Lange Nacht des Horrors

Puppenspiel

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Mette Marie Storm
Apenrade/Aabenraa
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Nach Ewigkeiten trifft Esme Dean wieder, den jungen Mann, der noch in der Schulzeit nach dem Tod seiner Schwester die Schule wechselte. Als die beiden im Haus von Dean einen Kaffee trinken, macht Esme eine grausame Entdeckung: Ihr alter Klassenkamerad hat eine gruselige Vorliebe für Puppen...

Esme wachte von dem dröhnenden Klang ihres Weckers auf. Draußen war es noch dunkel, die Scheibe ihres Dachfensters war beschlagen. Esme rieb sich den Schlaf aus den Augen und tastete ihren Nachttisch nach ihrem Handy ab, die viel zu hellen Strahlen ihres Smartphones brannten in ihren Augen. Mal wieder eine Nacht mit viel zu wenig Schlaf, dachte Esme sich. Sie rollte sich rüber, und raffte sich hoch. Als die junge Frau sich in ihr Badezimmer begab, vergrub sie ihr Gesicht in ihre mit kaltem Wasser gefüllten Hände. Sie seufzte und rieb sich ihre Augenlieder, die sich wie Sandpapier gegen ihre Augen schliffen. Esme streifte ihre rot-braunen Haare hinter ihre Ohren, schnappte sich ihre Zahnbürste und fing an, sich für ihren neuen Tag beim Praktikum fertig zu machen. Die Tasche flog über Esmes Schulter und sie schlug die Tür hinter sich zu. Sie schnappte sich ihren blau- rostigen Drahtesel, schwang sich drauf und trat wie verrückt in das Pedal. Die junge Frau hatte wirklich keine Nerven dafür an ihrer nur zweiten Woche schon zu spät zu kommen.

Lautes Hupen riss Esme aus ihren Gedanken, als der Autofahrer hinter ihr, lauter Gesten lautlos ihr entgegenrief und seinem Lenkrad einen Schlag verpasste, Esme hob entschuldigend die Hand und schüttelte den Kopf, als sie sich in Bewegung setzte. Angekommen an ihrem Praktikumsplatz, einem riesigen Wolkenkratzer, stellte sie ihr Fahrrad lieblos gegen die Wand gelehnt ab und machte schnelle Schritte in das Gebäude hinein. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet und sie betete, dass keiner ihren Stressschweiß riechen konnte. Als Esme scharf um die Kurve bog, sah sie gerade, wie die Fahrstuhltür sich schloss. „Scheiße“, flüsterte sie zu sich selbst. „Halt! Bitte! Aufhalten!“, rief sie aus voller Kehle. Ein Arm ragte raus und stoppte die Tür vorm Schließen. Völlig außer Atem im Fahrstuhl angekommen, keuchte Esme ein leises: „vielen Dank“ zwischen ihren nach Luft schnappenden Atemzügen. Als die Brünette sich aufrichtete und ihrem Retter einen Blick zuwarf, entfloh ihr ein „heilige Scheiße!“. Ruckartig schlug sie sich die Hände vor den Mund. Der Graue-Anzugträger musste Schmunzeln. Wenige Sekunden später brach der junge Mann dann die Stille: „Lange nicht mehr gesehen“. Esme fiel auf, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Langsam nahm sie ihre Hände runter und ein kleines unwohles Lächeln schlich sich über ihre Lippen. „Oh nein, wie peinlich!“, dachte sie sich. „Dean Schneider, mit dir hätte ich am wenigsten gerechnet“. Esmes Augen wanderten auf den Boden. Dean räusperte sich: „Wieso das?“, fragte er mit einem rauen Unterton. Als Esme wieder aufsah, trafen sich ihre Augen. Esme war eingeschüchtert und sie spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Sie schluckte: „Naja, damals in der Schule-“. Das Piepen der Fahrstuhltür unterbrach sie und zwei weitere Männer betraten den Fahrstuhl. Esme schenkte Dean noch einen schnellen Blick und huschte aus dem Fahrstuhl raus. Sie atmete tief durch und schüttelte sich den Stress ab.

