Rechtspopulismus & Antisemitismus

Nach 93 Lebensjahren: Die Angst ist zurück

Nach 93 Lebensjahren: Die Angst ist zurück

Nach 93 Lebensjahren: Die Angst ist zurück

Apenrade/Aabenraa
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Carsten Lund macht sich bezüglich eines Vormarsches rechtsextremer und antidemokratischer Positionen große Sorgen. Foto: Helge Möller

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Rechtspopulistische Parteien haben in den vergangenen Jahren an Einfluss gewonnen, und der Antisemitismus hat neuen Studien zufolge sowohl in Dänemark als auch in Deutschland zugenommen. Beides sei laut dem 93-jährigen Carsten Lund, dessen Vater der NSDAP-N angehörte und nach Kriegsende im Faarhus-Lager inhaftiert wurde, zutiefst besorgniserregend.

„Ich habe Angst“, so lauten die ersten Worte Carsten Lunds auf die Frage, wie er den derzeitigen Einfluss rechtspopulistischer Parteien in Dänemark und Deutschland wahrnehme. Er habe sich nicht vorstellen können, noch einmal einen solchen Vormarsch antidemokratischer und rechtsextremer Positionen mitzuerleben.

Lund ist gebürtiger Tonderaner und mit seinen 93 Jahren einer der wenigen noch lebenden nordschleswigschen Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg und die Besatzung Dänemarks durch Nazi-Deutschland miterlebt haben. 

„Wenn ihr etwas wissen wollt, müsst ihr euch daher auf die Socken machen. Bald ist das, was ich weiß, für immer verschwunden“, sagt Lund mit einem Lächeln.

In seinem Lieblingssessel verfolgt Carsten Lund das Geschehen in Nordschleswig und der Welt. Foto: Karin Riggelsen

Die nationalsozialistische Vergangenheit der Familie Lund

Carsten Lunds Vater, Andreas Lund (1901-1984), war Zeitfreiwilliger und ab 1934 Mitglied der Partei NSDAP-N (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nordschleswig). Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Andreas Lund gemeinsam mit vielen weiteren Angehörigen der deutschen Minderheit für dreieinhalb Jahre im Faarhus-Lager interniert. 

Ich habe später mit meinem Vater darüber sprechen wollen und ihn gefragt: Wie konntet ihr auf einen solchen Verbrecher reinfallen? 

Carsten Lund

Da die Eltern Nationalsozialisten waren, hatte Carsten Lund während des Zweiten Weltkriegs keine andere Möglichkeit, als auch selbst Teil der Hitlerjugend zu sein.  

„Anfangs war das noch die Deutsche Jungenschaft Nordschleswig, in der auch ich war. Damals waren wir davon begeistert. Als kleines Kind folgt man seinen Eltern und macht, was sie einem sagen. Denn das, was die eigenen Eltern tun, wird wohl richtig sein. Was weißt du denn als 13-Jähriger auch schon von der politischen Situation?“, sagt Carsten Lund, der als Erwachsener als Zimmerer und später als Hausmeister der Deutschen Zentralbücherei Nordschleswig in Apenrade arbeitete.

Pfingstlager der Deutschen Jungenschaft Nordschleswig im Jahr 1941 im Kreis Tondern Foto: Deutsches Museum für Nordchleswig

1982 übernahm der gebürtige Tonderaner zudem bei der Gewerkschaft „Dansk Kommunalarbejderforbund” den Posten des Vorsitzenden im Bezirk Apenrade. In der Gewerkschaft war er seit 1970 aktiv, und hier wirkte er, bis er im Jahr 1991 in den Vorruhestand ging. 

Schamgefühl und keine Antworten

In den Nachkriegsjahren hat Carsten Lund seine Eltern mehrfach auf die grausamen Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs angesprochen, aber keine Antworten erhalten, wie er im Interview mit dem „Nordschleswiger“ verrät. 

„Viele haben im Nachhinein gesagt, dass sie nichts von den Konzentrationslagern gewusst haben, da sie hinter das Licht geführt worden sind. Aber ich weiß es nicht. Ich habe später mit meinem Vater darüber sprechen wollen und ihn gefragt: Wie konntet ihr auf einen solchen Verbrecher reinfallen? Hast du von diesen Verbrechen gewusst? Aber er wollte nicht darüber reden – sicherlich aufgrund seines Schamgefühls“, erzählt der heute 93-Jährige. 

„Ich habe Angst, dass sich die Geschichte wiederholt“

Dass sich der ehemalige Hausmeister der Deutschen Bücherei Apenrade in seinem hohen Alter noch einmal so große Sorgen bezüglich rechtsextremer Positionen in der Gesellschaft machen würde, wie momentan, hatte er nicht für möglich gehalten. 

