Lange Nacht des Horrors

Möwen wie Krähen

Möwen wie Krähen

Möwen wie Krähen

Julika Koehn
Apenrade/Aabenraa
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Das Stromnetz ist zusammengebrochen, kein Anruf geht mehr an die Polizei raus. Keinem der Schülerinnen und Schüler ist am Morgen eines kalten Wintertages die Blutspur im Schnee entgangen, die sich von der Fußgängerzone Apenrades bis hin zum Deutschen Gymnasium zieht. Die Möwen am Morgen verrieten es bereits – doch was war passiert?

Winter in Apenrade, das Thermometer zeigt Minusgrade an. In den Klassenräumen des Deutschen Gymnasiums sitzen meine Mitschüler und ich noch halb verschlafen, draußen ist es dunkel.

Lange gab es keinen so kalten Winter wie in diesem Jahr. Vereiste Straßen, die Bürgersteige sind mit Schnee bedeckt. Über Apenrade hängen dichte, dunkle Wolken und ein Hauch Nebel. Die Wellen der bitterkalten Ostsee brechen am Ufer des Strandes und über ihm kreisen die Möwen, die Krähen des Nordens. Alles ist grau.

Nur die Blutspur, welche sich vom Hafen, über die Fußgängerzone bis hin zum Deutschen Gymnasium zieht und im Schnee verläuft, verleiht der Stadt etwas Farbe. Und ebenso wie der Stadt ist den Schülern sämtliche Farbe aus ihren Gesichtern entwichen, denn trotz der Finsternis am Morgen ist keinem die Blutspur entgangen. Sie sitzen unruhig auf ihren Stühlen, manche schweigen und starren in den Raum hinein, wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Andere spekulieren, was passiert ist, die nächsten weinen. Ich weine auch, blicke in die fahlen Gesichter meiner Freunde. Keiner weiß, was wirklich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag passiert ist.

Die Schulleitung bittet alle Klassen zu einer Versammlung in die Aula der Schule, um den Schülern zu vergewissern, dass sie in Sicherheit waren. Denn auch der Schulleitung war an diesem kalten Wintermorgen die Blutspur nicht entgangen. Langsam schieben sich die Massen der verängstigten Schüler über die spärlich beleuchteten Flure der Schule, ein Gewirr von Stimmen und schluchzenden Jugendlichen entsteht und hallt durch die Gänge. Ich höre nichts, nur ein Rauschen, als wäre Watte vor meinem Ohr.

Gerade möchte ich mich setzen, bevor meine zittrigen Knie mir den Boden unter den Füßen wegziehen können. Doch plötzlich leuchtet das Deckenlicht der Aula auf und taucht diese und den angrenzenden Innenhof in helles, warmes Licht. Somit bleiben die meisten von uns einfach stehen und blicken in das verglaste Innere mitten der Schule. Uns stockt der Atem.

Schnell erlischt das Licht wieder. Alles still. Jeder hatte gesehen, was mitten im Hof vom kahlen Bäume hing. Kein Zucken, kein Mucks. Es herrscht Totenstille. Aus unerklärlichen Gründen kann plötzlich auch das Licht nicht wieder angeschaltet werden, die Schulleitung versucht über das Telefon, die Polizei zu verständigen, um von dem Vorfall zu berichten, doch der Anruf geht nicht raus. Das Stromnetz ist zusammengebrochen. Nun heißt es warten, auf die Polizei oder auf Licht, um genauer zu sehen, was dort im Innenhof vor sich geht. Oder auf beides. Etwas musste passieren. Die Schüler warten ungeduldig auf die Sonne, welche es an diesem Morgen nur leicht durch die dicke Wolkendecke schafft. Ginge die Sonne auf, könnte man schon mehr erkennen, als ich es auf dem Hinweg zur Schule mit meiner uralten Lampe am Fahrrad konnte. Das Blut war zwar markant in der so grauen Stadt, doch weder konnte ich sehen, wo es begann oder endete.