Als sie in ihrem kleinen Arbeitszimmer angekommen war, schloss sie die Tür und streifte sich ihre Tasche von der Schulter und platzierte sie neben ihrem Schreibtisch. Sie ließ sich in ihren Stuhl fallen und schloss für einen Moment ihre Augen, als sie sie wieder öffnete, erblickte sie direkt einen Haufen Akten auf ihrem Schreibtisch. Esme seufzte. Sie zückte ihren Laptop und fing an, sich den Papierkram durchzugucken. Ein Klopfen ließ die junge Frau zusammenschrecken. „J-Ja“, entgegnete sie. Eine kleine Blondine öffnete vorsichtig die Tür und luscherte durch den Türspalt: „Mittagspause?“ Esme schenkte ihr ein Lächeln und nickte. Es war eine andere Praktikantin, Jessy. In der Cafeteria angekommen suchten die beiden Frauen sich einen Tisch und im Hintergrund hörte Esme Jessy die ganze Zeit vor sich hin brabbeln. Esme hörte allerdings nur mit einem Ohr zu. Ihre Gedanken kreisten um die Begegnung mit ihrem alten Schulbekannten. Dean war einige Stufen über Esme gewesen und nach dem Vorfall mit seiner Familie wechselte Dean die Schule, da sich die Gerüchte über seine ums Leben gekommene Schwester damals verbreiteten wie ein Lauffeuer. Schüler erzählten, sein Vater hätte sie in einem Streit ermordet, oder sie sei besessen gewesen und es sei Notwehr gewesen.

„Esme? - Esme!“ Jessy zog sie aus ihrem Gedankenstrudel. „Du hast ja Gänsehaut! Ist dir kalt?“ Esme schaute zwischen ihrem Arm und der Blondine verwundert hin und her. Sie zog ihren Arm ein, lachte verwundert und schüttelte den Kopf: „Oh! Nein, nein alles gut!“ Als Esme das Gebäude verlies war es schon dunkel draußen und eisig kalt. Sie rieb sich die Arme und schaute den dicken, aufziehenden Schneewolken am Himmel nach: „Verdammt kalt, nicht wahr? “ Esme fuhr rum. An der Mauer des Gebäudes lehnte Dean, der lässig den Rauch seiner Zigarette ausatmete. „Immer noch nicht geschafft aufzuhören?“, fragte Esme neckend. Dean schmunzelte und schenkte ihr ein kleines belustigtes Grinsen. „Hast du Lust auf einen Kaffee?“ Dean kam ein paar Schritte näher. Esme stotterte und entgegnete ihm mit einem kleinen Nicken: „K-Klar wieso nicht…“. Dean schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Esme schaute noch einmal schnell zu ihrem Fahrrad, aber eilte dann doch hinter ihrer alten Schulbekanntschaft her.

Bei Dean zu Hause angekommen, rieb Esme sich ihre Hände und pustete sich warme Luft in ihre Handballen. Dean hielt ihr die Tür auf und sie schlüpfte hinein. „Wohnst du wieder hier oder…“, fragte die Brünette vorsichtig. „Immer noch“, entgegnete ihr Dean kurz angebunden „Ein paar Monate nachdem meine Schwester… meine Eltern ließen sich scheiden und zogen weg. Das Haus haben sie behalten und als ich alt genug war, hat mein Vater es mir überlassen.“ Esme nickte „Mateo hat mir nie viel erzählt, immer wenn ich ihn…wegen deiner Schwester, gefragt hab, ist er ausgewichen.“ Dean war der beste Freund von Esmes Cousin gewesen, weshalb Esme eine der Ersten gewesen war, die von dem Tod von Deans Schwester erfuhren. Dean nahm Esme ihren Mantel ab und bahnte sich seinen Weg weiter ins Wohnzimmer. „Setz dich!“ Er zeigte auf die Couch in seinem Wohnzimmer und ging weiter in die Küche. „Milch, Zucker?“, ertönte Deans Stimme aus der Küche. „Etwas Milch, bitte!“ Esme machte es sich bequem und ließ ihre Blicke durch den Raum gleiten, auf den Bildern, die an der Wand hingen, hatte sich Staub gelegt. Mit zwei Tassen Kaffee gesellte sich Dean neben Esme aufs Sofa. „Was hast du die letzten Jahre so getrieben?“, wandte sich Dean an Esme. „Oh - eh, dies und jenes: Abitur, Zukunftsaussichten, du weißt schon.“ Dean nickte. Esme wollte die Frage erwidern, aber sie war sich nicht sicher, ob sie vielleicht die düsteren Erinnerungen an die letzten Jahre bei Dean aufwirbeln könnte. Als ob Dean ihre Gedanken lesen könnte, unterbrach er die Stille: „Ich hatte eine kleine Pause von der Schule, die ich damit verbrachte, mich in meinem Zimmer zu verbarrikadieren. Nach einer gewissen Zeit habe ich mir einen Teilzeitjob gesucht. Irgendwann brachte mein Vater mich dann im Büro der Mordkommission unter.“

