Deutsche Minderheit

1945: Geheimdienst überwachte Neustart deutscher Minderheit

1945: Geheimdienst überwachte Neustart der Minderheit

1945: Geheimdienst überwachte Neustart der Minderheit

Apenrade/Aabenraa
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Die Historiker Thomas Wegener Friis, Hans Schultz Hansen, Jon Thulstrup, Mogens Rostgaard Nissen und Henrik Skov Kristensen (v. l.) hatten 2021 in der Bildungsstätte Knivsberg auch über den Neustart der deutschen Minderheit 1945 berichtet. Foto: Karin Riggelsen

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Die Historiker Prof. Thomas Wegener Friis und Jon Thulstrup berichten in einer Festschrift für Flemming Just über Argwohn gegenüber dem 1945 nach der Befreiung von der Nazi-Besatzung Dänemarks gegründeten Bund Deutscher Nordschleswiger und dem „Nordschleswiger“. Ab 1950 setzte Entspannung mit Besserung der zwischenstaatlichen Beziehungen ein.

Im vergangenen Jahr ist eine Festschrift zu Ehren des langjährigen Direktors des Museums Sydvestjylland und Professors an der Süddänischen Universität (SDU), Flemming Just, mit dem Titel „Skabertrang“ (Schaffensdrang) erschienen. 

Beitrag über langen geheimen Bericht

Einer der vielen Beiträge zu Ehren des Wissenschaftlers Just, der 2022 sein 65. Lebensjahr vollendet hat, stammt von dessen Kollegen an der SDU, Prof. Thomas Wegener Friis, und dem dortigen Doktoranden, Jon Thulstrup. Der dänische Titel des Beitrags „Vedrørende oprettelsen af Nazipartiet i Nordslesvig“ (Bezüglich Errichtung einer Nazi-Partei in Nordschleswig) ist der Überschrift eines seinerzeit als vertraulich gekennzeichneten nachrichtendienstlichen Berichtes des Polizeichefs in Apenrade (Politimesteren), Ernst Brix, entnommen, der für den Nachrichtendienst des dänischen Generalstabs Anfang 1946 verfasst worden ist.

Prof. Thomas Wegener Friis lehrt und forscht an der Süddänischen Universität (SDU). Foto: Karin Riggelsen

„Der Titel des Berichtes verwundert, denn um welche Nazi-Partei könnte es sich gehandelt haben, auf die dänische Behörden so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Aufmerksamkeit gerichtet hatten?“, fragen sich Wegener Friis und Thulstrup in der Einleitung ihres 15 Seiten umfassenden Beitrags. Aus heutiger Sicht überrascht die Antwort auf die Frage, denn Gegenstand des Berichtes war der im August 1945 neu gegründete Bund Deutscher Nordschleswiger (BDN), der als Dachorganisation der deutschen Nordschleswiger auf Initiative von zahlreichen Gegnern der NS-Herrschaft mit einer Loyalitätserklärung gegenüber dem dänischen Herbergsstaat auf einen demokratischen Neuanfang der Minderheit setzte.

Schon seit Grenzziehung 1920 Minderheit Gegenstand einer Überwachung

Dass der Bund als Nazi-Partei eingestuft wurde, klingt sehr merkwürdig. Wegener Friis und Thulstrup erläutern die Situation der deutschen Minderheit, die nach 1933 ganz auf das NS-Regime gesetzt hatte, von dem man sich eine Revision der Grenzziehung im Jahre 1920 nach den Volksabstimmungen in Schleswig im Februar und März erhoffte. Diese Grenzziehung im Rahmen des Friedensschlusses von Versailles nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Minderheit nach 1920 nicht akzeptiert. Allerdings rührte auch das NS-Regime nach der Besetzung Dänemarks im April 1940 nicht die deutsch-dänische Grenze an.

Jon Thulstrup (l.) forscht im Rahmen seiner Dissertation zum Thema NS-Vergangenheit der deutschen Minderheit. Foto: Karin Riggelsen

 

Die umfassende Kollaboration der Minderheit mit der deutschen Besatzungsmacht einschließlich Dienst von 5.900 Angehörigen der deutschen Minderheit führte nach der Befreiung am 5. Mai 1945 zur Internierung von 3.500 Minderheitendeutschen aus Nordschleswig, 750 Minderheitenangehörige waren vor allem als Freiwillige der Waffen-SS gefallen.