„Ich habe Angst vor dem Rechtsruck, der wahrzunehmen ist, und davor, dass sich die Geschichte wiederholt. Der Mensch ist nur ein Mensch, und er vergisst schnell. So viele Jahre sind seit 1933 nicht vergangen“, warnt Carsten Lund. 

Aufstieg des Rechtspopulismus und der AfD

Zahlreiche Studien der vergangenen Jahre belegen, dass antidemokratische und menschenfeindliche Einstellungen in Deutschland und Dänemark immer häufiger in der Gesellschaft auftauchen. Zudem haben auch rechtspopulistische Parteien in den vergangenen Jahren sowohl in Dänemark als auch in Deutschland an Einfluss gewonnen. So ist laut Umfragen beispielsweise die Alternative für Deutschland (AfD) besonders in manchen Regionen Ostdeutschlands von einer eurokritischen Kleinpartei zur stärksten politischen Kraft geworden. 

Dass die Menschen so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Augen verschließen, das bereitet mir Kummer und Sorgen.

Carsten Lund

Der Sonntagsfrage des Meinungsforschungsinstituts „Infratest dimap“ zufolge wollten im Februar 2019 rund 11 Prozent der Befragten für die AfD stimmen. Im Januar 2024 war es hingegen mit 22 Prozent fast ein Viertel aller Deutschen.

Diese rasante Rechtsentwicklung hält Lund für besorgniserregend. Dennoch sei ein Verbot der AfD ihm zufolge keine kluge Entscheidung. Stattdessen müsse man Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit inhaltlich begegnen. Gleichzeitig begrüßt der Rentner, dass besonders in Deutschland in den vergangenen Wochen auch Millionen Menschen auf die Straße gegangen sind für mehr Toleranz und gegen die Politik der AfD. 

„Die AfD ist durch eine generelle Unzufriedenheit in der deutschen Gesellschaft so groß geworden. Wenn das Volk nicht zufrieden ist, bekommen die Rechten leider immer wieder Oberwasser aufgrund der Protestwähler. Dass die Menschen so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Augen verschließen, das bereitet mir Kummer und Sorgen“, meint der frühere Gewerkschafter. 

Antisemitismus hat zugenommen

Ebenso empört zeigt sich der 93-Jährige darüber, dass die Zahl antisemitischer Vorfälle sowohl in Deutschland als auch in Dänemark seit dem Terrorangriff der Hamas und dem daraus resultierenden Gazakrieg stark gestiegen ist. Erst kürzlich veröffentlichte die Jüdische Gemeinde in Dänemark (Det Jødiske Samfund) einen neuen Bericht, demzufolge es im Jahr 2023 die höchste Anzahl antisemitischer Vorfälle gab, seitdem diese in Dänemark erfasst werden. Die Vorfälle reichen von Bedrohungen und Vandalismus bis hin zu antisemitischen Äußerungen gegenüber jüdischen Bürgerinnen und Bürgern.

Ich wünsche mir Frieden auf Erden und das allgegenwärtige Bewusstsein, dass wir alle gleich sind.

Carsten Lund

„Ich begreife nicht, weshalb es wieder vermehrt Judenhass gibt. Das habe ich mir nie im Leben vorgestellt, dass das noch einmal geschehen würde. Das sind Menschen wie du und ich. Jeder Mensch ist eine Schöpfung Gottes“, so Carsten Lund, der sich selbst aber nicht als christlichen Menschen bezeichnet. Grund dafür seien die schrecklichen Geschehnisse zur Zeit des Nationalsozialismus. 

Die Natur als Gott

„Gott der Allmächtige? Wenn er die Macht hat, warum wurden dann Menschen im KZ vergast? Das passt für mich nicht zusammen“, meint Carsten Lund, für den es aber dennoch etwas Göttliches auf der Erde gibt.

„Ich habe einen Gott, und ich habe einen Gott, der die Macht hat. Mein Gott ist die Natur. Wenn man der Natur ein Bein stellt, dann rächt sie sich – und das tut sie momentan. Wie ein altes indianisches Sprichwort sagt: Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann …“

Lunds Zukunftstraum

Die abschließende Interview-Frage, welche Wünsche er für die Zukunft habe, beantwortet der 93-Jährige ohne zu zögern: „Ich wünsche mir Frieden auf Erden und das allgegenwärtige Bewusstsein, dass wir alle gleich sind. Der Mensch ist ein Mensch“, so Carsten Lund.

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