Nach einigen Stunden schaffte Esme es, sich aus den endlosen Tiefen des Gespräches zu entwirren und warf einen Blick auf ihr Smartphone. „Oh, Mist!“, flüsterte sie, „Tut mir unfassbar leid, Dean! Schon so spät.“ Esme stand auf und fuhr ihre Finger unsicher durch ihre Haare. „Willst du bleiben?“ Deans Frage ließ Esme innehalten und sie schaute auf Dean herab. Im Vergleich zu vorher wirkte er jetzt nicht mehr einschüchternd… sondern viel mehr… verzweifelt, einsam? „Versteh mich nicht falsch“, fügte er schnell hinzu, „Ich habe keine Hintergedanken! Ich könnte auf dem Sofa schlafen.“ Esme seufzte: „In Ordnung … Aber ich nehme das Sofa, ich will dich nicht aus deinem eigenen Bett vertreiben.“ Dean nickte und verschwand im Gang neben der Küche. Als Dean wiederkam, hatte er eine Decke und ein Kissen unter seinen Armen „Hier, bitte.“ Er hielt ihr das Bettzeug hin und schenkte ihr ein sanftes Lächeln, welches Esme erwiderte: „Dankeschön, auch für den Kaffee! Ich wünsch dir eine gute Nacht!“ Erneut lächelte sie und fing an, es sich bequem zu machen. Dean hielt noch einmal inne, aber drehte sich dann kopfschüttelnd um. „Gute Nacht“, hörte Esme ihn sagen, bevor Dean im Gang verschwand.

Als Esme aufwachte, war es noch mitten in der Nacht. Ihr trockener Hals ließ sie räuspern. Sie setzte sich auf und rieb sich über den Kehlkopf. Auf Zehnspitzen schlich sich Esme in die Küche und untersuchte die Schränke so leise wie möglich nach Gläsern. Vom Wasserhahn füllte sie sich ihr Glas auf und leerte es durstig. Nachdem Esme ihren Durst gestillt hatte, stöhnte sie leise genervt auf, als sie merkte, wie jetzt auch ihre Blase Bescheid gab. Esme schnappte sich ihr Handy und schaltete die Taschenlampe an. Langsam bewegte sie sich Schritt für Schritt den Gang entlang, der Boden knarrte und Esme hielt inne. Das Haus kannte Esme noch von früher. Sie öffnete die Badezimmertür und huschte hinein, schloss sie hinter sich und tastete den dunklen Raum nach dem Lichtschalter ab. Das Licht blendete Esmes gereizten Augen und als sie sich umdrehte, blieb ihr der Atem stehen, Esme konnte ihren Augen nicht trauen. Sie kniff sich in ihren Arm, um zu testen, ob es nicht ein Albtraum war. Von den Decken hingen Angelfäden, an denen menschengroße Puppen befestigt waren. „Ob Dean die selbst gebastelt hatte?“, fragte sich Esme. Neugierig machte sie ein paar Schritte, näher an die gruseligen marionettenartigen Gegenstände heran. Achtsam betrachtete Esme die Gesichter der Puppen: „Die kommen mir bekannt vor“, dachte sie sich, als sie in sich hinein kicherte. Mit den Fingerspitzen strich sie durch die Spitzen einer der drei Puppen. Esme betrachtete die porzellanbemalten Augen und bewunderte die kleinen Details.

Als Esme die zweite Puppe betrachtete, gefror ihr das Blut in den Adern. Ihr Herz begann wie verrückt zu hämmern. Sie hatte recht: die Puppen kamen ihr tatsächlich bekannt vor. Die Akten, die sie heute durchgearbeitet hatte, waren abgeschlossene Vermisstenfälle gewesen, von Mädchen, die vor langer Zeit vermisst gemeldet wurden. Die Puppen, die wie Marionetten von der Decke hingen, waren nicht aus Plastik oder sonstigem Material, es waren die Leichen der vermissten Mädchen, die schon lange am Verwesen waren. Dean musste die Augen und weitere Körperteile, wie die Augen, durch Porzellan ersetzt haben. Esme spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie schaute sich um, wollte gerade zu Tür rausstürmen, doch Dean stand bereits da. Tränen schossen Esme in die Augen. „D-D-Dean?“ Sie war wie angewurzelt, konnte sich nicht bewegen. Dean trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Sind sie nicht wunderschön?“, fragte er. Esme war immer noch unbeweglich. „Sie sehen aus wie sie…“, flüsterte er. Esme spürte, wie ihr dicke Tränen die Wange runterkullerten. Sie nickte langsam. „Tut mir leid, Esme! Das solltest du nicht sehen.“

Deans Stimme war beängstigend ruhig. Kein Unterton, der seine Emotionen verriet. Doch genau das ließ Esme wissen, dass sie genauso enden wird wie diese unschuldigen Mädchen. Denn genau wie diese Mädchen ähnelte auch sie selbst der verstorbenen Schwester des jungen Mannes, den sie glaubte, gekannt zu haben. Der Psychopath, der direkt hinter ihr stand. Esmes Nackenhaare sträubten sich, als sein Atem auf ihre Haut traf. Von dem eisigen Asphalt der Straßen draußen sah man, dass das letzte Licht im Fenster erlosch. Friedlich ruhig fingen Schneeflocken an, sich auf den Straßen und Dächern niederzulassen.

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