verstanden?“                                                                         

Tauber nickte, drehte er sich um und ging. Bevor er sich morgen mit den Unterlagen auseinandersetzten würde, wollte er in seiner Wohnung alte Schulfotos heraussuchen und andere Erinnerungen, die er aus diesem längst vergangenen Kapitel seines Lebens noch hatte.

Als Felsemeyer am nächsten Morgen das Büro betrat, befand sich auf dem Boden vor seiner Tür ein Rosenblatt, doch er dachte sich nichts weiter dabei und betrat seine vier Wände in der Polizeistelle. Der Kaffee dampfte und er blickte auf die fünf Hefter, die vor ihm lagen. Der Fünfte war der dünnste. Das lag nicht nur daran, dass Ebbighausen der letzte Suizid war, sondern auch daran, dass er einer derjenigen war mit den wenigsten sozialen Kontakten. Er ging die Akten eine nach der anderen durch. Sprung vom Kran, Erhängen im Flur, Pulsader in der Badewanne, Pillen im Schlafzimmer und Erschießen im Wohnzimmer. Ackermann, Ankenbrock, Beitz, Dols und Ebbinghausen.

Interessant, dachte er sich, der Mörder, wenn es denn einen Mörder gab, ging in alphabetischer Reihenfolge vor. In seiner Klasse gab es damals insgesamt fünfundzwanzig Schüler und Schülerinnen, die nun alle zwischen achtundvierzig und fünfzig Jahren waren. Sie hatten damals eine recht gute Klassengemeinschaft und sich geschworen, sich alle fünf Jahre zu treffen. Wie das nun einmal so ist mit solchen Versprechen, wurden sie natürlich nicht gehalten und sie haben sich in den dreißig Jahren, die vergangen sind, kein einziges Mal getroffen.  

Während er weiter darüber nachdachte, griff er nach dem Telefon und wählte die erste Nummer. Er nahm sich vor, die Telefonnummern alle einzeln durchzugehen. Die riesige Pinnwand hing in seinem Büro und wurde nach jedem neuen Fall freigeräumt. Es wurde Zeit, sie wieder zu schmücken.

Nach einer langen Reihe verschiedener Telefonate blickte Felsemeyer erneut auf die Pinnwand. Während der Gespräche hatte sie sich mehr und mehr gefüllt. Mittlerweile standen nicht nur das Alter der Opfer darauf, sondern auch der Beziehungsstatus der Opfer, sowie ihr Beruf und ihr soziales Umfeld. Bis jetzt ließen sich nur wenige Zusammenhänge erkennen. Fakt war, dass alle in die Klasse gingen, in der er damals auch war und dass sich ihr Charakter während der letzten Monate, in denen sie gelebt haben, verändert hat. Die Menschen in ihrem Umfeld beschrieben sie als distanzierter und vorsichtiger, aber auch als schreckhafter und ängstlicher. Sie schienen fast schon wie gejagt zu leben, jederzeit von einem Verfolger umgeben. Aber warum, wenn man davon ausgeht, dass wirklich ein einzelner Täter hinter all den Suiziden steckte – warum haben sie sich alle selbst umgebracht? In jedem einzelnen Fall war klar, dass es keine Fremdeinwirkung gegeben hatte. Die Suizidermordung, dachte er sich und lächelte ironisch. 

Es war widersprüchlich in sich und doch schien es die einzige plausible Erklärung zu sein, diese Suizidreihe zu erklären. Wie sonst möchte man fünf Suizide von ehemaligen Mitschülern in einem Abstand von einem Jahr rechtfertigen? Jetzt blieb nur noch die Frage offen, was alle in den Tod getrieben hat, sodass sie keinen Ausweg mehr sahen. Seufzend trank er seinen Kaffee und stutze leicht, als er am Boden seiner Kaffeetasse ein weiteres Rosenblatt fand.

Es war festgeklebt und er fragte sich, warum es ihm heute Morgen nicht aufgefallen war. Bestimmt war es nur ein dummer Scherz seiner Kollegen. Um sich damit nicht weiterzubeschäftigen, beschloss er in die Wohnung des letzten Opfers zu fahren. Dort würde er die meisten Chancen haben, noch etwas Relevantes für die Ermittlungen zu finden, da Ebbighausen keine Verwandten gehabt habe, die sich für ihn interessieren. Vor seinem Auto befanden sich weitere Rosenblätter und langsam schlich sich ein Gedanke in seinen Kopf.

Bei Ebbighausen angekommen, zerriss er das Absperrband der Polizei und verschaffte sich Zutritt zu der Wohnung. Die Wohnung sah aus wie gestern, mit dem kleinen Unterschied, dass die Tatortreiniger mittlerweile dagewesen waren und endlich mal sauber gemacht hatten. Im gleichen Zuge hätten sie auch mal lüften können. Er ging ins Schlafzimmer und schaute sich in den Kommoden und Schubladen um. Damals hatte Ebbighausen Tagebuch geführt. 

Die Jungs hatten es auf einer Klassenfahrt nach Potsdam herausgefunden und ihn bis zum Abschluss damit aufgezogen, deshalb ging Felsemeyer jetzt auch davon aus, dass Ebbighausen immer noch Tagebuch führen könnte. Und tatsächlich wurde er nach einiger Zeit unter dem Bett fündig und hielt schließlich ein kleines schwarzes Büchlein in der Hand. Wie konnten die Spurensicherer das übersehen? Bevor er das Buch aufschlug, setzte er sich auf die Bettkante.