Aber dort hängt sie, in kümmerlichem Licht, blau vor Frost und rot vor Blut, weiß wie Schnee. Eine Leiche. Wer ist es? Wie ist sie in den Innenhof gekommen? Warum bei uns in der Schule? Ob die kreisenden Möwen vorhin auf dem Weg zur Schule eine Vorwarnung waren? Über die Krähen sagt man doch, sie würden den Tod ankündigen. Wie ist das mit Möwen?

So viele Gedanken in meinem Kopf, so viele Fragen und niemand hier, der mich versteht. Verdammt, wo steckt sie nur? Ich blicke mich um, suche den Raum nach meiner besten Freundin ab. Sie ist nicht hier. Ein Mal in der Woche könnte sie doch pünktlich kommen, denke ich mir. Ich brauche sie. Sie versteht mich wie niemand anders. Als wären wir Schwestern, sind wir zusammen aufgewachsen. Aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass mein Vater uns im Stich ließ, als ich noch ein Baby war. Die Mutter von meiner besten Freundin verstarb früh an Krebs. Wir wissen beide, was Verlust bedeutet.

Und so verbrachten wir Jahr für Jahr zusammen, über den Kindergarten, die Grundschule und jetzt das Gymnasium sind wir keinen Schritt ohne einander gegangen. Ich fange ihren Freund auf dem Flur ab und frage ihn, ob er wisse, wo sie schon wieder steckt. Als Antwort kassiere ich ein Schulterzucken. Arschloch.

Wir werden aufgefordert, wieder in unsere Klassen zu gehen und normal mit dem Unterricht weiterzumachen, bis die Polizei kommt. Wir würden ohnehin nichts tun können, sagen die Lehrer. Ich lasse mich also in der Klasse auf meinen Stuhl fallen, schließe meine Augen. Nur einen gefühlten Wimpernschlag später ist auch schon der Schultag vorbei und meine Freundin noch immer nicht da. Gut, vielleicht ist sie ja krank. An der Polizei vorbei, die den gesamten Innenhof abgesperrt hat, bis hin zum Fahrradständer vor dem Gebäude haben sich wieder Trauben von Schülern angesammelt und tuscheln, zeigen auf die eingepackte Leiche.

Ich gehe stumpf daran vorbei, irgendwie fehlt mir jede Energie. Außer einem Ziehen in meinem Bauch fühle ich nichts, möchte bloß nach Hause und vorher einmal bei meiner Freundin vorbeischauen, um nach ihr zu sehen und von den Strapazen erzählen. Mein Fahrrad ist eingeschneit und meine Hose sofort nass, als ich, mich auf den Sattel schwinge. Na super.

Auf dem Weg nach Hause sind meine Gedanken permanent bei den Möwen am morgendlichen Himmel. Das war doch sonst nicht so. Fairerweise muss man sagen, dass an diesem Wintermorgen nichts wie sonst auch war. Heute ist alles anders.

Ich biege in meine Straße ein, habe mich dazu entschieden, vor dem Besuch meine nasse Hose zu wechseln. Mache die Tür auf, rufe nach Mama. Keiner da, merkwürdig. Dann eben nicht. Schnell mache ich mich wieder auf den Weg. Zum Glück sind es nur zwei Straßen bis zu ihr und ich bin in Windeseile bei ihr. Nach dem dritten Klingeln öffnet mir meine Mutter die Tür, weiß wie eine Wand.

Der Vater meiner besten Freundin dicht hinter ihr. Gerade will ich nach meiner Freundin fragen, doch die beiden Polizisten auf dem Sofa sind mir Antwort genug. Warum hat mir niemand Bescheid gegeben? Sich bei mir gemeldet oder mich aus der Schule geholt. Es war mal wieder typisch, dass niemand mit mir spricht. Und natürlich ist es dann meine Mutter, die anstelle von mir sofort benachrichtigt wird, sobald etwas passiert. Sie hat sie meine Freundin mit aufgezogen und ihr Vater mich. So sind wir beinahe wie eine kleine Familie. Ich meine, waren.

Das kann nicht wahr sein. Ich breche zusammen, weine, schreie, schlage um mich. Sie war es, die im Innenhof vom Baum hing und die Möwen am Morgen hatten es geahnt.

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