Argwohn gegenüber Ernst Siegfried Hansen

Die beiden Historiker berichten, dass die dänische Öffentlichkeit und offenbar auch die „Überwacher“ der Minderheit, dem neu gegründeten BDN und dessen führenden Persönlichkeiten nicht abnahmen, dass sie nach dem Untergang des Hitler-Regimes und der Entmachtung der NS-Anhängerschaft geläutert waren. So ist im Bericht des militärischen Geheimdienstes, der seit 1950 als „Forsvarets Efterretningstjeneste“ (FE) firmiert, im Jahr 1946 von der „so genannten Loyalitätserklärung“ die Rede. In der Festschrift wird die Haderslebener Erklärung von NS-kritischen Persönlichkeiten in der Minderheit um den Fabrikanten Mathias Hansen im Jahre 1943, die Grundlage des Neuanfangs mit dem BDN wurde, vorgestellt.

1946 bildeten Anneliese Bolten, Ernst Siegfried Hansen, Jes Schmidt und Inge Schlajkier das Redaktionsteam des „Nordschleswigers". Foto: Der Nordschleswiger

Daneben widmet sich der Beitrag dem Wirken des Journalisten Ernst Siegfried Hansen, der im Februar 1946 mit Unterstützung des NS-skeptischen Mathias Hansen den „Nordschleswiger“ als Zeitung der geläuterten Minderheit mitbegründet hatte.

Tätigkeit für „braune ,Nordschleswigsche Zeitung’“

Wegener Friis und Thulstrup weisen darauf hin, dass Ernst Siegfried Hansen, der 1944 in die Redaktion der vor dem 5. Mai 1945 NS-gelenkten Zeitung „Nordschleswigsche Zeitung“ der Minderheit eingetreten war, noch Ende April den „Heldentod“ Hitlers gerühmt hat, wie im Geheimdienstbericht notiert wurde. Ab der Befreiung Dänemarks am 5. Mai erschien die „Nordschleswigsche Zeitung“ (NZ), vom 17. Mai 1945 bis 10. Juli unter Mitwirkung einer dänischen Zensur, weiter bis zur illegalen Sprengung des Zeitungsbetriebs am 17. August des Jahres – vermutlich durch Angehörige der dänischen Widerstandsbewegung.

Hansen schrieb nach kurzer Internierung bis zu deren Ende für die NZ, in der im Zeitraum bis zur Sprengung auch viele sachliche Artikel zum Geschehen rund um die deutsche Minderheit, die dänischen Gesellschaft und das Weltgeschehen abgedruckt wurden. Es wurde sogar gemeldet, wer wann festgenommen und ins Faarhuslager überstellt worden war.

Der 1917 in Bredebro geborene Ernst Siegfried Hansen verließ 1953 Nordschleswig und arbeitete anschließend als Korrespondent des „Nordschleswigers“ in Kopenhagen, ab 1957 für die Deutsche Presseagentur (dpa) aus der dänischen Hauptstadt. Er ist 1980 verstorben. Er wurde in Dänemark mit dem Dannebrogorden ausgezeichnet. 

Ernst Siegfried Hansen (1917-1980) Foto: Der Nordschleswiger

Die Autoren der Festschrift erwähnen zur Situation der deutschen Minderheit, dass die Minderheit nach den Maitagen 1945 sogar mit einer Ausweisung der deutschen Volksgruppe aus Dänemark gerechnet habe. Entsprechende Forderungen waren bei Demonstrationen in Nordschleswig erhoben worden, aber hatten in der dänischen Politik keine Umsetzung gefunden.

Zeitungsartikel in „geheimen“ Berichten

Aus dem Text von Wegener Friis und Thulstrup ist ersichtlich, dass der Geheimdienst offenbar bei allen Veranstaltungen des neuen BDN die Ohren spitzte. Auch Artikel aus dem „Nordschleswiger“ wurden fleißig ausgewertet. Allerdings waren dem Chefredakteur der neuen Zeitung „Nordschleswiger“ dessen – aus Sicht der Minderheit – selbstkritischen Artikel von den Geheimdienstlern nicht als Abkehr von den Nazis abgenommen worden.

Der erste „Nordschleswiger" erschien am 2. Februar 1946 mithilfe vor allem des nazikritischen Fabrikanten Mathias Hansen aus Hadersleben. Foto: Der Nordschleswiger

 

Immerhin hatten die Artikel Ernst Siegfried Hansens während des Jahres 1946 zur Abbestellung des „Nordschleswigers“ durch zahlreiche Personen aus dem Kreis der Minderheit geführt, die während der Phase mit Internierung und juristischer Verfolgung von belasteten Personen aus diesem Kreis auf die neuen Töne in der Minderheit ablehnend reagierten.