24. Mai: Ich kann nicht mehr! Ich mache das nicht mehr mit! Er oder sie ist überall. Egal, wo ich hingehe, er oder sie macht sich jederzeit bemerkbar und doch auch nicht! Es ist wie ein Geist, der in meinem Kopf spuckt und mich an all das erinnert, was ich vergessen wollte! Es geht einfach nicht mehr! Ich sehe keinen Ausweg mehr und ich kann auch keine Person einweihen. Die Person hat einfach zu viel in der Hand gegen mich. Morgen werde ich es tun. Morgen ist der Tag, an dem hat alles ein Ende!

Der Eintrag war der letzte und wurde an dem Tag vor seinem Tod in das Buch geschrieben. Nachdenklich blätterte der Oberkommissar einige Seiten zurück.

3. Mai: Die Briefe häufen sich. Heute habe ich zum ersten Mal auch Bilder geschickt bekommen, auf denen man mich im Café sitzen sieht oder beim Friseur. Ich war das letzte Mal im Februar beim Friseur. Um genau zu sein, am 27. Februar! Damals fing alles an und seitdem beobachtet mich dieses kranke Schwein schon! Die Briefe habe ich eine lange Zeit nicht ernst genommen, aber mittlerweile schreibt die Person Sachen, die eigentlich keiner wissen sollte. Wer ist das? Wer tut so etwas einem Menschen an? Das macht mich ganz krank! Ich kann abends nicht mehr schlafen und habe ständig das Gefühl, immer beobachtet zu werden. Noch nicht einmal in meiner Wohnung fühle ich mich sicher. Wann hat dieser Spuck ein Ende?

13. April: Seit heute kommen Briefe. Ich weiß nicht wirklich, wie ich dazu stehen soll, aber es verunsichert mich. Zuerst war es nur ein einfaches ‚Hallo‘, doch es wurde immer mehr. Die Person dahinter kommentiert meinen Alltag. Was ich trage, was ich esse, welches Fernsehprogramm ich schaue. Aber das kann die Person doch gar nicht wissen! Ich beobachte seit den letzten Wochen meine Umgebung mit Adleraugen und mir ist keine Person aufgefallen, die ich an anderen Orten schon mal gesehen habe. Wer könnte es also sein? Mir wurde zudem auch geraten, nicht die Polizei einzuschalten. Die Person haben Beweise gegen mich in der Hand, die sie mir in kommenden Briefen genauer erklären würde.

6. März: Als ich heute von der Arbeit kam, war mein Schloss zur Wohnung aufgebrochen. Wer hat versucht, sich Zugang zu verschaffen? Ich habe überall nachgesehen, aber es fehlt nichts. Was wollte die Person hier? Ist es die Person, die mir die Rosenblätter überall hinterlassen hat?

27. Februar: Heute war ich beim Friseur und auf dem Weg dorthin und von dort zurück habe ich überall Rosenblätter gefunden. Ich dachte erst, dass es ein schlechter Scherz sei und dass es wahrscheinlich mit einem Antrag oder so zusammenhing, den jemand gemacht hat. Aber dann waren die Blätter auch in meiner Wohnung und in meinem Auto. Was hat es damit auf sich? Ist das ein Kinderscherz? Machen Kinder heutzutage solche Scherze? Oder ist es etwas Ernstes?

Der Oberkommissar schloss das Buch in seinen Händen. Bei Ebbighausen waren es ca. 2,4 Monate, in denen sich die Ereignisse abspielten und schließlich zu seinem Tod führten. 2,4. 2,4 multipliziert mit fünf ergibt zwölf und passt damit genau in das Jahr, in dem alle seine Mitschüler den Tod gefunden hatten. So wie es schien, was es von langer Hand geplant, und zwar auf eine üble Art und Weise. Der Täter terrorisiert seine Opfer, bis sie keinen Ausweg mehr finden. Dafür nutzt er verschiedene Methoden, wie beispielsweise das Bombardieren mit Briefen oder Fotos. In diesen Fällen sind die Rosenblätter wohl ein besonders markantes Zeichen.

Doch womit droht er seinen Opfern, dass es sie bis in den Tod treibt und sie keinen Ausweg finden? Warum war er sich eigentlich sicher, dass es ein Er war und keine Sie? Noch lange grübelte er deswegen, doch beschloss, diesen Gedanken ruhen zu lassen. Jetzt müsse er sich erst einmal mit den weiteren Ermittlungen beschäftigen, denn das Ganze schien auf etwas Ernsteres hinauszulaufen, als bislang vermutet. Diese Form des Stalkings war eine sehr ausgeprägte und dramatische, die einen gemeinsamen Nenner haben muss. Es muss einfach einen Grund geben, warum es fünf aus seiner ehemaligen Klasse getroffen hatte, doch was kann der Grund sein?

Irgendwer verfolgte seine Klassenkameraden systematisch und sorgte durch das Nachstellen und das penetrante Belästigen dafür, dass sie sich sogar in den Tod trieben. Ebbighausen schrieb nichts von körperlichen Auseinandersetzungen, also handelte es sich hierbei wohl nur um den psychischen Terror, der auf die Opfer ausgeübt wird und sie in den Wahnsinn treibt. Wer könnte so grausam sein?

Als er die Wohnung verließ, fand er einen blanken Briefumschlag, der auf der Fußmatte lag. Daneben lagen ein paar Rosenblätter. Er nahm ihn und zog einen Zettel heraus:

„Bei dir kann ich etwas vorspulen mit dem Programm, Sherlock. Ich bin gespannt, wie lange du dich schlägst.“

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