Ab 1920 Überwachung der Minderheit 

In ihrem Beitrag gehen die Historiker darauf ein, dass bereits seit 1920 argwöhnische dänische Geheimdienste möglicherweise illoyale Nordschleswiger auf dem Kieker hatten. Es war 1923 notiert worden, dass von den Wehrpflichtigen in Nordschleswig gut jeder fünfte „deutsche Sympathien“ hegte. Nach der Machtergreifung Hitlers war 1934 eine besondere dänische Polizeiadjudantur eingerichtet worden, um die Deutschen im Auge zu behalten, die daran arbeiteten, die seit 1920 zu Dänemark gehörenden Landesteile zurück zu Deutschland zu bringen. Es hieß, es gebe viele deutsche und englische Spione im Grenzland, viele gehörten auch der deutschen Geheimen Staatspolizei (Gestapo) an. Selbst während der Besatzungszeit habe man das Treiben der deutschen Minderheit im Auge behalten.

Für Ernst Brix, der ab 1947 die Polizeiadjudantur für Nordschleswig leitete, war die geheimdienstliche Tätigkeit, die sich aus der Existenz der deutschen Minderheit erklärte, Sprungbrett für eine weitere erfolgreiche Karriere. Er wurde 1950 Chef des nationalen Polizeilichen Nachrichtendienstes PET. 

Aufzeichnungen des Geheimdienstes auch Spiegelbild der deutsch-dänischen Entspannung 

Die Autoren bezeichnen die Überwachung der Minderheit auch als eine Art Erfolgsgeschichte, denn die Aufzeichnungen dokumentierten nicht nur den Argwohn der dänischen Sicherheitsbehörden gegenüber den deutschen Nordschleswigern. Sie spiegeln auch die schrittweise Entspannung im deutsch-dänischen Grenzland wider. Diese war gekennzeichnet von den Bonn-Kopenhagener Erklärungen zugunsten der Existenz der deutschen und der dänischen Minderheit nördlich und südlich der Grenze, aber auch von der deutsch-dänischen Zusammenarbeit nach dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland ins Nato-Verteidigungsbündnis.

Der „Nordschleswiger“ hatte bis zum Bau des neuen Pressehauses in der Mitte der 1960er-Jahre in diesem Gebäude an der Apenrader Schiffbrücke seinen Sitz, das vor fast 60 Jahren wie weitere historische Gebäude am Hafen der Verbreiterung der Straße zum Opfer fiel. Foto: Der Nordschleswiger

 

Im weiteren Verlauf ihres Beitrags gehen Wegener Friis und Thulstrup auf einzelne Teile der Überwachungsberichte ein. Dabei wird dargelegt, dass Ernst Siegfried Hansen nach einiger Zeit nicht mehr als „unausrottbarer Nazi“ neben den „loyalen“ Pastoren aus dem Haderslebener Kreis, Friedrich Prahl und Carl Beuck, bezeichnet wird.

Eines Doppelspiels verdächtigt

Nun wurde er als Person eingestuft, die ein Doppelspiel zwischen den geläuterten deutschen Nordschleswigern und den weiter braunen Figuren spielte, die im Anschluss an das Verbüßen von Haftstrafen nach und nach wieder auf der Bühne der deutschen Minderheit auftauchten. Im Beitrag findet sich anhand von Auszügen ein interessantes Bild des internen Tauziehens in der Minderheit über deren Kurs. Dabei wurde von den Überwachern genau registriert, welche Altnazis wie der langjährige BDN-Generalsekretär Rudolf Stehr wieder in Spitzenpostionen Platz fanden und fortschrittliche Personen wie der NS-kritische BDN-Hauptvorsitzende Niels Wernich sich aus der Minderheitenführung verabschiedeten.

Ein Großteil der Geheimdienstberichte bestand aus den im „Nordschleswiger“ veröffentlichten Artikeln Ernst Siegfried Hansens, die ja stets öffentlich zugänglich gewesen sind. Auch Beiträge der dänischen Presse, die nach 1945 lange die deutschen Nordschleswiger kritisch bis skeptisch beobachtete, wurden in die Geheimdienstpapiere aufgenommen. 

Die Festschrift mit dem Beitrag von Thomas Wegener Friis und Jon Thulstrup ist unter dem Titel „Skabertrang – Festskrift til Flemming Just“ im Verlag Forlaget Liljebjerg erschienen.   

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